Fossil aus der Kreidezeit: Embryo im Ei einer prähistorischen Schildkröte entdeckt

Wissenschaftler haben in China ein fossiles Ei mit seltenem Inhalt gefunden: den Embryo einer prähistorischen Riesenschildkröte.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 19. Aug. 2021, 11:10 MESZ, Aktualisiert am 19. Aug. 2021, 12:13 MESZ
Embryo prähistorische Riesenschildkröte

Mithilfe modernster Technik konnten Wissenschaftler den Embryo in dem Urzeit-Ei aus China rekonstruieren, ohne es zu beschädigen.

Foto von Masato Hattori

Im Sommer 2018 standen die beiden Paläontologen Fenglu Han und Haishui Jiang von der Geowissenschaftlichen Universität in Wuhan im Haus eines Bauern in der chinesischen Provinz Henan. Sie untersuchten eine Kiste mit runden Gesteinsklumpen, die der Bauer rund um sein Haus im Kreis Neixiang eingesammelt hatte. Der Ort war schon länger für Funde von Dinosauriereiern bekannt, doch eine Steinkugel in der Kiste des Bauern stach für die Wissenschaftler besonders hervor: Sie hatte ungefähr die Größe und Form einer Billardkugel und sah ganz anders aus als alle zuvor gefundenen Eier von Dinosauriern.

Die beiden Paläontologen vermuteten zunächst, dass das Ei von einer bisher unbekannten Dinosaurierspezies stammen würde. Gründliche Analysen zeigten jedoch, dass sie es mit etwas weitaus Seltenerem zu tun hatten: Eingeschlossenen in der steinernen Eierschale fanden sie die fossilen Überreste einer riesigen ausgestorbenen Schildkröte.

Das fossile Ei aus der Kreidezeit, in dem der seltene Schildkrötenembryo gefunden wurde.

Das fossile Ei aus der Kreidezeit, in dem der seltene Schildkrötenembryo gefunden wurde.

Foto von Yuzheng Ke

Laut einer neuen Studie, die in der Zeitschrift „Proceedings of the Royal Society B“ erschienen ist, kann das Fossil der Familie der Nanhsiungchelyidae zugeordnet werden. Diese nun ausgestorbenen Landschildkröten bevölkerten die Erde in der Kreidezeit (Cretaceum) vor 145 Millionen bis 66 Millionen Jahren gleichzeitig mit den Dinosauriern. Das Ei aus Neixiang ist eines der größten bisher entdeckten aus dieser Zeit und die Schildkröte, die es legte, hatte laut den Schätzungen der Wissenschaftler vermutlich einen Panzer von der Länge eines durchschnittlich großen, ausgewachsenen Menschen.

„Das waren definitiv keine kleinen Schildkröten“, sagt Darla Zelenitsky, Autorin der Studie und Paläontologin an der University of Calgary in Alberta, Kanada.

Fossile Embryonen sind eine Rarität – egal von welchem Lebewesen sie stammen. Das zarte Gewebe und die feinen Knochen der sich noch entwickelnden Tiere überdauern die Zeit meist nicht gut. Schildkrötenembryos werden laut Zelenitsky sogar noch seltener entdeckt als die von Dinosauriern, weil die meisten Schildkröteneier sehr klein sind und eine äußerst dünne Schale haben. Nur wenige fossile Schildkrötenembryos wurden überhaupt jemals gefunden – keiner von ihnen war bisher gut genug erhalten, um ihm einen Platz im taxonomischen Stammbaum zuordnen zu können.

Das ändert sich mit dem neuentdeckten fossilen Embryo. Durch ihn war es den Wissenschaftlern möglich, andere Schildkröteneier derselben Familie zuzuordnen und ein Zeitfenster für ihr Brutverhalten und ihre evolutionäre Anpassung zu bestimmen. Zwar liefert ein einziges Fossil nur eine beschränkte Anzahl von Informationen, doch wo dieses gefunden wurde, könnten noch mehr auf ihre Entdeckung warten. Das glaubt auch Tyler Lyson, Kurator für Wirbeltierpaläontologie am Denver Museum of Nature and Science, der nicht an der Studie beteiligt war. „Es ist lediglich eine Frage der Zeit.“

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    Als die beiden Wissenschaftler aus Wuhan das Ei zum ersten Mal sahen, waren zwei kleine Knochen, die aus einem Riss an der Seite hervorschauten, der einzige Hinweis darauf, welch ein Schatz sich in seinem Inneren verbarg. Der Bauer erlaubte den Forschern, das Ei für weitere Untersuchungen mitzunehmen und zeigte ihnen die Fundstelle. Keines der vielen anderen Eier, die sie dort entdeckten, sei so gut erhalten gewesen wie das nun untersuchte, so Han.

    Zurück in ihrem Labor gelang es ihnen, mithilfe von Mikrocomputertomographie (Mikro-CT), die mit Röntgenstrahlen arbeitet, unter die glatte, steinerne Oberfläche des Fossils zu blicken. Die CT-Bilder zeigten ein Knäuel unzusammenhängender Knochen im Inneren des Eies. Um das Durcheinander zu ordnen, erstellte das wissenschaftliche Team 3D-Modelle jedes einzelnen Knochens und setze das winzige Skelett wie ein Puzzle zusammen.

    Laut Raul Diaz, Evolutionsbiologe für Reptilien an der California State University in Los Angeles, ist der Embryo denen von modernen Schildkröten bemerkenswert ähnlich. Er weist vor allem auf die flachen Rippen hin, die sich im Laufe des Wachstums im Ei ausgeweitet und verhärtet hätten. „Es ist fast so, als bestünde kein Unterschied zu dem, was ich heute in meinem Labor zu sehen bekomme“, sagt Diaz, der an der Studie nicht mitgearbeitet hat.

    Die letzte bestätigte Sichtung einer lebenden Fernandinha-Riesenschildkröte erfolgte 1906.

    Trotzdem gibt es einige spezifische Merkmale, die bei der Zuordnung der prähistorischen Schildkröte zu einer bestimmten Familie hilfreich waren. Zum Beispiel hat der obere Kieferknochen eine leicht eckige Form und eine gezackte Hinterkante. Eigenschaften, die sich, so Darla Zelenitsky, in der Familie der Nanhsiungchelyidae wiederfänden.

    Harte Schale

    Die wahrscheinlich auffälligste Eigenschaft des Eies ist seine mit zwei Millimetern extrem dicke Schale, die sich sehr von der hauchdünnen Schale unterscheidet, die sonst für Schildkröteneier typisch ist. Bei den modernen Schildkröten variiert die Schalendicke von den lederartigen Kugeln, in denen kleine Meeresschildkröten heranwachsen, bis hin zu den harten Eiern der Galapagos-Riesenschildkröte. Doch die Schale des Neixiang-Fossils ist der Studie zufolge sogar viermal dicker als die der Eier von Geochelone elephantopus, einem der Galapagos-Giganten.

    Weshalb eine derartig dicke Schale nötig war, ist unklar. Aufgrund der Spuren von Pflanzen an der Fundstelle wird angenommen, dass in diesem Gebiet in der Kreidezeit ein trockenes Klima herrschte. Die dicke Schale könnte durch Anpassung an dieses Klima entstanden sein, um den Flüssigkeitsverlust des Eies zu reduzieren. Eine andere mögliche Erklärung ist, dass die Schale auch dann nicht zerbrechen durfte, wenn die Schildkröten ihre Nester tief in den Boden gruben.

    Abgesehen von dem unbekannten Zweck der extrem dicken Schale gibt es noch ein anderes Rätsel, das Darla Zelenitsky so formuliert: „Ich habe keine Ahnung, wie sie da rausgekommen sind.“ Um dem Ei zu entschlüpfen, hätten die Babyschildkröten von innen mit ihren Extremitäten immer wieder hart gegen die Schale schlagen müssen.

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    Die Tatsache, dass Nanhsiungchelyidae an Land gelebt und gebrütet haben, war vermutlich der Grund für ihren Untergang. Zusammen mit allen anderen flugunfähigen Dinosauriern starb die Familie wohl vor etwa 66 Millionen Jahren aus, als ein kolossaler Asteroid die Erde traf. Der Einschlag erzeugte eine Schockwelle, die glühend heißes Gestein gen Himmel schleuderte und die Landmassen großflächig in Brand setzte. „Alles, was sich auf der Erdoberfläche befand, wurde gekocht“, erklärt Tyler Lyson.

    Ihm zufolge gelang es dem größten Teil der Schildkrötenpopulation aber, das Massenaussterben zu überstehen. Zu den Überlebenden zählten auch die Flussschildkröten, Verwandte der Nanhsiungchelyidae, deren Lebensraum im Wasser sie vor den schlimmen Auswirkungen des Asteroideneinschlags bewahrt hat. Kontraproduktiv für das Überleben der Nanhsiungchelyidae war sicherlich auch, dass sie sich ausschließlich von Pflanzen ernährten. Selbst wenn einige von ihnen das Massensterben überlebt hätten, wären die Nahrungsspezialisten in der postapokalyptischen Welt schnell auf Probleme bei der Futtersuche gestoßen.

    Keine fossilen Eierschalen, die auf die Zeit nach dem Asteroideneinschlag datiert wurden, ähneln denen aus Neixiang. Wissenschaftler deuten diesen Umstand so, dass derartig dicke Schalen in dem sich neu entwickelnden Umfeld von Nachteil gewesen sein müssen. Um aber genau sagen zu können, warum diese Art von Eierschale von der Erde verschwand, wären zusätzliche Informationen nötig.

    Laut Emma Schachner, Evolutionsbiologin an der Louisiana State University in New Orleans, ist die Studie, an der sie nicht mitgewirkt hat, ein wichtiger Beweis dafür, wie weitentwickelt die Paläontologie inzwischen ist. In vergangenen Zeiten hätten die Wissenschaftler lediglich die äußere Hülle des Fossils untersuchen können, ohne es zu beschädigen. Nun würden sich durch digitale Rekonstruktionsmethoden völlig neue Welten erschließen. „Das 3D-Modell ist das, was die Studie in meinen Augen so besonders macht“, sagt sie.

    Sie ist außerdem ein Beleg dafür, dass es noch viel über prähistorische Schildkröten zu lernen gibt. Weitaus weniger Forscher würden ihre Zeit diesen Urzeittieren widmen als den charismatischeren Dinosauriern, so Tyler Lyson. Dabei hätten Schildkröten so viel zu bieten. „Ihr Körperbau unterscheidet sich komplett von dem eines jeden anderen Tieres“, sagt er.

    Er hofft, dass ein Fund wie der des Schildkrötenembryofossils in China die kommende Generation von Wissenschaftlern dazu inspirieren wird, die Entstehungsgeschichte dieses außergewöhnlichen Tieres zu entschlüsseln. „Was wir brauchen, sind mehr gute Schildkrötenfossilforscher“, sagt er.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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