Neues Coronavirus: Wenn sich Geschichte zu wiederholen droht

Gesundheitsbehörden orientieren sich an den früheren SARS- und MERS-Epidemien, um mögliche Risiken des neuen Coronavirus einzuschätzen.

Von Nsikan Akpan
Veröffentlicht am 22. Jan. 2020, 17:09 MEZ
Arbeiter in Schutzkleidung in Wuhan
Ein Arbeiter in Schutzkleidung steht am geschlossenen Fischmarkt in Wuhan, China, dem mutmaßlichen Ursprung des Coronavirenausbruchs.
Foto von Darley Shen, Reuters

Vor fast 20 Jahren tauchte auf Märkten im Süden Chinas ein Virus auf, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Es war Winter 2003 und die Betroffenen klagten über Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Reizhusten – allesamt Symptome, die man in der Grippezeit erwarten würde.

Im weiteren Verlauf entwickelte sich die Krankheit jedoch zu einer tödlichen Lungenentzündung, die wabenförmige Löcher in die Lunge der Patienten fraß und bei einem Viertel aller Betroffenen zu einem schweren Lungenversagen führte. Die meisten Infizierten steckten im Schnitt nur drei weitere Personen an, aber manche wurden zu regelrechten „Superverbreitern“: Sie gaben die Infektion unwissentlich Dutzende Male weiter. Als die SARS-Epidemie (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) sieben Monate später vorbei war, hatte die Krankheit 8.000 Menschen in 32 Ländern befallen und 800 Todesopfer gefordert.

Genau deshalb beobachten Behörden weltweit nun angespannt die Lage in China, wo in Wuhan ein neues Virus aufgetaucht ist, das mit dem SARS-Erreger verwandt ist und mittlerweile die Bezeichnung 2019-nCoV erhalten hat. Die Krankheit hat sich in nur drei Wochen bereits auf große Städte wie Peking, Shanghai und Shenzhen sowie nach Taiwan, Thailand, Japan und Südkorea ausgebreitet. Mittlerweile ist auch der erste Fall aus den USA bekannt.

„Es wurde bestätigt, dass sich die Krankheit von Mensch zu Mensch überträgt. Aber wie leicht oder nachhaltig sich der Virus auf diese Weise ausbreitet, ist noch nicht bekannt“, sagte Nancy Messonnier, die Direktorin des Nationalen Zentrums für Immunisierung und Atemwegserkrankungen am US-amerikanischen CDC. Auf einer Pressekonferenz verkündete sie außerdem die Entwicklung eines genetischen Schnelltestverfahrens für das Virus aus Wuhan. „Derzeit führen wir am CDC Tests auf das Virus durch, aber wir gehen davon aus, dass wir diese Tests in den kommenden Wochen auch mit in- und ausländischen Partnern teilen können werden.“ Auch an der Berliner Charité bereitet man sich auf entsprechende Tests vor.

Bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses wurden insgesamt fast 600 Infektionsfälle und 17 Todesfälle gemeldet. Die WHO sich hat nach einem Treffen am Mittwoch vorerst dagegen entschieden, eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ auszurufen. Epidemiologen vermuten, dass sich wahrscheinlich schon Tausende Menschen infiziert haben. Der erste US-Patient traf bereits im Land ein, bevor die Screenings für das Virus an drei großen Flughäfen der USA überhaupt begonnen hatten.

BELIEBT

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    “Wenn wir die Märkte schließen würden, auf denen diese Wildtiere gehandelt werden, würden viele solcher Ausbrüche der Vergangenheit angehören.”

    von Ian Lipkin
    Columbia University

    Genau wie bei SARS scheint die ganze Misere auch diesmal auf den Handel mit Wildtieren zurückzugehen, was Virologen keineswegs überrascht.

    „Wenn wir die Märkte schließen würden, auf denen diese Wildtiere gehandelt werden, würden viele solcher Ausbrüche der Vergangenheit angehören“, sagt Ian Lipkin, der Direktor des Zentrums für Infektionen und Immunologie an der Columbia University. Lipkins Labor arbeitete damals mit chinesischen Behörden zusammen, um Diagnoseverfahren für SARS zu entwickeln.

    Sowohl SARS als auch die Infektion mit dem Coronavirus sind Zoonosen – also Krankheiten, die tierischen Ursprungs sind und sich auf Menschen übertragen haben. HIV, Ebola, H5N1 und viele weitere berüchtigte Erkrankungen begannen auf diese Weise und entwickelten sich zu weltumspannenden Pandemien. Im Falle von SARS waren fast 40 Prozent der anfänglich Infizierten Menschen, die Wildtiere fingen, töteten, verkauften oder zubereiteten. In den frühen Phasen der Epidemie waren außerdem vornehmlich Menschen betroffen, die in Laufweite solcher Märkte wohnten.

    Die Viren schlummern in Fledermäusen

    Gesundheitsbehörden berichteten am 31. Dezember erstmals von dem neuen Krankheitsausbruch. Die Rede war von einer Reihe von Fällen, die ähnliche Symptome wie bei einer Lungenentzündung aufwiesen und auf einen Fischmarkt in Wuhan zurückgingen, einer Stadt in Zentralchina mit knapp elf Millionen Einwohnern. CNN berichtete, dass der „South China Seafood City“-Markt in Wuhan allerdings mehr als Meeresfrüchte zum Verkauf anbot. Videoaufnahmen zeigten angeblich Marderhunde und Hirsche in kleinen Käfigen.

    Warum begünstigen solche Bedingungen die Entstehung von Zoonosen?

    „Wenn man Tiere in diesen unnatürlichen Situationen zusammenbringt, besteht das Risiko, dass sich eine menschliche Krankheit entwickelt“, sagt Kevin Olival, ein Ökologe, Naturschützer und Krankheitsforscher der EcoHealth Alliance. „Wenn die Tiere unter schlechten Bedingungen gehalten werden und viel Stress erleben, kann das bessere Bedingungen dafür schaffen, dass sie krank werden und Viren verbreiten.“

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    Dieses Zusammenspiel zwischen Virus und Tier kann auch dabei helfen, eine Epidemie zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen. Viren mutieren, wenn sie sich ausbreiten und vermehren. Über diese Eigenschaft können Virologen und Wildtierbiologen die Evolution einer Krankheit nachverfolgen – selbst, wenn sie von einer Tierart auf eine andere übergeht.

    SARS und das neue Coronavirus aus Wuhan sind eng verwandt – auch der SARS-Erreger zählt zu den Coronaviren. Einige Vertreter dieser großen Virenfamilie lösen Krankheiten beim Menschen aus, während andere Kamele, Katzen, Fledermäuse und weitere Tiere befallen.

    Vier Monate nach Beginn des SARS-Ausbruchs Anfang 2003 testeten Forschungsteams in Hongkong Marderhunde, Musangs und Dachse auf den Erreger. Dabei entdeckten sie enge Verwandte des SARS-Coronavirus – der erste Beleg dafür, dass die Krankheit auch bei nicht-menschlichen Tieren auftrat.

    Die Entdeckung löste eine fieberhafte Virensuche aus. Alle möglichen Tiere wurden untersucht, bis die Spur schlussendlich zu den chinesischen Hufeisennasen-Fledermäusen führte. Sie schienen die wahrscheinlichste Quelle für das SARS-Virus zu sein. Globale Untersuchungen offenbarten später, dass die Vorläufer und Verwandten des SARS-Virus seit Jahren in Fledermäusen in Asien, Afrika und Europa zirkulieren. Mittlerweile gelten Fledermäuse als ursprüngliche Quelle aller Coronaviren.

    „Über die Gensequenz des Virus kann man es zu seiner Quelle zurückverfolgen“, sagt Olival. „Im Fall von Wuhan passen die Ergebnisse am ehesten zu einem Coronavirus, das mit dem SARS-Erreger verwandt und ebenfalls in Fledermäusen vorhanden ist.“

    Untersuchungen der EcoHealth Alliance in China und andernorts in Asien haben ergeben, dass die meisten Coronaviren von Tieren über ihre Fäkalien ausgeschieden werden. Die Viren verbreiten sich nicht nur über die Luft und Atemwege, sondern auch, wenn Fäkalien in Kontakt mit dem Mundbereich kommen. Fledermäuse sind nicht gerade sauber: Wenn sie sich an eine Frucht setzen und an ihr knabbern, könnte sie mit Fäkalmaterie kontaminiert werden. Fällt sie dann auf den Boden, können die Viren von der Frucht auf andere Tiere wie Marderhunde übergehen.

    Verbreitung und Impfstoffe

    Bislang scheint es so, als würden tierische Coronaviren nur selten auf Menschen übergehen und schwere Erkrankungen auslösen. Die SARS-Epidemie war der erste dokumentierte Fall mit Coronaviren, gefolgt von MERS (Middle Eastern Respiratory Syndrome). Letzteres wurde 2012 in Saudi-Arabien durch einen ähnlichen Virus ausgelöst und breitete sich ebenfalls international aus.

    Mit der MERS-Epidemie wiederholte sich die SARS-Geschichte gewissermaßen. Auch das MERS-Coronavirus stammte von Fledermäusen und fand über andere Säugetiere – in diesem Fall Kamele – den Weg zum Menschen. Der erste belegte MERS-Fall war ein 60 Jahre alter Mann mit vier Kamelen, die auf einer Koppel neben seinem Haus schliefen.

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    Eine Studie aus dem Jahr 2014, die von Lipkins Labor und Abdulaziz Alagaili von der King Saud University durchgeführt wurde, fand Antikörper gegen MERS in Kamelblutproben bis zum Jahr 1993. Das MERS-Virus war also mehr als 20 Jahre lang im Umlauf gewesen, ohne dass es jemandem aufgefallen war.

    „Wir haben in zwei Schlachtereien in Saudi-Arabien gearbeitet, in denen Kamele geschlachtet wurden“, sagt Lipkin. „In einigen Fällen wurde das Fleisch mit Hochdruckschläuchen gereinigt, bevor es verpackt wurde. Wir fanden MERS-Coronaviren auf Fleisch, das für Supermärkte bestimmt war.“

    Saudi-Arabien importiert jedes Jahr Tausende Kamele aus afrikanischen Staaten. Ein Großteil davon dient als Nahrungsmittel, insbesondere für muslimische Pilger. Biologen fanden Spuren von MERS-Infektionen in Kamelen aus Äthiopien, Kenia, Tunesien, Ägypten, Nigeria und anderen Ländern Afrikas.

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    Im Gegensatz zu SARS, das binnen eines Jahres auftauchte und eine Epidemie auslöste, hatte sich MERS in menschlichen Gemeinden etabliert. Noch 2017 wurden Fälle in Saudi-Arabien gemeldet. Aber diese Beharrlichkeit bot auch die Möglichkeit, einen Impfstoff zu entwickeln und seine Effektivität zu testen.

    „Man könnte die Menschen impfen, die den meisten Kontakt zu Kamelen haben, beispielsweise Beduinen und die Arbeiter in Schlachtereien“, sagt Lipkin.

    Trotz weitreichender Bemühungen wurde aber nie ein MERS-Impfstoff entwickelt. Bis heute gibt es keine spezifischen Therapien zur Behandlung von SARS oder MERS.

    In Ermangelung einer medizinischen Lösung werden Strategien zur Infektionskontrolle– Händewaschen, Quarantäne und generelle Hygiene – das wichtigste Werkzeug, um SARS, MERS und das Wuhan-Coronavirus in Schach zu halten.

    Wie geht es mit dem Wuhan-Virus weiter?

    Noch lässt sich kaum vorhersagen, was wir vom Wuhan-Coronavirus erwarten können. Auf dem Epidemie-Spektrum ist SARS eher im Bereich der Worst-Case-Szenarien zu verorten, während MERS – obwohl ebenfalls tödlich – deutlich weniger dramatische Ausmaße hatte.

    Die meisten Erkrankungen, die einer Lungenentzündung ähneln, treffen ältere Menschen am härtesten. Aber SARS griff die Lungen junger und alter Menschen gleichermaßen an, wobei das Durchschnittsalter der SARS-Opfer ungefähr bei 40 Jahren lag. Im Gegensatz dazu sorgte MERS bei Menschen, die über 50 Jahren waren oder Vorerkrankungen hatten, für die schlimmsten Krankheitsverläufe.

    „Es ist unklar, ob der [Wuhan-]Virus einfach wieder verschwinden oder sich zu einer ansteckenderen Krankheit weiterentwickeln wird“, sagt Lipkin. Wir haben noch keine Hinweise auf Superverbreiter und werden die hoffentlich auch nicht bekommen. Aber wir wissen auch nicht, wie lange dieser neue Coronavirus auf Oberflächen überlebt oder wie lange Menschen nach ihrer Infektion noch ansteckend sind.“

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    Zunächst hatten die Behörden erklärt, dass alle Infektionen mit dem Wuhan-Coronavirus von Tieren ausgingen. Mittlerweile scheint klar, dass die Krankheit auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Am Montag bestätigten chinesische Behörden, dass sich 14 Arbeitnehmer aus dem Gesundheitswesen infiziert haben. Der Patient aus den USA gab an, dass er auf der Durchreise in Wuhan Halt gemacht hatte.

    Wie genau dem Coronavirus der Sprung von Tieren auf Menschen gelungen ist, wird rätselhaft bleiben, bis China mehr Details darüber veröffentlicht, welche Tiere auf dem vermeintlichen Fischmarkt noch verkauft wurden. Zum Jahreswechsel haben die Behörden den Markt geschlossen. Aufgrund der steigenden Fallzahlen ließen die Behörden am 23. Januar schließlich die gesamte Metropole abriegeln.Der mögliche Epidemiebeginn in Wuhan wirft auch die Frage auf, ob der Handel mit Wildtieren besser überwacht oder generell beendet werden sollte.

    „Eine ziemlich einfache Maßnahme besteht darin, den Wildtierhandel zurückzufahren und die Märkte in dieser Hinsicht aufzuräumen”, sagt Olival. „Das hätte gleich zwei positive Auswirkungen: Die bejagten Tierarten werden geschützt und die Übertragung von Viren wird vermindert.”

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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