Verlorene amerikanische Ur-Population entdeckt

Die Untersuchung eines 11.500 Jahre alten Kinderskeletts offenbarte überraschende Erkenntnisse über die Besiedlung der Neuen Welt.

Von Michelle Z. Donahue
Veröffentlicht am 5. Jan. 2018, 13:51 MEZ
Die Überreste eines Kindes, die in einer 11.500 Jahre alten Stätte in Alaska ausgegraben wurden, deuten auf eine genetisch eigenständige Bevölkerungsgruppe hin, die Wissenschaftlern bis dato unbekannt war.
Foto von Ben Potter

Vor etwa 11.500 Jahren überlebte ein kleines Mädchen nur sechs Wochen lang in dem rauen Klima Alaskas. Ihre kurze Existenz liefert modernen Forschern allerdings eine überraschend große und reizvolle Fülle an Informationen.

Ihr Genom liefert das bisher älteste vollständige genetische Profil eines Menschen der Neuen Welt. Als wäre das noch nicht spannend genug, offenbaren ihre Gene auch die Existenz einer bisher unbekannten Gruppe von Menschen, die mit den heutigen amerikanischen Ureinwohnern zwar verwandt, aber älter und genetisch verschieden sind.

Diese neuen Informationen liefern neue Details darüber, wie, wann und wo die Vorfahren aller amerikanischen Ureinwohner zu einer eigenständigen Gruppe wurden und wie sie sich über die Neue Welt verteilt haben könnten.

Die DNA des Babys zeigt, dass es zu einer Bevölkerungsgruppe gehörte, die sich genetisch von den anderen Gruppen unterschied, die sich zum Ende des Pleistozäns auf dem amerikanischen Kontinent befanden. Ben Potter von der Universität von Alaska Fairbanks grub die sterblichen Überreste 2013 in der archäologischen Stätte Upward Sun River aus. Der Archäologe nannte die neue Gruppe „Ancient Beringians“, also die Alten Beringianer. (Lesenswert: 12 Theorien, wie wir Menschen wurden, und warum sie alle falsch sind)

Die Entdeckung der Knochen des Babys, das Xach'itee'aanenh T'eede Gaay getauft wurde (in einer lokalen athabaskischen Sprache bedeutet das ungefähr Sonnenaufgangskindmädchen) kam ebenso unerwartet wie die Ergebnisse der genetischen Analyse, sagt Potter.

Die Stätte Upward Sun River wurde 2006 entdeckt und ist nur per Hubschrauber erreichbar. Sie befindet sich in dem dichten borealen Nadelwald des Tanana-Flusstals in Alaska. Die Siedlung war unter Sand und Lehm begraben – eine saure Umgebung, in der organisches Material ausgesprochen selten überdauert. Zuvor hatte Potter die eingeäscherten Überreste eines drei Jahre alten Kindes in einer Feuergrube der Siedlung ausgegraben. Unter diesem ersten Grab wurden das sechs Wochen alte Baby und ein zweites, sogar noch jüngeres Kind gefunden. (Lesenswert: Kinderopfer der Inka standen unter Drogen)

BELIEBT

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    Ein Team aus Dänemark, darunter auch der Genetiker Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen, sequenzierte das Genom der Überreste. Das Team verglich das Genom des Kindes mit den Genen von 167 alten und zeitgenössischen Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ publiziert.

    „Wir wussten nicht, dass diese Gruppe überhaupt existierte“, sagt Potter. „Jetzt wissen wir, dass sie für viele Tausend Jahre hier war und dass sie sehr erfolgreich war. Wie haben sie das geschafft? Wie haben sie sich verändert? Wir haben jetzt Beispiele für zwei genetische Gruppen von Menschen, die sich an diese raue Landschaft angepasst haben.“

    Die genetische Analyse deutet darauf hin, dass alle amerikanischen Ureinwohner sich vor 36.000 bis 25.000 Jahren von einer einzigen ostasiatischen Bevölkerungsgruppe abspalteten. Das geschah also deutlich, bevor Menschen Beringia durchquerten – eine Region zwischen Sibirien und Alaska, die während der letzten Eiszeit als Landbrücke diente. Irgendwo auf dieser Reise, entweder in Ostasien oder in Beringia selbst, wurde eine Gruppe also für etwa 10.000 Jahre von den anderen Ostasiaten isoliert – lange genug, um eine ganz eigene Sorte von Mensch zu werden.

    Das Genom des Mädchens zeigt auch, dass die Beringianer sich vor etwa 20.000 Jahren genetisch von allen anderen Gruppen amerikanischer Ureinwohner abspalteten. Da es aber bisher keine verlässlichen Beweise für Menschen in Nordamerika gibt, die älter als 14.600 Jahre sind, ist noch unklar, wie und wo sich diese zwei Gruppen lange genug getrennt haben könnten, um die genetischen Unterschiede zu entwickeln.

    Die neue Studie postuliert zwei neue Möglichkeiten dafür, wie diese Trennung vonstattengegangen sein könnte.

    Eine künstlerische Darstellung eines alten Lagers an der Stätte Upward Sun River im heutigen Alaska.
    Foto von Eric S. Carlson in Zusammenarbeit mit Ben Potter

    Laut der ersten Möglichkeit wurden die zwei Gruppen noch in Asien voneinander isoliert und überquerten die Landbrücke unabhängig voneinander – womöglich zu unterschiedlichen Zeiten oder auf unterschiedlichen Routen.

    Die zweite Theorie besagt, dass eine einzelne Gruppe aus Asien fortging und sich in Beringia in die Beringianer und die alten amerikanischen Ureinwohner spaltete. Die Beringianer verblieben im Westen und im Inneren von Alaska, während die Vorfahren der heutigen amerikanischen Ureinwohner vor etwa 15.700 Jahren weiter nach Süden zogen.

    „Es ähnelt weniger einem Baum, der sich verzweigt, sondern eher einem Delta aus Flüssen, die ineinanderfließen und sich wieder trennen“, sagt Miguel Vilar, der Chefwissenschaftler für das Genographic Project von National Geographic. „Vor zwanzig Jahren haben wir geglaubt, dass die Besiedlung Amerikas recht simpel erschien. Aber dann stellte sich heraus, dass es deutlich komplizierter war, als es irgendwer geglaubt hätte.“

    Laut John Hoffecker, der die Paläoökologie von Beringia an der Universität von Colorado-Boulder studiert, gibt es noch immer viel Raum für Diskussionen, was die geografische Lage dieser Aufspaltungen der Bevölkerungsgruppen angeht. Die neue Studie passt aber gut in die Richtung, die das Denken in den letzten zehn Jahren bereits eingeschlagen hat, wie er hinzufügt.

    „Wir glauben, dass es in der ursprünglichen Bevölkerung der amerikanischen Ureinwohner deutlich mehr Vielfalt gegeben hat, als man heute sieht. Das steht also im Einklang mit vielen anderen Beweisen“, sagt Hoffecker.

    Diese Vielfalt – die durch Studien der Schädelform und Zahnstruktur amerikanischer Ureinwohner offenbart wurde – erzeugt aber ihr eigenes Dilemma. Wie konnte eine relativ kleine Gruppe von Menschen in der Neuen Welt – abgeschnitten durch Klimaveränderungen und ohne Zugang zu frischem Genmaterial – so eine Vielfalt an Unterschieden zu ihren ostasiatischen Vorfahren ausbilden? Das geschah sicher nicht im Laufe von nur 15.000 Jahren, sagt Hoffecker und bezieht sich auf den vermuteten Zeitraum, in dem die alten amerikanischen Ureinwohner und die Beringianer sich trennten.

    „Wir erhalten diese Anzeichen eines frühen Auseinanderdriftens schon seit Jahrzehnten. Die ersten mitochondrialen Studien amerikanischer Ureinwohner in den 1990ern offenbarten Schätzungen von 30.000, 35.000 und sogar 40.000 Jahren“, sagt Hoffecker. „Das wurde von allen abgelehnt, auch von mir. Dann fing man an zu vermuten, dass es zwei Daten gab: eines für das [genetische] Auseinanderdriften und eines für die Verbreitung, und diese Studie stützt das.“

    „Das Wissen um die Beringianer zeigt uns wirklich, wie komplex der Prozess der menschlichen Migration und Anpassung war“, fügt Potter hinzu. „Es ermuntert den Wissenschaftler in uns allen dazu, bessere Fragen zu stellen und unsere arteigene Fähigkeit, in so eine raue Landschaft zu kommen und dort erfolgreich zu sein, mit Ehrfurcht zu betrachten.“ (Lesenswert: Ethnizität, Identität und Wandel in Bildern)

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