Phänologie: Was Pflanzen uns über die Jahreszeiten verraten

Beginn der Blüte oder erste bunte Blätter – bestimmte Veränderungen in der Natur zeigen uns, wann welche Jahreszeit beginnt. Das ist die Grundlage der Phänologie, einer Wissenschaft zum Mitmachen, die auch für die Klimaforschung immer wichtiger wird.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 18. Feb. 2022, 17:40 MEZ
Wenn die ersten Schneeglöckchen wachsen, beginnt im phänologischen Kalender der Vorfrühling.

Wenn die ersten Schneeglöckchen wachsen, beginnt im phänologischen Kalender der Vorfrühling.

Foto von nmelnychuk / Adobe Stock

Frühling, Sommer, Herbst und Winter – jedes Kind kennt die vier Jahreszeiten. Doch der Bestimmung, wann genau die eine endet und die nächste beginnt, liegen je nach Wissenschaftsfeld verschiedene Ansätze zugrunde. In der Astronomie läuten die Sonnenwenden oder Tag-Nacht-Gleichen, die sich aus der scheinbaren geozentrischen Länge der Sonne ergeben, den Sommer und Winter beziehungsweise Frühling oder Herbst ein. Meteorologen berufen sich auf den Kalender: Die Jahreszeiten ändern sich jeweils am 1. März, Juni, September oder Dezember und dauern exakt drei Monate. Deutlich weniger abstrakt und dem Alltag der Menschen viel näher ist die dritte Methode der Jahreszeitenbestimmung: die Phänologie.

Was ist Phänologie?

Das Wort Phänologie hat seinen Ursprung im Griechischen und bedeutet so viel wie „Lehre von den Erscheinungen“. Statt des Kalenders oder dem Sonnenstand sind ihre Grundlage die im Jahresablauf periodisch wiederkehrenden Wachstumsstadien ausgewählter Pflanzen. Diese sogenannten Leitphasen werden zum Beispiel durch die Blüte, die Frucht oder den Blattfall angezeigt. Statt der üblichen vier Jahreszeiten, kennt die Phänologie insgesamt zehn: Blühen beispielsweise die Apfelbäume, ist dies der Startschuss für den Vollfrühling.

Jede phänologische Jahreszeit wird durch eine Leitphase eröffnet und endet mit dem Beginn der nächsten Jahreszeit. Im äußeren Ring der phänologischen Doppeluhr ist der langjährige mittlere Verlauf der phänologischen Jahreszeiten dargestellt, im inneren Ring das Mittel der Daten aus den Jahren 1991 bis 2021.

Foto von DWD

Phänologie ist im Grunde eine Wissenschaft für Jedermann: Wenn wir uns über das erste Schneeglöckchen freuen, dessen Blüte den Vorfrühling anzeigt, oder Johannisbeeren vom Strauch pflückt, die Indikatoren für den Hochsommer sind, stellen wir unbewusst eine phänologische Beobachtung an. Die Kirschblüte, die in der japanischen Kultur den Frühling einläutet und das wiedererwachende Leben symbolisiert, ist vermutlich die berühmteste phänologische Erscheinung der Welt – und die älteste dokumentierte: In den Archiven des kaiserlichen Hofs in Japan findet sich Beobachtungsmaterial zu der Kirschblüte in Kyoto, das bis ins Jahr 705 zurückreicht.

Das phänologische Messnetz und seine Geschichte

Doch so effektvoll die zartrosafarbene Blütenexplosion auch ist: Für eine umfassende Aussage über die Jahreszeiten nur eine Phase einer einzelnen Pflanzenart nicht ausreichend. Mitte des 19. Jahrhunderts begann der österreichische Geophysiker und Meteorologe Karl Fritsch deshalb damit, das erste moderne phänologische Messnetz auszubauen.

In Deutschland erlebte die Phänologie im Jahr 1885 ihren Durchbruch, als der Botaniker und Universitätsprofessor Hermann Hoffmann eine Anleitung zur Beobachtung der phänologischen Phasen mit dem Titel Resultate der wichtigsten pflanzenphänologischen Beobachtungen in Europa veröffentlichte. Die Publikation bildete sowohl in Deutschland als auch in anderen Teilen Europas die Grundlage der einheitlichen Beobachtung und zog in Deutschland den Aufbau einiger regionaler Messnetzte nach sich. Das erste dauerhafte deutschlandweite Beobachtungsnetz wurde im Jahr 1922 von der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft ins Leben gerufen und bis 1935 betreut. Seit seiner Gründung im Jahr 1952 ist der Deutsche Wetterdienst (DWD) für das Sammeln und Verarbeiten phänologischer Daten zuständig.

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BELIEBT

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    Wer sammelt die Daten?

    Die Phänologie lässt eine sehr viel feinere regionale Bestimmung des Jahreszeitenwechsels zu als die astronomische und meteorologische Methode. Das ist möglich, weil phänologische Beobachter die insgesamt 168 verschiedenen Leitphasen auf bestimmten Flächeneinheiten, den sogenannten Naturräumen, verfolgen. Von ihnen gibt es in Deutschland über 300. Die Naturräume unterscheiden sich in einzelnen oder mehreren geologischen, aber auch klimatologischen Faktoren voneinander. Gebietsmäßige Unterschiede können so äußerst präzise abgebildet werden.

    Neben fest etablierten Beobachtungsstationen – etwa den Internationalen Phänologischen Gärten (IPG) – gibt es derzeit etwa 1.100 ehrenamtliche Beobachter, die für den DWD im Einsatz sind. Sie dokumentieren in ihren Gebieten mindestens 65 Leitphasen pro Jahr – wobei die Pflanzen im phänologischen Katalog unterschiedlich viele Phasen durchlaufen: Beim Schneeglöckchen wird nur eine Phase – die Blüte – betrachtet. Bei der Rosskastanie sind es mit Knospe, Blattentfaltung, Blüte, Frucht, Blattverfärbung und Blattfall gleich sechs.

    Welche Pflanzen ein Beobachter durch das Jahr begleitet, ist abhängig von der lokalen Vegetation. „Wo Lehmboden ist, wächst eher keine Heide. Auf Sandboden wächst keine Schwarzerle“, erklärt Anja Engels, die beim DWD den Bereich Phänologie betreut. „Es wird generell immer nur das beobachtet, was am Beobachtungsort in einem Umkreis von fünf Kilometern vorhanden ist.“

    Wichtig für Landwirtschaft – und Klimaforschung

    Dabei ist die Häufigkeit, in der Beobachter aus ihren Regionen Bericht erstatten, unterschiedlich: Jahresmelder übermitteln ihre gesammelten Daten für statistische Zwecke am Ende des Jahres. Sofortmelder informieren den DWD tagesaktuell. Einer der Hauptabnehmer dieser Sofortmeldedaten ist traditionell die Landwirtschaft. „Mit den Daten füttern wir Modelle anhand derer ein Landwirt zum Beispiel sehen kann, wann das Korn feucht werden oder bestimmte Krankheiten auftreten können. Wenn in seiner Region die Forsythie blüht, weiß er zum Beispiel, mit welchen Gefahren er rechnen und welche Arbeiten er auf seinen Anbauflächen in Angriff nehmen muss“, erklärt Anja Engels.

    Auch Pollenallergiker profitieren von diesen Informationen. Vor allen, weil es in Hinblick auf den Beginn der Zeiten, in denen mit juckenden Augen und laufenden Nasen zu rechnen ist, zu merklichen Verschiebungen gekommen ist. Laut Anja Engels beginnt die Pollensaison mit Hasel und Erle inzwischen deutlich früher. „Das fängt jetzt oft schon im Dezember an,“ sagt sie.

    Diese Verschiebung der Leitphasen ist aber nicht zuletzt auch für die Klimaforschung interessant. Das Umweltbundesamt meldete im Jahr 2021, dass die Klimaveränderung und die höheren Temperaturen in Deutschland im Vergleich zu früheren Jahrzehnten zu zeitigerem Austrieb, Blüte und Fruchtbildung geführt hätten. „Die Apfelblüte hat sich zum Beispiel teilweise um zwei Wochen nach vorne verschoben“, sagt Anja Engels.

    Die phänologischen Daten zeigen, dass Frühling, Sommer und Herbst auf der Nordhalbkugel inzwischen früher beginnen und länger dauern, die Winter hingegen immer kürzer werden. Sollte diese Entwicklung ungebremst voranschreiten, könnte der Sommer im Jahr 2100 Klimaforschern zufolge fast ein halbes Jahr andauern und der Winter nur noch zwei Monate lang sein. Das hat Folgen für die biologische Vielfalt und die Ökosysteme: Weil die dafür zuständigen Insekten noch nicht geschlüpft sind, werden Blüten beispielsweise nicht bestäubt, Vögel können ihren Nachwuchs nicht ernähren, weil Brutzeit und Futterangebot nicht mehr synchron sind, Schädlinge können sich leichter in Lebensräume einschleichen, sich dort festsetzen und ausbreiten.

    Die Datenreihe der Haselblüte in Geisenheim beginnt mit den langjährigen Beobachtungen zweier Dozenten der Lehr- und Forschungsanstalt für Wein-, Obst- und, Dr. K. Christ und Dr. G. Lüstner. Im Zeitraum 1896 bis 1948 sammelten sie mit Unterstützung ihrer Studierenden unter andere Daten zur Haselblüte, aber auch zu den Entwicklungsstadien zahlreicher weiterer wildwachsender Pflanzen. In den Folgejahren wurden die Beobachtungen von phänologischen Beobachtern des Deutschen Wetterdienstes weitergeführt.

    Foto von DWD

    Wissenschaft zum Mitmachen

    Idealerweise sollten pro Naturraum fünf Beobachter Daten sammeln, diese Quote wird aus Mangel an Ehrenamtlichen jedoch nicht erreicht. Ihre Zahl ist inzwischen merklich zurückgegangen – Anfang der Neunzigerjahre waren noch 2.5000 Beobachter für den DWD unterwegs.

    Für die Erstellung langer Beobachtungsreihen, die eine hohe Aussagekraft über die Entwicklung der Jahreszeiten haben und deswegen für die Forschung besonders interessant sind, ist dies ein großes Problem. Insbesondere in eher dünnbesiedelten Regionen wie dem Alpenvorland und Mecklenburg-Vorpommern fehlen die wichtigen Helfer. Der DWD sucht deswegen ständig nach neuen Beobachtern, die in die Erfüllung ihrer Aufgabe pro Jahr etwa 200 Stunden investieren und, insbesondere in den Frühlingsmonaten, zu täglichen Ausflügen bereit sein sollten. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung – und werden nach 40 Jahren im Einsatz für die Phänologie mit der Bundesverdienstmedaille geehrt.

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