Zukunft kommt nicht – Zukunft wird gemacht.

Was kommt, was geht, was bleibt? Wie lebt es sich 2030 im Smart Home und der Smart City? Welche Trends und Technologien prägen unsere Gesellschaft in den kommenden zehn Jahren? Die Antworten dafür liefert der Zukunftsforscher Kai Arne Gondlach

Von National Geographic, Daniel Lerche
Veröffentlicht am 10. Dez. 2019, 09:26 MEZ
"Zukunft kommt nicht – Zukunft wird gemacht", erklärt der Zukunftsforscher Kai Arne Gondlach.
Foto von Kai Arne Gondlach

Was ist denn die Zukunft? Wer macht sie? Wer beeinflusst maßgeblich, in welcher Zukunft wir mal leben?

Das ist genau die zentrale Frage, die wir uns als Zukunftsforscher natürlich andauernd stellen. Wir haben dafür in den letzten 85 Jahren ganz gute Methoden entwickelt. Dazu gehört unter anderem die Delphi-Methode. Anhand dieser befragen wir möglichst oft Experten. Und Experten sind für uns zum Beispiel diejenigen, die Technologien oder Geschäftsmodelle entwickeln. Und genau dieses Expertenwissen sammeln und konsolidieren wir. Wir schauen auch in Patentdatenbanken rein und evaluieren neue Ideen, die Ingenieure oder Wissenschaftler an Forschungsinstituten entwickelt haben. Ein Patent allein lässt noch keinen Trend erkennen, aber viele deuten bereits bestimmte Entwicklungen an.

Auf welche Fragestellungen legt die Zukunftsforschung denn aktuell ihre Schwerpunkte?

Häufig beschäftigen wir uns mit den Veränderungen einmal auf dem Arbeitsmarkt. Hier sehen wir ganz viele spannende Trends, die von Entscheidern aus der Wirtschaft oder Politik getrieben werden. Die Debatte rund ums bedingungslose Grundeinkommen beispielsweise stammt aus diesem Diskurs. Die zentrale Frage dabei lautet, ob tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass Maschinen, Algorithmen oder Softwareprogramme unserer Arbeit automatisieren können. Wenn dem so ist, dann brauchen wir sehr schnell sehr gute und sehr holistische Antworten darauf, wie wir damit umgehen, dass unser Arbeitsmarkt mal eben schnell innerhalb von einem Jahrzehnt oder vielleicht zwei Jahrzehnten umgekrempelt wird.

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    Können Sie noch einen weiteren Bereich nennen, in dem es große Entwicklungen gab?

    Ein anderer Bereich, in dem in den letzten Jahren die allermeisten und bahnbrechendsten Entwicklungen entstanden sind, ist der Bereich der Gesundheit. Wir sagen inzwischen in der Zukunftsforschung „80 ist das neue Hundert“: Die Lebenserwartung in den westlichen, industrialisierten Staaten steigt rapide. Wir gehen heute sogar davon aus, dass die mögliche Lebensspanne eigentlich nicht gedeckelt sein müsste. Immer mehr Krankheiten können präventiv verhindert werden. Und in wenigen Jahren können wir sogar unsere inneren Organe klonen. Haut oder Venen, werden ja schon geklont und transplantiert – größere Organe wie Herz, Leber oder Lunge werden im Laufe des nächsten Jahrzehnts ebenfalls als Klon verfügbar sein. Zudem gibt es große Fortschritte auf dem Gebiet der Altersforschung. Einer Forscherin ist es gelungen das Altern zu stoppen. Die ersten Menschen, die auf biologische Art und Weise nicht mehr sterben werden, leben vielleicht heute schon.

    Bedeutet das, wir Menschen sterben nicht mehr?

    Das ist zumindest die Hoffnung der großen Optimisten in diesem Gebiet. Dadurch, dass man nicht altert, ist man jedoch noch lange nicht immun gegen bestimmte Keime, Bakterien oder Viren. Ebenso wenig gegen Unfälle, wenn mir beispielsweise ein Klavier auf den Kopf fällt. In diesem Fall bringt mir die Altersforschung sehr wenig. Man muss hier bedenken, dass Alter keine Krankheit ist, sondern die Folge von vielen biochemischen Prozessen, die irgendwann beginnen, langsamer zu werden. So steigt auch der Anteil der Herz-Kreislauf-Krankheiten und gehört zu den Alterskrankheiten. Krebs jedoch ist nichts, was nur alte Menschen bekommen. Aber je älter ich werde, desto größer wird das Risiko, an Krebs zu erkranken.

    Wagen wir doch den Blick noch einmal voraus das kommende Jahrzehnt und stellen die drei typischen Fragen in der Zukunftsforschung: Was kommt, was geht, was bleibt?

    Ich gehe ziemlich stark davon aus, dass die Entwicklung von Hörgeräten und -systemen sich verändert – und auch deren Vertriebsweise. Es gibt schon seit ein paar Jahren das Cochlea-Implantat, welches tatsächlich implantiert wird. Neben der Akustik, können diese Implantate all das, was auch unsere Smartphones kann. Es gibt bereits die ersten Geräte auf dem Markt, die simultan Sprachen übersetzen. Das heißt, die Träger von solchen Hörgeräten sind nicht mehr Patienten, sondern Trendsetter.

    Der Zukunftsforscher Kai Arne Gondlach.
    Foto von Kai Arne Gondlach

    Das Hörgerät als Lifestyle-Accessoire also. Wie sieht s aus mit smarten Brillen? Ist das noch ein Thema?

    Auf jeden Fall: Smarte Brillen wurden zuletzt lange nicht diskutiert, weil erst einmal die Smartphones verkauft werden sollen. Im Grunde weiß man aber schon, dass die Nachfrage in ein paar Jahren deutlich zurückgehen wird, da Innovationsfähigkeit nicht mehr so stark gegeben ist. Statt der smarten Brille wird mir vielleicht auch eine eigene Linse implantiert, die dann in der Lage ist, virtuelle Informationen in mein Sichtfeld zu projizieren. Wenn wir zum Beispiel reden würden, könnte ich jetzt während des Gesprächs schauen, was vielleicht Wikipedia dazu sagt. Im Zweifelsfall gibt es sogar Werbeanzeigen, die eingeblendet werden können.

    Bleiben wir bei den smarten Technologien. Jeder spricht von Smart Home und Smart City. Lebt die breite Masse denn in zehn Jahren komplett smart? Und was bedeutet das dann eigentlich, außer dass der Kühlschrank mich eben informiert, wenn keine Milch mehr da ist?

    Das ist zwar das klassische Beispiel, aber auch hier wird die Technologie über den Gesundheitsbereich getrieben. Das nennt sich dann Ambient Assisted Living und zielt darauf ab, vor allem Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu helfen. Da gibt es sehr hochentwickelten Systeme, die mitbekommen, wenn ein Mensch stürzt und nicht mehr den Notarzt rufen kann. Ein weiteres Beispiel ist die potenzielle Früherkennung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen. Sprachassistenten können anhand der Stimme auch die Stimmung erkennen und somit, wenn Menschen immer unglücklicher werden.

    Sprachassistenten werden bis dahin sehr viele Daten gesammelt haben über diejenigen, die das zulassen. Ganz klar, dass sie auch Entscheidungen völlig autonom treffen. Da werde ich zum Beispiel meinen Assistenten als allererstes damit beauftragen, sich um meine Versicherungen zu kümmern. Er trifft Entscheidungen für mich und ändert automatisch meine Police, je nachdem, wie sich mein Bedarf ändert.

    Das klassische Beispiel dazu ist, dass ich in den Urlaub fahre und keine besonders gute Auslandkrankenversicherung habe. Wenn ich dann zum ersten Mal in meinem Leben auf einer schwarzen Skipiste stehe, wird mich mein Assistent überhaupt nicht kontaktieren, sondern einfach im Hintergrund eben schnell eine Unfallversicherung dazu buchen, so dass ich beim Unfall tatsächlich einfach nach Hause transportiert und gesundheitlich versorgt werden kann.

    Welche Prognosen für die nächsten zehn Jahre beeindrucken Sie persönlich denn am stärksten, also ganz allgemein gefasst: Was ist positiv, was ist negativ? Was macht Ihnen Sorgen? Was macht Ihnen Hoffnung?

    Im sozialen, zwischenmenschlichen Bereich finde ich immer mehr Ansätze dafür – was paradox klingen mag –, dass im Zuge der ganzen Technologisierung, der zwischenmenschliche Bereich wieder viel an Bedeutung zunehmen wird. Gemeint ist damit, dass, wenn immer mehr Jobs automatisiert werden, immer mehr Stellen frei werden für das, was Menschen wirklich gut können - nämlich kommunizieren, empathisch sein oder Verantwortung übernehmen. Aber auch, um tatsächlich glücklich zu sein und ein erfülltes Leben zu führen.

    Wie ist es mit unserer Ernährung? Gibt es auch hier erkennbare Trends?

    Die Trends in diesem Bereich zielen immer mehr darauf ab, individualisierte Nahrungsmittel bereitzustellen. Das kann dann so aussehen, dass ich Essen gehe und das Restaurant schon weiß, welchen Erbgut-Typ ich habe, welche Unverträglichkeiten, was mich besonders glücklich macht oder eben was mich besonders schnell satt macht.

    Das kann ja im Urlaub ganz praktisch sein, wenn ich in ein neues, mir fremdes Restaurant gehe. Wie verändert sich denn das Reisen? Wird es nachhaltiger?

    Das ist jetzt schon: In Japan gibt es ein Reisebüro, das seinen Kunden eine VR-Brille anbietet. Menschen, die vielleicht keine Zeit oder kein Geld haben, um wirklich in den Urlaub zu fliegen oder zu fahren, begnügen sich tatsächlich damit, eine virtuelle Reise zu machen. Das ist zwar etwas, das manche sehen, aber es gibt Menschen, die heute schon ungern das Haus verlassen. Für die ist das natürlich irgendwo auch eine schöne Sache, weil sie vielleicht ein bisschen glücklicher damit sind.

    Auf der anderen Seite glaube ich, dass Abenteuer eine andere Wertigkeit bekommen und auch immer mehr spirituelle Reisen angeboten werden. Da gab in den letzten Jahren einen Trend, wo eine bestimmte psychoaktive natürliche Substanz in der Gruppe eingenommen wird und ganz verrückte Trips beschrieben werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass Anbieter auf den Markt kommen und individualisierte Trips zusammenstellen. Da läuft der Film im Kopf ab und man hat innerhalb von zehn Minuten eine Weltreise gemacht, die gefühlt zwei Jahre dauert.

    Und von den geträumten Ländern zu den echten Ländern: Gibt es ein Land, das uns in den nächsten zehn Jahren sehr überraschend wird und stärker in den globalen Fokus rückt?

    Diverse. Ich persönlich finde allerdings afrikanische Staaten am interessantesten. Hier hat tatsächlich ein großer Aufbau, vor allem getrieben durch Investitionen aus China, stattgefunden. Alles, was wir als europäische Staaten an Entwicklungshilfe in den letzten Jahrzehnten dort gemacht haben, verpufft im Vergleich zu dem, was China dort anschiebt. Da reden wir davon, dass komplette Städte renoviert und teilweise sogar neu erstellt werden. Auch die Wirtschaftskraft einiger Staaten ist interessant. Nigeria beispielsweise wird die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik in den nächsten Jahrzehnten deutlich überholen.

    Vieles hört sich durchaus noch utopisch an. Wie hoch ist der Anteil aus der Zukunftsforschung, der auch wirklich eintritt? Lässt sich das in Prozentpunkten ausdrücken?

    Wir sagen ganz gerne „ungefähr 80 Prozent“. Das hat den Hintergrund, dass mit bestimmten Methoden einerseits und in bestimmten Gebieten andererseits die Qualität der Prognose tatsächlich sehr gut funktioniert. Besonders in wirtschaftlichen Bereichen kann man sehr, sehr gut prognostizieren, was in den nächsten zehn Jahren passiert. Das liegt daran, dass wir aufgrund von vielen tollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der letzten Jahrzehnte sehr gut verstanden haben, wie unsere Wirtschaft funktioniert und wie Mechanismen ablaufen. Hier spielen auch die Patente wieder eine zentrale Rolle. Gleichzeitig sprechen wir mit den Entscheidern und fragen sie, wann sie zum Beispiel bestimmte Produkte auf den Markt bringen wollen.

    Dann gibt es andere Bereiche, wo es echt schwierig wird, zum Beispiel Soziales und Politik? Da halte ich mich auch gerne ein bisschen bedeckt, besonders, wenn es um moralische Fragen geht: Was mache ich, wenn 2030 mein virtueller Kollege oder mein Roboterkollege intelligenter ist als ich und mich mobbt? Mir ist wichtig, dass jeder die Herkunft seiner oder ihrer Thesen kennzeichnet.

    Aber wir können uns darauf einigen, dass wir uns mit diesen Fragestellungen in den nächsten Jahren auseinandersetzen werden müssen.

    Auf jeden Fall. Und das passiert zum Teil leider oft hinter verschlossener Tür, wie beispielsweise beim Ethikrat. Den gibt es für fast alle Staaten. Aber auch auf EU-Ebene gibt es einen Ethikrat, die sprechen darüber – gut und richtig. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass Maschinen bald hoffentlich Rechte bekommen. Dieses Rechtssystem ist seit einigen Jahren auf dem Weg in der EU-Kommission und könnte möglicherweise nächstes Jahr schon zu einem Ergebnis kommen. Da reden wir davon, dass Roboter oder Algorithmen nicht einfach so entlassen werden dürfen ohne triftigen Grund.

    Abschließende Frage: Mit welcher Grundstimmung gehen Sie denn in das neue Jahr und auch das neue Jahrzehnt?

    Ich würde sagen mit einem kritischen Optimismus. Dadurch, dass ich sehr viel rumkomme und mit tausenden von Menschen sprechen darf, weiß ich, dass sich die Haltung gegenüber der Zukunft ein Stückchen wandelt. Als ich anfing, als Zukunftsforscher zu arbeiten, waren eigentlich immer alle Menschen sehr ängstlich, wenn man über Zukunft gesprochen hat. Das ist noch nicht weg. Doch heute ist es schon etwas besser:  Der Anteil der Hoffnung, dass wir bestimmte Probleme bewältigen können, hat zugenommen. Es gibt immer mehr Menschen, die auch sehr proaktiv sagen „Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand“ und nachhaltige Unternehmen gründen oder soziale Bewegungen starten.

    Dieses Interview führte Daniel Lerche.

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