Frühe moderne Menschen: Ältestes Grab eines weiblichen Babys in Europa gefunden
Ein kleines Mädchen starb vor 10.000 Jahren und wurde im Alter von weniger als acht Monaten in einer Höhle in Italien bestattet. Die Analyse seiner Knochen liefert Hinweise auf den Stellenwert von Kindern in der Gemeinschaft des frühen Homo sapiens.
Ein Team von Archäologen unter der Leitung von National Geographic Explorer Jamie Hodgkins hat in einer Höhle im Nordwesten Italiens die 10.000 Jahre alte Grabstätte eines Kindes untersucht. Dank der guterhaltenen Knochen bot die seltene Möglichkeit einer DNA-Analyse, die zeigte, dass sie von einem Babymädchen stammen, das sorgsam bestattet wurde.
Die Analyse der sterblichen Überreste eines Kindes aus einer Höhle in Italien haben ergeben, dass es sich bei der Grabstelle um den ältesten Beweis für die Bestattung eines weiblichen Homo sapiens-Kinds in Europa handelt. Diese Entdeckung beantwortet einige Fragen, die den Status von Kindern – insbesondere die Wahrnehmung von weiblichen Kindern als Person – in menschlichen Gemeinschaften vor Tausenden von Jahren betreffen.
Das kleine Mädchen, das zum Zeitpunkt seines Todes vor etwas mehr als 10.000 Jahren zwischen 40 und 50 Tagen alt war, wurde von den Wissenschaftlern auf den Namen Neve getauft – in Anlehnung an einen Fluss in der Region ihres Fundorts. Die Todesursache ist nicht bekannt und alles, was von dem toten Kind übrig ist, sind ein paar ihrer kleinen Knochen und die Muschelperlen, die an dem Tuch befestigt waren, in das der Leichnam eingehüllt war. Von einer Uhukralle, die in ihrer Nähe der Knochen gefunden wurde, wird vermutet, dass es sich um eine Grabbeigabe handelt.
Knochen prähistorischer Kinder – ein seltener Fund
Nur äußerst selten finden Archäologen die Überreste von Kindern aus prähistorischen Zeiten. Knochen von Neugeborenen sind besonders rar, da sie oft zu klein und zerbrechlich sind, um über die Dauer von Jahrtausenden intakt zu bleiben. Knochen von Erwachsenen werden zwar häufiger entdeckt, trotzdem bestehen zwischen den einzelnen archäologischen Belegen für Begräbnisrituale teilweise jahrtausendlange Lücken. Werden Knochen von verstorbenen Kindern gefunden, ist die enthaltene DNA oft schon zerfallen, was es unmöglich macht, das Geschlecht zu bestimmen.
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Neves Knochen haben die mehr als 10.000 Jahre bis zu ihrer Entdeckung jedoch außergewöhnlich gut überstanden. Dadurch sei es den Wissenschaftlern möglich gewesen, ihre DNA zu analysieren, sagt Jamie Hodgkins, National Geographic Explorer und Paläoarchäologin an der University of Colorado in Denver. Sie ist leitende Autorin der Studie über Neve, die in der Zeitschrift Scientific Report veröffentlicht wurde.
„Aus dem Zeitraum von vor 11.000 bis 10.000 Jahren haben wir kaum Hinweise auf Bestattungsrituale“, erklärt sie. Nur wenige menschliche Fossilien dieses Alters verfügten über brauchbare DNA und „es gibt ein großes Zeitfenster, aus dem überhaupt keine Belege existieren.“
In dem Grab von Neve fanden sich an die 60 aus Muscheln gefertigte Perlen und Anhänger.
Den Wissenschaftlern zufolge zeige die Sorgsamkeit, mit der weibliche und vermutlich auch männliche Babys bestattet wurden, dass bereits Kinder in der Gemeinschaft als Person angesehen wurden. Sie waren also ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.
„Der Fund legt nahe, dass die Anerkennung und der Stellenwert eines Individuums in der Gemeinschaft bereits für sehr junge Mädchen galt“, sagt Caley Orr, Paläoanthropologe an der University of Colorado in Denver und Co-Autor der Studie.
Sozialer Status
Ab welchem Alter Kinder als Individuen galten und ob Mädchen und Jungen in einer Gemeinschaft gleich behandelt wurden sind Fragen, für deren Beantwortung die wenigen bisher entdeckten prähistorischen Gräber von Kindern nicht ausreichend Anhaltspunkte liefern konnten. Michael Petraglia, Anthropologe am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, war nicht in die Studie involviert, hat aber das Grab eines Homo sapiens-Kinds in Afrika erforscht. Er hält die Schlussfolgerungen seiner Kollegen für vernünftig. „Ich bin ebenfalls der Meinung, dass der Fund ein Beweis dafür ist, dass Jungen und Mädchen in der Gemeinschaft gleichbehandelt wurden“, sagt er. „Dies deckt sich mit den egalitären Sozialstrukturen, die wir bei den heutigen Jägern und Sammlern beobachten können.“
Jamie Hodgkins und Caley Orr ziehen zum Vergleich eines der wenigen bekannten Gräber eines Babys im selben Alter wie Neve heran, das ungefähr zur selben Zeit – vor etwa 11.500 Jahren – bestattet wurde. Auch hier fanden Archäologen Zeichen der Fürsorge und Grabbeigaben. „Das lässt die Interpretation zu, dass die Anerkennung von Kindern – Mädchen eingeschlossen – als Person entweder tief in einer gemeinsamen historischen Kultur verankert ist oder sich zeitgleich weltweit in verschiedenen Volksgruppen entwickelt hat“, heißt es in der Studie.
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Laut Jamie Hodgkins wird in der Archäologie traditionell der männliche Blickwinkel angesetzt. Sie befürchtet deswegen, dass viele Geschichten von Frauen und Mädchen bisher übersehen wurden. „Man ging einfach davon aus, dass besonders reich geschmückte Begräbnisstätten einem Mann gegolten haben müssen. Das passte zu der westlichen Einstellung, dass Männer einen hohen Status hatten und Frauen eben nicht“, sagt sie. Aktuelle archäologische Funde konnten inzwischen aber Beweise für weibliche Kriegerinnen zu Zeiten der Wikinger, nicht-binäre Anführer in der Eisen-, und Herrscherinnen in der Bronzezeit liefern. „Die weibliche Erzählung fehlt in der Archäologie“, sagt Jamie Hodgkins.
Derzeit ist das Grab von Neve das älteste seiner Art, das bisher in Europa entdeckt wurde. Jamie Hodgkins geht aber davon aus, dass dies nicht lange so bleiben wird. „Es wird immer mehr DNA-Analysen geben und wir werden auf immer mehr Spuren von Frauen in der Vergangenheit stoßen“, sagt sie. Sie geht außerdem davon aus, dass es durch den steigenden Frauenanteil in der Archäologie ebenfalls zu Veränderungen kommen wird. „Wenn man archäologische Funde aus einem zu engen Blickwinkel betrachtet, besteht die Gefahr, dass man für all die Vielfalt, die es Laufe der Geschichte gab, blind ist.“
Ausgrabungen in der Arma Veirana
Die italienische Höhle namens Arma Veirana, in der die Knochen von Neve gefunden wurden, ist unter Evolutionsforschern berühmt. Ausgrabungen im Jahr 2014 ergaben, dass sie vor bis zu 44.000 Jahren von Neandertalern (Homo neanderthalensis) und frühestens vor 30.000 Jahren von frühen modernen Menschen (Homo sapiens) genutzt wurde. Das bedeutet, dass die Fossilien und Artefakte, die hier gefunden wurden, aus der Übergangsphase zwischen dem letzten Neandertaler und dem ersten modernen Menschen stammen – ein Zeitraum, über den die Wissenschaftler unbedingt mehr erfahren wollen.
Als das Team im Jahr 2017 in der Höhle nach Spuren der suchte, entdeckte es stattdessen die ersten Knochen eines frühen Homo sapiens-Babys. Da der Fund auf den letzten geplanten Erkundungstag fiel, konnte das Grab erst ein Jahr später im Rahmen neuer Expeditionen vollständig freigelegt werden. Zu diesem Zeitpunkt war Hodgkins gerade mit ihrer Tochter schwanger, sodass Neve sie auf besondere Weise betroffen machte. „Ich durchsiebte die Sedimente und fand Zähne und kleine Handknochen“, sagt sie. „Der Anblick hat mir regelrecht das Herz gebrochen, weil die Hand so ein intimer Teil des Körpers ist.“
Neben den Knochen fanden die Wissenschaftler etwa 60 Perlen und Anhänger aus zwei verschiedenen Muschelarten, die das inzwischen zersetzte Leichentuch verziert hatten, in das das tote Kind gehüllt war. Es muss also entweder ein Mitglied aus der Gruppe an die drei Kilometer entfernte Küste gewandert sein, um dort die Muscheln zu sammeln, oder sie wurden durch ein Tauschgeschäft erworben. Viele Ornamente zeigten stark Nutzspuren, was laut Claudine Gravel-Miguell, Anthropologin an der Arizona State University in Tempe und Co-Autorin der Studie, ein Zeichen dafür sein könnte, dass sie sich zuvor im Besitz anderer Mitglieder der Gemeinschaft befanden.
Die menschliche Kultur der Bestattung
Laut der Paläoanthropologin María Martinón-Torres, Leiterin des Centro Nacional de Investigación sobre la Evolución Humana (CENIEH) in Burgos, Spanien, ist die Grabstelle in der Arma Veirana „ein schönes Beispiel für den Umgang der Menschen mit ihren Verstorbenen. Wir sehen, dass Bestattungen seit Hundertausenden Jahren sowohl von den Neandertalern als auch von frühen modernen Menschen durchgeführt wurden.“
María Martinón-Torres hat an der neuen Studie nicht mitgearbeitet, war aber an der Untersuchung der Überreste eines Homo sapiens-Kinds beteiligt, das vor etwas 78.000 Jahren in Afrika beerdigt wurde – Zehntausende Jahre bevor die Spezies Europa besiedelte.
Auch sie deutet den Fund in der italienischen Höhle als Beleg dafür, dass Babys von Geburt an als vollwertige Mitglieder der frühen menschlichen Gemeinschaften betrachtet wurden. „Hinweise auf die Anerkennung von Kindern als Personen haben wir sowohl beim frühen Homo sapiens als auch bei den Neandertalern gefunden“, erklärt sie. „Die frühesten Hinweise auf Begräbnisse in Afrika stehen in Verbindung mit Kindern, deren tote Körper sorgsam und liebevoll bestattet wurden.“
Der vorzeitige Tod von Kindern löse in Hominini und manchen Primaten intensive Gefühlsregungen aus, sagt María Martinón-Torres. „Wir kennen das von den Menschen der heutigen Zeit aber auch bei Schimpansen wurde beobachtet, dass sie um ihre toten Babys und Kinder trauen.“
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.