Ammoniumnitrat-Explosion in Beirut: Wann wird der Stoff zur Gefahr?

Ein Blick in die Chemie und die Geschichte des Salzes gibt Hinweise darauf, wie es zu der Detonation in der libanesischen Hauptstadt gekommen sein könnte.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 10. Aug. 2020, 16:29 MESZ
Eine große Explosion erschütterte am 4. August die libanesische Hauptstadt Beirut. Die Detonation, die ganze Gebäude ...

Eine große Explosion erschütterte am 4. August die libanesische Hauptstadt Beirut. Die Detonation, die ganze Gebäude umriss und Glas zum Bersten brachte, war in der gesamten Stadt zu spüren.

Foto von Anwar AMRO, AFP via Getty Images

Wer sich die Videoaufzeichnungen aus der Innenstadt von Beirut genau ansieht, kann sehen, wie sich der Boden verformt, als eine Explosion in einem Hafenlagerhaus am 4. August die Stadt erschüttert. Handyvideos zeigen die Schockwelle und die Staubwolke, die durch die Gebäude am Hafen rasen und ein verstörendes Chaos in der libanesischen Hauptstadt hinterlassen.

Die Explosion erreichte eine Stärke von 3,3 auf der Richterskala und richtete Verwüstungen an, die man für gewöhnlich nach schweren Erdbeben sieht. Neben Zigtausend Verletzten gab es mindestens 130 Todesopfer. Der Bürgermeister von Beirut, Marwan Abboud, sagte gegenüber der Agence France-Presse, dass 300.000 Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Der Schaden erstreckt sich über die Hälfte der Stadt und die Reparatur könnte bis zu 15 Milliarden Dollar kosten.

Laut den libanesischen Behörden sind mehr als 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat für den Vorfall verantwortlich – eine Substanz, die üblicherweise in Düngemitteln sowie in Sprengstoffen für Bergbau- und Bauprojekte verwendet wird. Die Chemikalien lagerten Berichten zufolge seit 2013 an den Docks. Laut Recherchen von Al Jazeera kam das Ammoniumnitrat an Bord eines in russischem Besitz befindlichen Frachtschiffes an, nachdem das Schiff auf See technische Probleme hatte. Die Ladung wurde schließlich aufgegeben und in den Hangar gebracht. Dort blieb sie, obwohl libanesische Zollbeamte bei mindestens sechs verschiedenen Gelegenheiten um ihre Entsorgung baten, berichtet die New York Times.

Was die explosive Mischung zur Detonation brachte, bleibt unklar – aber die Explosion in Beirut ist nicht der erste katastrophale Vorfall mit Ammoniumnitrat. Seit 1916 war die Chemikalie für mindestens 30 Katastrophen verantwortlich, von denen einige Unfälle waren, während andere absichtlich herbeigeführt wurden.

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    Eine Luftaufnahme zeigt die Schäden an den Getreidesilos im Hafen von Beirut und der Umgebung am 5. August 2020. Einen Tag zuvor hatte eine gewaltige Explosion das Zentrum der libanesischen Hauptstadt erschüttert. Rettungskräfte suchten am Morgen nach Überlebenden in Beirut. Die katastrophale Explosion im Hafen hatte ganze Stadtviertel verwüstet, mehr als 100 Menschen getötet, Tausende verwundet und den Libanon noch tiefer in die Krise gestürzt.

    Foto von AFP via Getty Images

    Der Vorfall in Beirut erinnert stark an die Beschreibung einer gewaltigen Explosion in Texas City im Jahr 1947. Als die S.S. Grandcamp, die mit Ammoniumnitrat, Treibstoff und Munition beladen war, den Hafen in der Nähe von Houston erreichte, trat bereits Rauch aus ihrem Frachtraum aus. Bei der darauffolgenden Explosion kamen etwa 600 Menschen ums Leben, darunter alle auf dem Dock und dem Schiff. Es gab mehr als 5.000 Verletzte, die Explosion zerstörte 500 Häuser und der austretende Rauch lag tagelang über der Stadt.

    Im April 1995 benutzten die amerikanischen Terroristen Timothy McVeigh und Terry Nichols zwei Tonnen des Salzes bei einem Bombenanschlag auf das Bundesgebäude in Oklahoma City, bei dem 168 Menschen getötet wurden. Und erst vor fünf Jahren lösten geschätzte 800 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Lager eine Explosion aus, die einen Teil des Hafens in der chinesischen Stadt Tianjin dem Erdboden gleichmachte und 173 Menschen tötete.

    Weltweit werden jährlich enorme Mengen an Ammoniumnitrat produziert und gelagert – allein im Jahr 2017 mehr als 20 Millionen Tonnen. Doch damit das Salz eine Explosion dieser Größenordnung verursachen kann, muss nach Ansicht von Chemikern und Sprengstoffexperten eine Menge schiefgehen.

    “Jeder kohlenstoffreiche Brennstoff kann in Verbindung mit Ammoniumnitrat gefährlich werden.”

    Wann explodiert Ammoniumnitrat?

    Im Vergleich zu den meisten brennbaren Materialien ist Ammoniumnitrat für sich allein nicht besonders explosiv. Allerdings kann es Explosionen begünstigen, da es zur chemischen Klasse der Oxidationsmittel gehört.

    Damit etwas brennen kann, braucht es Sauerstoff – deshalb ersticken Feuerlöscher Flammen, um sie zu löschen. Oxidationsmittel bewirken das Gegenteil: Sie erhöhen die Menge der verfügbaren Sauerstoffmoleküle und tragen so dazu bei, andere Stoffe leichter entflammbar zu machen.

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    Am 6. August 1945 verändert eine Atombombe schlagartig das Leben in Hiroshima in Japan. Mehr als 80 Prozent der Innenstadt werden zerstört, Zehntausende Menschen sterben. Eindrücke aus einer Stadt vor ihrer Zerstörung und nach ihrem Wiederaufbau.

    „Es ist relativ schwierig, reines Ammoniumnitrat zu entzünden, sofern man nicht noch etwas anderes beimengt und alles in einem riesigen Feuer kocht“, sagt Davin Piercey, ein Chemiker an der Purdue University. Ammoniumnitrat würde nur dann von selbst explodieren, wenn seine Temperatur binnen kurzer Zeit auf 204 °C erhöht würde. Jeder kohlenstoffreiche Brennstoff – Papier, Pappe und sogar Zucker – kann in Verbindung mit Ammoniumnitrat gefährlich werden. Wenn das Ammoniumnitrat in Beirut in Holz- oder Pappbehältern gelagert worden wäre, hätte das die Substanz extrem entzündbar gemacht, sagt Jimmie Oxley, ein Chemiker an der Universität von Rhode Island.

    Wenn große Mengen Ammoniumnitrat am selben Ort lagern, kann beim Brand einer solchen Mischung mehr Wärme länger zurückgehalten werden. Aber wenn das Feuer genug Oxidationsmittel zur Verfügung hat, kommt es zu einer Explosion. Obwohl Ammoniumnitrat schon 1659 erstmals von dem deutschen Chemiker Johann Rudolf Glauber synthetisiert wurde, wurde es erst im Ersten Weltkrieg in Sprengstoffen verwendet. Waffenhersteller mischten es mit TNT (Dynamit), um billigere Bomben herzustellen.

    Säcke mit Ammoniumnitratdünger werden am 7. Oktober 2016 in einem Agrarhandel im französischen Vieillevigne zum Verkauf angeboten.

    Foto von Stephane Mahe, Reuters

    „Da wird eine riesige Menge Energie sehr schnell freigesetzt“, erklärt Stephen Beaudoin, ein Chemieingenieur an der Purdue University. „Sie oxidiert den Brennstoff sehr schnell. Dabei entsteht eine riesige Menge an Gas und eine gewaltige Menge an Wärme wird freigesetzt. Dieser extreme Phasenübergang erzeugt eine Schockwelle.“

    Bei der Explosion in Beirut breitete sich die Druckwelle schneller als der Schall aus. Handyvideos zeigen, wie sie einige Sekunden vor dem Knall über die Stadt fegt.

    Die Situation in Beirut

    In den 1940ern wurden mathematische Möglichkeiten entwickelt, um die Sprengkraft von Atombomben zu berechnen. Damit können Experten heute Videos von Schockwellen analysieren, um grobe Schätzungen der Gesamtenergie einer Explosion und der Menge des detonierten Materials zu erhalten. Vergleicht man die Größe der Explosion in Relation zu umliegenden Gebäuden, so zeigt ein Video des Vorfalls in Beirut, dass sich die kugelförmige Schockwelle in der Achtelsekunde nach der Explosion schon etwa 240 Meter weit ausgedehnt hatte.

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    Anhand dieser Methode schätzten Beobachter, dass die Explosion ungefähr der Sprengkraft von 400 bis 3.000 Tonnen TNT entsprach. Jeffrey Lewis, ein Experte für Rüstungskontrolle am Middlebury Institute of International Studies, tendiert eher zu einer Schätzung von 400 Tonnen. Im Gegensatz dazu hatte die Atombombe, die 1945 die japanische Stadt Hiroshima traf, eine Sprengkraft von mindestens 13.000 Tonnen TNT.

    Explosionsberechnungen deuten darauf hin, dass eine Detonation wie die in Beirut auf Meereshöhe etwa 1.000 Tonnen Ammoniumnitrat erfordern würde. Da diese provisorischen Berechnungen eine recht hohe Fehlertoleranz haben, passt die Schätzung grob zu den 2.750 Tonnen, die laut libanesischen Beamten im Hafen gelagert wurden. Die Diskrepanz könnte aber auch bedeuten, dass es sich bei dem Material im Lagerhaus nicht um reines Ammoniumnitrat handelte und noch eine andere Verbindung an der Explosion beteiligt war.

    “Selbst eine kleine Verunreinigung hätte die Wahrscheinlichkeit einer Detonation erhöht”

    Im Internet wurden bereits Spekulationen laut, dass sich das Ammoniumnitrat durch die jahrelange Lagerung mit der Zeit zersetzt hätte und flüchtiger – und immer gefährlicher – geworden wäre. Doch David Chavez, ein Sprengstoffwissenschaftler am Los Alamos National Laboratory in New Mexico, hat Zweifel an diesem Szenario. „Ammoniumnitrat zersetzt sich unter normalen Lagerbedingungen mit der Zeit nicht“, sagt er.

    Eine wahrscheinlichere Erklärung ist, dass in dem Lagerhaus nicht nur Ammoniumnitrat lagerte. Angesichts der gemeldeten Menge nimmt Oxley an, dass ein Fahrzeug benutzt worden sein muss, um die Schiffsladung in das Lagerhaus zu transportieren. Dadurch könnte das Ammoniumnitrat mit Öl oder Benzin kontaminiert worden sein. Selbst eine kleine Verunreinigung hätte die Wahrscheinlichkeit einer Detonation erhöht.

    Die libanesischen Behörden nannten zwar Ammoniumnitrat als Ursache der Explosion. Aber laut Lewis werden kommerzielle Sprengstoffe in vielen Fällen ebenfalls oft als Ammoniumnitrat bezeichnet, obwohl sie Zusätze enthalten.

    „Wenn die Bilder stimmen, war das etwas, das als Oxidationsmittel gedacht war und zusammen mit anderen Mitteln verwendet werden sollte“ – zum Beispiel Sprengstoffe, die im Bergbau eingesetzt werden.

    Langfristige Folgen für die Gesundheit

    Es wird schwierig sein, genau zu rekonstruieren, was in Beirut schiefgelaufen ist. Aber laut Chavez sollten die Beamten nach Hinweisen auf eine unsachgemäße Lagerung, Kontamination, fehlende Belüftung und potenzielle Zündquelle suchen.

    Solche Untersuchungen können zeitaufwändig sein. Der Libanon hatte bereits vorher mit politischen und finanziellen Problemen zu kämpfen, die zum Teil auf die syrische Migrationskrise und die Coronavirus-Pandemie zurückzuführen waren.

    Es sind auch längerfristige Auswirkungen zu berücksichtigen. Die Explosion füllte die Luft in Beirut mit Feinstaub. Bekanntermaßen kann eine hohe Feinstaubbelastung schwere Krankheitsverläufe von Atemwegserkrankungen begünstigen – darunter auch COVID-19. Darüber hinaus können bei der Zersetzung von Ammoniumnitrat als Nebenprodukte Stickoxide entstehen, die ebenfalls Atemwegserkrankungen verursachen. Angesichts der Massen von zerstörten Gebäuden und Straßen können weitere Gesundheitsprobleme auftreten wie damals nach dem Terroranschlag vom 11. September.

    „Wahrscheinlich haben sich auch alle möglichen anderen Materialien entzündet und sind verbrannt“, sagt Beaudoin. „Kunststoffe zum Beispiel, Farbe und andere organische Materialien, die ganz oder teilweise verbrannten – und alle Baustoffe, die zu Staub wurden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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