Wie Gene bestimmen, wer wir sind

Was unsere Gene betrifft, gilt: Wir müssen mit dem leben, was uns gegeben wurde. Doch eines Tages werden wir vielleicht dazu in der Lage sein, unsere genetische Zukunft zu beeinflussen – und dann wird sich alles verändern.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 20. Juli 2021, 14:21 MESZ
Ein Forscher im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin wendet im Mai 2018 die CRISPR/Cas9-Methode an.

Ein Forscher im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin wendet im Mai 2018 die CRISPR/Cas9-Methode an.

Foto von Gregor Fischer, picture alliance/Getty Images

Warum sind die Menschen heute größer als ihre Vorfahren? Werden die Kinder einer Person mit blauen Augen oder roten Haare auch diese Merkmale haben? Existiert so etwas wie ein Intelligenz-Gen? Oder eines, das Menschen zu Massenmördern macht? Oder prägt das familiäre Umfeld solche Neigungen? Dies sind nur einige der Fragen, denen Carl Zimmer in seinem Buch „She Has Her Mother’s Laugh“ auf den Grund geht.

National Geographic traf Zimmer an der Yale University und sprach mit ihm unter anderem darüber, warum man die Haar- und Hautfarbe der Kinder von Prinz Harry und Meghan Markle unmöglich hätte voraussagen können. Außerdem ging es in dem Gespräch um das Buch eines amerikanischen Genetikers, das dem Nationalsozialismus die Idee für die furchtbaren Massenvernichtungsprogramm lieferte. Und Zimmer erklärte, warum es für die Gesundheit gut sein könnte, die DNA eines Neandertalers in sich zu tragen.

„Sie hat das Lachen ihrer Mutter“ – so der Titel ihres Buchs. Manch einer wird sagen, dass die Art, wie man lacht oder spricht, familiär geprägt ist. Was macht uns also zu dem, was wir sind? Unser Umfeld oder unsere Gene?

Bisher hat noch niemand eine ernsthafte Studie zur genetischen Vererbung des Lachens gemacht. Aber wie menschliches Verhalten im Allgemeinen im Zusammenhang mit der Genetik steht – dazu wurde geforscht. Dabei konnte gezeigt werden, dass verschiedene Verhaltensmuster und Persönlichkeitsaspekte durchaus „vererbbar“ sind. Das heißt: Wenn man sich die Unterschiede in den Charaktereigenschaften einer großen Gruppe ansieht, sind manche dieser Unterschiede durchaus auf die Gene zurückzuführen, die die Testpersonen geerbt haben. Eineiige Zwillinge neigen zum Beispiel dazu, einander charakterlich ähnlicher zu sein, als ihren anderen Geschwistern.

Das Buchcover.

Foto von Penguin Random House, Jacket Design By Pete Garceau, Jacket Art Of Genome By Sandra Culliton

Es würde mich allerdings sehr überraschen, wenn das Lachen sich als eine Eigenschaft mit hohem vererblichem Anteil herausstellen würde. Möglicherweise spielen Gene eine kleine Rolle, wenn das eigene Lachen dem der Eltern ähnlich ist. Aber man wächst ja auch mit ihnen auf und hört sie lachen – und wir Menschen sind eine Spezies, die sehr zum Nachahmen neigt. Deswegen ist es unmöglich, zu sagen, wie groß der Einfluss der DNA auf unser Lachen ist. Viele wünschen sich aber genau diese klaren Antworten. Deswegen sind DNA-Kits für zu Hause so unglaublich beliebt: Wir sehnen uns nach präzisen Werten, auf deren Basis uns dann jemand erklärt, warum wir sind wie wir sind.

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    Natürlich sind unsere Gene unsagbar wichtig, aber unsere Eltern geben uns noch viel mehr mit. Der volle Umfang, in dem das Erbgut unser Leben bestimmt, geht, meines Erachtens nach, über die Genetik hinaus. Wir Menschen sind zum Beispiel kultivierte Tiere – und Kultur ist eine ganz eigene Form der Heredität. Es zeigt sich zum Beispiel schon jetzt, dass Kinder mit einem Smartphone viel selbstverständlicher umgehen, als ihre Eltern oder Großeltern. Und sie werden die Geräte weiterentwickeln und diese dann an zukünftige Generationen weitergeben.

    Prinz Harry hat deutsch-griechische Ahnen, Meghan Markles Vorfahren waren afrikanische Sklaven. Als die beiden heirateten, wurde das viel diskutiert und man fragte sich, wie ihre Kinder wohl aussehen würden. Hätte die Wissenschaft das damals beantworten können?

    Wir neigen dazu, uns auf die Unterschiede zwischen Menschen zu fixieren, daher die große Faszination in Bezug auf diese Verbindung. Würde man aber die vollständige cDNA der beiden vergleichen, würde man so gut wie keine Unterschiede feststellen können. Und genauso wäre es, wenn man diesen Vergleich mit allen anderen Menschen durchführt: Unsere Spezies ist genetisch äußerst einheitlich.

    Das Aussehen eines Menschen wird von vielen verschiedenen Genen bestimmt. Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe – jeder Aspekt wird durch andere Genkombinationen beeinflusst. Davon trägt jeder Mensch zwei Kopien in sich. Und manchmal sind zwei Kopien derselben Version nötig damit, zum Beispiel, rote Haare wachsen.

    2017 fand man heraus, dass Neandertaler und Menschen zur Zeit ihrer Koexistenz gemeinsame Nachkommen gezeugt haben. Die Neandertal-Gene sollen bestimmte Krankheiten abwehren können. Wie genau?

    Neandertaler existierten vermutlich vor mehreren tausend Jahren in Europa und Asien. Der jüngste fossile Fund war etwa 40.000 Jahre alt. Unsere eigene Spezies hat sich in Afrika entwickelt. Die ältesten fossilen Belege für die Existenz von Homo sapiens sind um die 300.000 Jahre alt. Im Laufe der Zeit haben wir uns geographisch bis in die Bereiche der Neandertaler ausgebreitet und uns sicherlich auch mit ihnen vermehrt. In manchen Fällen mischte sich also die DNA des modernen Menschen in die des Neandertalers, und dessen DNA fand sich umgekehrt in unserem Genpool.

    Der prozentuale Anteil an Neandertal-DNA in der Bevölkerung bewegt sich allerhöchstens im niedrigen einstelligen Bereich. Aber es gibt viele Menschen mit dieser DNA, also gibt es heute logischerweise auch viel Neandertal-DNA auf der Welt. Aus den Fragmenten, die wir heute in uns tragen, könnte man durchaus das Genom des Neandertalers nachbauen.

    Zunächst war es für Homo sapiens vermutlich eher schädlich, die Neandertal-Gene in sich zu tragen, weil die verschiedenen Gene erst lernen mussten, miteinander zu arbeiten. Das löste wahrscheinlich Krankheiten oder Unfruchtbarkeit aus. Es scheint aber so, als hätten manche Neandertal-Gene die Zeit überdauert und sich sogar durchgesetzt und verbreitet, weil sie letztlich gut für uns waren. Es könnte zum Beispiel sein, dass sie von Vorteil für unser Immunsystem waren. Möglicherweise hatten die Neandertaler eine Resistenz gegen gewisse Krankheitserreger, und gaben diese Resistenz an Nachkommen weiter, die sie mit dem modernen Menschen zeugten. Diese hatten dadurch dann natürlich bessere Überlebenschancen.

    In der Zukunft könnten wir einen Gesundheitscheck machen, nach dem der Arzt uns mitteilt, dass er die Neandertal-Variante eines Gens bei uns festgestellt hat. Und dass er uns deswegen dazu rät, verstärkt auf unseren Cholesterinspiegel zu achten. Wissenschaftler versuchen noch immer herauszufinden, welche Auswirkungen die verschiedenen Gen-Varianten auf unsere Gesundheit haben. Die meisten Fragen sind aber noch unbeantwortet.

    Nur wenige wissen, dass die Rassenlehre des Nationalsozialismus ihre Wurzeln in den USA hat. Können Sie uns in diesem Zusammenhang etwas über die Vineland Training School und den Fall der Deborah Kallikak erzählen?

    Es gab im Süden New Jerseys eine Schule namens Vineland Training School, die in den späten 1800ern erbaut worden war. Ihr ursprünglicher Name war New Jersey Home for the Education and Care of Feebleminded Children. 1906 nahm der Psychologe Henry Goddard seine Arbeit in der Institution auf. Sein Ziel war es, eine wissenschaftliche Methode zu finden, mit der er den Intellekt der Schüler messen konnte. Außerdem entwickelte er zu der Zeit ein großes Interesse an der Genetik. Gregor Mendels Forschungen erlebten gerade eine Renaissance – viele Genetiker, insbesondere die amerikanischen, glaubten, hier Erklärungen finden zu können: Dafür, warum manche Menschen intelligent waren, und andere nicht. Warum manche Menschen kriminell wurden, und andere nicht.

    Daraus entwickelte sich in den USA die Überzeugung, dass man verhindern müsse, dass Menschen mit solchen Genen sich fortpflanzten. Henry Goddard benutze die Kinder der Vineland Training School als „Beweise“ für diese Theorie. Er betrieb Ahnenforschung und behauptete, er hätte festgestellt, dass die schlechten Gene von Generation zu Generation weitergegeben worden wären. Damit sei Eugenik offensichtlich der richtige Weg.

    Er veröffentlichte ein Buch mit dem Namen „The Kallikak Family“. Darin beschrieb er eine seiner Schülerinnen, die eigentlich Emma Wolverton hieß, aber er nannte sie Deborah Kallikak. Das Buch sollte zeigen, wie die Neigung zu kriminellem Verhalten und „Schwachsinnigkeit“ innerhalb einer Familie weitergegeben wird. Fazit war, dass es den USA in hohem Maße schaden würde, bekämen solche Menschen Kinder. Goddard war dafür, Frauen zu sterilisieren, die nach dieser Idee zur Fortpflanzung ungeeignet waren. Als die Nazis an die Macht kamen, nahmen sie die amerikanische Eugenik für sich ein. Die Kallikak Familie wurde zum warnenden Beispiel dafür, was passierte, wenn man zuließ, dass diese Menschen sich vermehrten. Sterilisation war ihnen aber bekanntlich nicht genug. Sie vernichteten Menschen und begründeten ihr Tun mit dieser Idee.

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    Goddards These stellte sich übrigens als komplett falsch heraus. Er hatte behauptet, dass ein entfernter Verwandter von Deborah Kallikak, der Soldat im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gewesen war, ein Techtelmechtel mit einem Mädchen mit geistiger Behinderung gehabt hätte. Daraus wäre ein Sohn entstanden, der die Linie von Nachkommen mit dieser Behinderung weiterführte – die angeblich bis zu Deborah nachverfolgt werden konnte. Derselbe Soldat soll später eine anständige Frau geheiratet haben. Die Kinder, die aus dieser Verbindung entstanden, seien ausnahmslos über Generationen produktive Mitglieder der Gesellschaft gewesen. Jahrzehnte später begannen ein paar Forscher, sich die offiziellen Akten anzusehen, und die wahre Geschichte der Familie Kallikak zu ermitteln. Sie fanden keinen einzigen Beleg für das, was Goddard behauptet hatte. Seine Ahnenforschung war ein einziger großer Betrug.

    Stimmt es, dass es noch keine Antwort auf die Frage gibt, wie Körpergröße vererbt wird?

    Um die Körpergröße eines Menschen herauszufinden, braucht man ein Maßband – und das war’s. Es ist so simpel, dass man denken könnte, die wissenschaftliche Antwort auf die Frage, welche Faktoren die Körpergröße bestimmen, wäre es auch. Doch tatsächlich befinden wir uns hier auf einem Feld, das den Experten seit über 150 Jahren Rätsel aufgibt – und sie sind noch immer weit davon entfernt, sie zu lösen. Wir wissen, dass Körpergröße äußerst stark vererblich ist, dass also der größte Teil der Größenunterschiede innerhalb einer Gruppe Menschen durch die Gene erklärt werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass es ein bestimmtes Gen gibt, das bestimmt, wie groß man wird. Bisher konnten Wissenschaftler mehr als 3.000 Gene in der menschlichen DNA identifizieren, die einen Einfluss auf die Körpergröße haben – diese Zahl wird vermutlich noch auf 10.000 oder mehr ansteigen.

    Teilweise liegt das daran, dass an der Menge der unterschiedlichen Faktoren, die in Hinblick auf die Körpergröße eine Rolle spielen – zum Beispiel der Stoff- und Energiewechsel unserer Zellen. Man taucht also in diese vermeintlich simple Materie ein, und denkt ziemlich schnell: „Oh Mann!“. Die Komplexität dieser Erbgut-Aspekte ist faszinierend. Wenn ein Kind besonders großgewachsen ist, kann das an den Genen liegen, die es von den Eltern geerbt hat – möglicherweise spielt aber auch der Ort, an dem es geboren wurde und aufgewachsen ist eine Rolle. Ich meine… alle Menschen überall auf der Welt sind über Generationen größer geworden!

    In den vergangenen Jahren hat die epigenetische Vererbung Schlagzeilen gemacht. Könne Sie erklären, worum es sich dabei handelt und wie sie mit dem Versuch zusammenhängt, Kriminalität in den USA zu erklären?

    Welchen Einfluss unsere Gene auf uns haben, hängt nicht nur von der DNA-Sequenz ab, sondern auch von den Molekülen, die die Gene umgeben und an- und abschalten. Das Fachgebiet, das sich mit diesem Vorgang beschäftigt, heißt Epigenetik. Es gibt einige faszinierende Hinweise darauf, dass epigenetische Informationen, abhängig von der Spezies und ähnlich wie die Gene von Generation zu Generation weitervererbt werden. Ein Beispiel: Durchlebt eine Pflanze eine Dürreperiode, ist es möglich, dass sich ihre Epigenetik so verändert, dass sie widerstandsfähiger gegen Trockenheit wird – und diese Eigenschaft gibt sie dann an ihre Nachkommen weiter.

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    Leider wurde dieses Konzept viel zu schnell und stark vereinfacht von der Popkultur aufgegriffen. Es wird behauptet, man könne sein Schicksal verändern, indem man in seine Epigenetik eingreift. Es gibt sogar Angebote für epigenetisches Yoga. Und manche Leute sind davon überzeugt, dass traumatische Erfahrungen die Epigenetik eines Menschen verändern und so an dessen Kinder weitergegeben werden. Auf diese Weise soll Kriminalität und dergleichen erklärt werden können. Das ist allerdings sehr gefährlich, weil dabei gefällige biologische Erklärungen für die Lösung komplizierte gesellschaftliche Probleme herangezogen werden.

    2015 erklärte ein Genetiker: “Wir sind kurz davor, das menschliche Erbgut verändern zu können.“ Was ist CRISPR und welche ethischen Schwierigkeiten entstehen, wenn wir uns in den komplexesten Mechanismus der Natur einmischen?

    Bei CRISPR handelt es sich um ein wissenschaftliches Werkzeug für die Bearbeitung von DNA, das vor ein paar Jahren auf der Bildfläche erschienen ist. Einige Wissenschaftler haben es sogar schon benutzt, um in die DNA früher menschlicher Embryonen einzugreifen. CRISPR gibt uns theoretisch die Möglichkeit, gezielt die Genetik unserer zukünftigen Kinder zu programmieren, so dass diese die Veränderungen dann an ihre Nachkommen weitergeben. Der erste Gedanke ist, die Technik einzusetzen, um die Menschheit von schweren Krankheiten zu befreien. Doch natürlich eröffnet sie noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten.

    Will man zukünftige Generationen also vor häufig vorkommenden Krankheiten schützen, oder sie, abgesehen davon, auch noch in anderer Weise „verbessern“? Ist es richtig, dass für diese ungeborenen Kinder zu entscheiden? Hier wird eine ganze Lawine ethischer Fragen losgetreten, etwa in Bezug auf Gerechtigkeit. Ist es gerecht, dass Menschen, die es sich leisten können, ihre Nachkommen optimieren können, während anderen vielleicht das Geld dafür fehlt? Das sind Fragen, mit deren Beantwortung wir noch weit am Anfang stehen. Aber sie werden immer dringlicher.

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit bearbeitet. Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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