Typhoid Marys Tragödie: Ein Krankheitsverbreiter auf der Flucht
Anfang des 20. Jahrhunderts kam es in New York zu zwei Typhusausbrüchen. Ein Hygienedetektiv fand schließlich die Ursache: die symptomfreie Köchin Mary Mallon.
George Soper war kein gewöhnlicher Detektiv. Eigentlich war er ein ausgebildeter Bautechniker, hatte sich aber eine gewisse Expertise in Sachen Hygiene angeeignet. Als im Jahr 1906 ein Vermieter auf Long Island, USA, verzweifelt nach der Quelle eines Typhusausbruchs suchte, wurde Soper einbestellt. Der Vermieter hatte sein Haus für den Sommer an eine Bankiersfamilie und deren Bedienstete vermietet. Bis Ende August waren sechs der elf Bewohner an Typhus erkrankt.
Soper war zuvor schon vom Bundesstaat New York angeheuert worden, um Krankheitsausbrüche zu untersuchen. „Man hat mich als Epidemie-Kämpfer bezeichnet“, schrieb er später. Er war der Ansicht, dass Typhus durch eine einzelne Person verbreitet werden konnte, die die Krankheit übertrug. Auf Long Island stand die Köchin Mary Mallon in seinem Fokus. Sie war dort drei Wochen vor dem ersten Krankheitsfall eingetroffen.
Was Soper entdeckte, wurde ein prominentes Beispiel dafür, wie ein ahnungsloser Überträger gleich mehrere Krankheitsausbrüche auslösen kann. Später entwickelte sich aus dem Fall auch eine Debatte darüber, wie viel persönliche Freiheit noch gilt, wenn sie der öffentlichen Gesundheit gegenübersteht.
Als er die Liste der wohlhabenden New Yorker durchging, für die Mallon zwischen 1900 und 1907 in ihren Sommerhäusern gekocht hatte, fand er eine Spur von 22 Infizierten. Typhus ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die sich für gewöhnlich über mit Salmonellen belastete Nahrung und Wasser verbreitet. Die Betroffenen bekommen Fieber und Durchfall – und vor der Erfindung von Antibiotika endete die Krankheit mitunter in Delirium und Tod.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es noch keine regulierten Hygienemaßnahmen gab, war die Erkrankung allgegenwärtig. Auch in New York hatte es mehrere Ausbrüche gegeben. Allein im Jahr 1906, als Soper mit seiner Ermittlung begann, wurden in New York 639 Todesfälle durch Typhus gemeldet. Aber nie zuvor war ein Ausbruch auf einen einzigen Überträger zurückgeführt worden – geschweige denn einen, der selbst keine Symptome zeigte.
Galerie: Stadtporträt - New New York
Soper fand heraus, dass Mallon sonntags oft Eiscreme mit frischen Pfirsichen servierte. Im Gegensatz zu ihren anderen Mahlzeiten, die heiß und gekocht serviert wurden, schlussfolgerte er, dass es „für eine Köchin keinen besseren Weg gibt, ihre Hände von den Mikroben zu reinigen und eine Familie zu infizieren“.
Die Jagd nach dem Überträger
Vier Monate nach Beginn seiner Ermittlungen fand Soper Mallon: Sie arbeitete in einem Stadthaus in der Park Avenue. Die 37 Jahre alte Irin wurde später beschrieben als „1,67 m groß, blond mit blauen Augen, einem gesunden Teint und einem recht entschlossenen Mund und Kiefer“. Als er sie mit seinen Beweisen konfrontierte und Urin- und Stuhlproben von ihr forderte, ging sie mit einer Tranchiergabel auf ihn los.
Dr. Sara Josephine Baker, eine aufstrebende Verfechterin von Hygiene und öffentlicher Gesundheit, wurde losgeschickt, um Mallon zur Abgabe der Proben zu bewegen. Aber auch sie wurde fortgejagt. Baker, deren Vater an Typhus gestorben war, setzte sich ihr Leben lang für die Präventivmedizin ein (und wurde die erste Frau, die einen Doktortitel in öffentlicher Gesundheit erlangte). „Marys Tragödie war, dass sie uns nicht vertrauen konnte“, schrieb Baker später.
Schlussendlich wurde Mallon von Baker und fünf Polizisten zu einem Krankenhaus eskortiert – nachdem sie beinahe geflohen war. Dort wurde sie positiv als Überträgerin des Bakteriums Salmonella typhi getestet. Weitere Tests konnten das Ergebnis später bestätigen. Sie wurde in einem kleinen Haus auf dem Gelände des Riverside Hospital unter Quarantäne gestellt. Das Gebäude befand sich auf North Brother Island, einer kleinen Insel im East River in New York.
Mallon selbst zeigte keinerlei Symptome und glaubte nicht daran, dass sie Typhus übertragen konnte. Sie verstand wahrscheinlich nie, was es bedeutet, ein sogenannter Dauerausscheider bzw. Superverbreiter zu sein. Die Ärzte erklärten ihr, dass ihre einzige Heilung darin bestünde, ihre Gallenblase entfernen zu lassen. Sie weigerte sich allerdings. Die „New York American“ betitelte sie 1909 als Typhoid Mary – ein Name, den sie nie wieder loswerden würde.
Im Juni desselben Jahres beschwerte sie sich in einem Brief an ihren Anwalt. „Ich bin hier für jeden die Peepshow. Sogar die Assistenzärzte sind vorbeigekommen, um mich zu sehen und mich nach den Fakten zu befragen, die ohnehin schon die ganze Welt kennt. Die männlichen Tuberkulosepatienten haben gesagt ‚Da ist sie, die entführte Frau‘“, schrieb sie. „Dr. Park hat in Chicago eine Illustration von mir gemacht. Ich frage mich, wie der besagte Dr. William H. Park es finden würde, wenn er so beleidigt, in der Zeitung abgedruckt und […] als Typhoid William Park bezeichnet werden würde.“
1909 verklagte sie das Gesundheitsamt von New York City und der Fall kam vor das Verfassungsgericht. In der Öffentlichkeit war eine Debatte über die Freiheit des Individuums und die Verantwortlichkeit des Staates in einer Gesundheitskrise entbrannt. Im Prozess argumentierte ihr Anwalt, dass Mallon ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren eingesperrt worden war.
Das Gericht verweigerte ihre Freilassung allerdings mit dem Argument, dass es „die Bevölkerung vor einer erneuten Ausbreitung der Krankheit schützen muss“. Im darauffolgenden Jahr ließ der neue Gesundheitskommissar der Stadt Mallon trotzdem unter der Bedingung frei, dass sie ihren Beruf als Köchin aufgibt.
Ein paar Monate lang schlug sie sich ohne sonstige Fachkenntnisse und immer noch nicht von der Gefahr ihres Zustands überzeugt durch. Dann aber nahm sie ihre alte Beschäftigung in Haushalten in New York und New Jersey wieder auf. Sie kochte für ein Hotel, ein Restaurant am Broadway, ein Spa und eine Pension. Als 1915 25 Personen bei einem Typhusausbruch im Sloane Maternity Hospital erkrankten, ermittelte wieder George Soper. Die Köchin, „Mrs. Brown“, stellte sich als Mary Mallon heraus.
Ein Leben im Exil
Mallon wurde nach North Brother Island zurückgeschickt und verließ die Insel nie wieder. Sie verbrachte ihre Tage mit dem Lesen von Büchern und bereitete im Labor medizinische Tests vor. 1938 starb sie in einem Schlaganfall, nachdem sie ein Vierteljahrhundert in Quarantäne verbracht hatte. Sie gab nie zu, dass sie ein Typhusüberträger war – und ohne die entsprechende medizinische Bildung, um diesen Umstand vollumfänglich zu begreifen, glaubte sie vielleicht auch nie daran. Zu ihrer Beerdigung in der Bronx kamen neun Gäste.
Im Laufe der zwei Ausbrüche infizierte Mallon mindestens 51 Menschen, von denen drei starben. Die tatsächliche Fallzahl war wahrscheinlich viel höher. „Die Geschichte von Typhoid Mary zeigt, wie schwierig es ist, infizierten Personen zu vermitteln, wie sie andere Menschen vor einer Infektion schützen können“, warnte Soper. Als Mary starb, hatten die Behörden ihren Umgang mit solchen Gefahren aber bereits geändert. Bis zu Marys Tod waren 400 gesunde Typhusüberträger identifiziert wurden – aber keiner davon wurde gegen seinen Willen eingesperrt.
Die Geschichte von „Typhoid Mary“ als asymptomatische Überträgerin einer Krankheit führte später zur Theorie der Superverbreiter. „Seit ‚Typhoid Marys‘ Entdeckung hat die Problematik von Überträgern infektiöser Krankheiten enorm an Bedeutung gewonnen“, sagte Soper 1913 in einer Rede. „Eine Bedeutung, die in jedem Land mit einem effektiven öffentlichen Gesundheitssystem und in jeder Armee, in der ansteckende Krankheiten eingedämmt wurden, anerkannt wird.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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