Von Aristoteles hielt er wenig, von Einstein umso mehr: Nobelpreisträger Steven Weinberg

Mit National Geographic sprach der theoretische Physiker und Autor zuletzt über die großen Wissenschaftler der Geschichte und die Frage, ob Religionen wie der Islam und das Christentum mit Forschung überhaupt zu vereinbaren sind.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 1. Sept. 2021, 12:24 MESZ
Diese Zeichnung der Bewegung der Gestirne des persischen Philosophen ibn Sīnā (Avicenna) stammt aus dem 11. ...

Diese Zeichnung der Bewegung der Gestirne des persischen Philosophen ibn Sīnā (Avicenna) stammt aus dem 11. Jahrhundert, dem Goldenen Zeitalter der Wissenschaft in der islamischen Welt.

Foto von Werner Forman, Universal Images Group, Getty

Gentechnik, Quantenphysik, Robotik – die Wunder der modernen Wissenschaft werden oft als Selbstverständlichkeit aufgefasst. Doch bis zu all den heutigen Errungenschaften war es ein langer, steiniger Weg der Experimente, Entdeckungen und Fehlschläge. In seinem Buch „To Explain the World: Discovery of Modern Science“ erzählt Steven Weinberg die inspirierende Geschichte großer Wissenschaftler und der Hindernisse, auf die sie bei ihren Forschungen stießen.

Der Physiktheoretiker, der 1979 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, verstarb im Juli 2021. National Geographic durfte 2015 im Zuge der Buchveröffentlichung ein Interview mit dem Ausnahmewissenschaftler führen: Ein Gespräch darüber, wie die wissenschaftliche Revolution in Europa den Grundstein für die moderne Wissenschaft legte, warum er während seiner Arbeit gern alte Filme sieht, wie Religion die Wissenschaft im Islam beeinflusst hat und warum die Freude der Motor der Wissenschaft ist.

Sie sagen, ihr Buch lehrt zu lernen. Das ist erst einmal etwas verwirrend.

Moderne Wissenschaftler erforschen die Natur, indem sie Versuche durchführen und Beobachtungen anstellen. Daraus gewonnene Erkenntnisse werden in Theorien zusammengeführt, aus denen Konsequenzen abgeleitet werden, die wiederum mit weiteren Beobachtungen und Versuchen abgeglichen werden, sodass die Theorien, falls nötig, angepasst werden können.

Aus einem menschheitsgeschichtlichen Blickwinkel betrachtet, ist diese Herangehensweise relativ neu. Diese Art von empirischer Methodik wurde erstmals während der wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert angewandt und ist erst im späten 18. Jahrhundert ausgereift. Frühe Wissenschaftler wie Archimedes oder Ptolemäus waren zwar oft brillant, doch sie waren nicht bemüht, ihre Erkenntnisse über die Wahrheit der Natur zu prüfen und zu belegen. Das musste erst gelernt werden – und gestaltete sich als langer, schwieriger Prozess.

„Wissenschaft existierte vor der Geschichte“. Sagen sie das, weil sie als Physiker voreingenommen sind?

Nein, wenn überhaupt blicke ich als Physiker wohlwollend auf die frühen Menschen, die weder lesen noch schreiben konnten und trotzdem in gewisser Weise Wissenschaftler waren. Sie haben Informationen über die Natur gesammelt, diese weitergegeben und Generalisierungen angestellt.

Ein offensichtliches Beispiel dafür: Feuer ist heiß. Das muss eine sehr frühe Erkenntnis gewesen sein, denn als die Menschen begannen, ihr Essen über dem Feuer zu kochen, lernten sie wahrscheinlich schnell, dass man die Hand nicht in die Flamme halten sollte. Das ist eine primitive Form der wissenschaftlichen Generalisierung, die sich aber nie zu einer allgemeinen Theorie entwickelt hat.

Ähnlich wie die altgriechischen Wissenschaftler, sahen die Menschen keine Notwendigkeit dafür, ihre Erkenntnisse zu verifizieren. Das zeigt, wie sehr sich die damalige Mentalität in dieser Hinsicht – selbst in einer hochentwickelten Kultur wie dem antiken Griechenland – von unserer heutigen unterschieden hat.

Welches war das erste dokumentierte wissenschaftliche Experiment?

Das ist eine interessante Frage, denn die Antwort hängt stark davon ab, wie man den Begriff Experiment definiert. Schon aus Zeiten Aristoteles’ sind umfassende Generalisierungen bekannt, die auf Naturbeobachtungen beruhen. Doch Aristoteles war Naturphilosoph und wäre nie auf die Idee gekommen, unter künstlich herbeigeführten Umständen ein generelles Prinzip der Natur zu erforschen. Er war ausschließlich an natürlichen Dingen interessiert, die ohne künstlichen Einfluss existierten.

Die Menschen im Hellenismus, zum Beispiel der Mathematiker Claudius Ptolemäus, führten experimentähnliche Versuche mit Licht durch. Sie untersuchten, wie Licht reflektiert und gebrochen wurde, und leiteten von ihren Beobachtungen einige generelle Prinzipien ab. Doch diese frühen Experimente führten ins Leere und nicht zu der Etablierung einer echten Versuchskultur. Diese entstand erst mit Galileo Galilei und seinen Versuchen, bei denen er Kugeln eine schiefe Ebene herunterrollen ließ.

Archimedes (ca. 287 v. Chr. bis 212 v. Chr.) war einer der größten Wissenschaftler der Geschichte. Laut Steven Weinberg war er nicht nur Mathematiker und Erfinder, sondern auch Physiker im modernen Sinne.

Foto von Stock Photo

Sie sind kein großer Fan von Aristoteles, doch auf Archimedes halten Sie große Stücke. Warum war er mehr als nur „der Mann in der Badewanne“?

Ich habe großen Respekt vor dem Ehrgeiz und der Intelligenz Aristoteles, doch seine Einstellung zur Natur hat deren Erforschung wirklich behindert. Archimedes war ein brillanter Mathematiker – Aristoteles nicht.

Zum Beispiel hat Archimedes eine primitive Form der Infinitesimalrechnung angewandt – tausende Jahre bevor Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz sie erfunden haben. Er konnte die Fläche eines Kreises berechnen – das war für die damalige Zeit eine unglaubliche Leistung, die mit den bekannten Methoden Euklids nicht zu bewerkstelligen war. Es setzte ein mathematisches Verständnis voraus, das über das damalige Wissen hinausging und das ziemlich nah an dem war, was wir heute als Integralrechnung kennen.

Er nutze außerdem mathematische Erkenntnisse, um physikalische Probleme zu lösen. Seine Aufzeichnungen über die Auftriebskraft eines Körpers lesen sich wie eine moderne wissenschaftliche Arbeit über mathematische Physik. Und er war auch praktisch veranlagt. Er erfand eine Art Schraube, mit der Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche transportiert werden konnte. Sie wurde über Jahrhunderte in der Landwirtschaft eingesetzt. Archimedes war Mathematiker, Erfinder und – auf eine fast schon moderne Art – Physiker.

Eine markante These in ihrem Buch ist, dass Religion und Wissenschaft nicht kompatibel seien. Warum?

Das habe ich so nicht gesagt. Meine Aussage ist, dass man sich nicht von der Religion abwenden muss, um Wissenschaftler zu sein. Einige sehr gute Wissenschaftler sind äußerst gläubige Menschen – das gilt heute und das war schon immer so. Galileo Galilei war sehr religiös, Issac Newton ebenso – wenn auch auf eine etwas unorthodoxe Weise.

Doch während man wissenschaftlich arbeitet, muss man dazu in der Lage sein, die Religion auszublenden. Man muss das Göttliche aus den Theorien über die Welt verbannen. Mit dem Übernatürlichen kann man alles erklären – aber für keine dieser Erklärungen gibt es Belege, denn die Ideen, die man dafür heranzieht, übersteigen den menschlichen Verstand.

Meine Überzeugung ist also, dass es egal ist, ob man gläubig ist oder nicht – ich bin es zum Beispiel offenkundig nicht – man kann in jedem Fall ein guter Wissenschaftler sein. Aber man muss seinen Glauben von der Wissenschaft trennen. Die wissenschaftliche Arbeit darf nicht durch das beeinflusst werden, was man über Gott zu wissen glaubt.

BELIEBT

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    Sie sagen, dass die heutige Politik unsere Sicht auf die Errungenschaften der islamischen Wissenschaft verkompliziert. In welcher Weise tut sie das?

    Es gibt diese Tendenz einiger muslimischer Gelehrter, die Leistung der islamischen Wissenschaft übertrieben darzustellen. Dabei ist das gar nicht nötig. Im Goldenen Zeitalter der islamischen Wissenschaft, das irgendwann zwischen 1100 und 1200 endete, waren muslimische Wissenschaftler ihren Zeitgenossen im christlichen Europa meilenweit voraus.

    Die Diskussion beginnt jedoch an der Stelle, an der über den Verfall der muslimischen Wissenschaft gesprochen wird. Ich und auch einige Gelehrte der muslimischen Zivilisation sind davon überzeugt, dass es diesen gegeben hat. Aber andere bestehen äußerst leidenschaftlich darauf, dass die islamische Wissenschaft weiterhin auf hohem Niveau fortgeführt wurde – und dem widerspreche ich. Mit wenigen Ausnahmen findet man nach 1100 keine großen Vertreter des Islams mehr in der Wissenschaftsgeschichte.

    Als die wissenschaftliche Revolution begann, tat sie das in Europa – aber nicht in der islamischen Welt. Die muslimischen Wissenschaftler bauten beispielsweise Observatorien, von denen aus sie mit sorgfältig konstruierten Instrumenten die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen äußerst genau vermessen konnten.

    Als die europäischen Astronomen Teleskope entwickelten, bauten und einsetzten, tat die muslimische Welt nichts dergleichen – weil die Observatorien nicht zu wissenschaftlichen Zwecken gebaut worden waren, sondern um religiöse Kalender zu erstellen und um die Richtung zu bestimmen, in der Mekka liegt. Das änderte sich erst in modernen Zeiten.

    Ein Mann hält eines von Sir Isaac Newtons (1643-1727) Prismen. Steven Weinberg nennt Newton einen der bedeutendsten Wissenschaftler der modernen Zeit.

    Foto von stock

    Ist der Islam also wissenschaftsfeindlich?

    Nein, das denke ich nicht. Einer meiner besten Wissenschaftlerfreunde war Abdus Salam. Er war sowohl hochrangiger Physiktheoretiker als auch gläubiger Moslem. Doch wenn es um die Wissenschaft ging, ließ er den Islam außen vor. Es gab vor ein paar Jahren einen pakistanischen Physiker, der sich dafür eingesetzt hat, dass an den Universitäten Pakistans Methoden der Physik auf die Natur im Paradies angewendet werden sollen. Nur weil man Moslem ist, muss man sich solch einem Unsinn aber nicht hingeben.

    Es gab eine Reihe von arabischen Wissenschaftlern, die der Religion gegenüber stark abgeneigt, fast schon feindlich gesinnt waren. Einer der großen Physiker des Goldenen Zeitalters der islamischen Wissenschaft, der Perser Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya al-Razi, hat einmal geschrieben, dass es der Menschheit ohne Religion besser gehen würde. Im Goldenen Zeitalter der islamischen Wissenschaft wurde keine islamische Wissenschaft betrieben – sondern einfach nur Wissenschaft.

    Einer der Helden Ihrer Geschichte ist Sir Isaac Newton. Sie sagen, dass er für den Höhepunkt der wissenschaftlichen Revolution steht, schreiben jedoch auch, er sei „ein komischer Vogel und eine seltsame Besetzung für diese historische Rolle“ gewesen. Was hat ihn so seltsam gemacht?

    Die Leute fragen mich manchmal, mit welchem der großen Wissenschaftler ich gerne mal ein Bier trinken würde. Es gibt einige, mit denen ich mich sehr gern unterhalten würde, doch Isaac Newton ist keiner von ihnen. Er hat seinem Leben absichtlich enge Grenzen gesetzt. Er tingelte zwischen seinem Geburtsort Lincolnshire, Cambridge, wo er studierte und Professor wurde, und London, wo er Präsident der Royal Society und Master of the Mint war, hin und her.

    Er verließ diese Pfade nie. Er sah nie das Meer, was eigentlich unglaublich ist, weil er ein großes Interesse an den Gezeiten hatte. Doch all sein Wissen darüber stammte aus Büchern. Von Voltaire ist überliefert, dass die Ärzte, die Newton nach seinem Tod untersuchten, festgestellt hätten, dass dieser nie eine intime körperliche Beziehung mit einer Frau gehabt hätte – obwohl nicht ganz klar ist, woran sie das festmachten.

    Man wollte ihn außerdem nicht zum Feind haben. Er hasste Robert Hooke, der ein äußerst scharfsichtiger, aktiver Wissenschaftler war. Er hatte einen Streit mit Newton über dessen Farbenlehre und Newton vergab ihm diesen nie.

    Weltberühmt ist auch sein Streit mit Leibniz darüber, wer von ihnen beiden die Infinitesimalrechnung erfunden hätte. Newton veröffentlichte anonym Berichte über das Thema, in denen er sich selbst die Erfindung zuschrieb. Dann schrieb er anonyme Rezensionen zu diesen Berichten, in denen er sich Recht gab. Er war ohne Zweifel – ebenso wie Charles Darwin und Albert Einstein – einer der bedeutendsten Wissenschaftler der modernen Zeit. Aber man musste gut aufpassen, es sich nicht mit ihm zu verscherzen.

    Albert Einstein erwähnen Sie in Ihrem Buch nur kurz, in einem Atemzug mit vielen anderen Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Sind Sie kein Fan von ihm? Oder hatten Sie einfach keinen Platz mehr?

    Man könnte sagen, ich war außer Atem. In nur einem Kapitel durchlaufe ich die gesamte Geschichte der Wissenschaft von Isaac Newton bis zum heutigen Tag. Aber es ist eigentlich nicht möglich, heutzutage Physiker zu sein und Einstein nicht zu bewundern. Natürlich bin ich ein Fan von Albert Einstein. Er war einer der größten Physiker des 20. Jahrhunderts, möglicherweise der wichtigste seit Newton – vielleicht mit Ausnahme von Charles Darwin.

    Viele verbinden das Wort Freude nicht unbedingt mit Wissenschaft. Trotzdem sagen Sie, dass Freude einer der positiven Nebeneffekte bei der Suche nach Wissen ist. Beschreiben Sie doch bitte, auf welche Weise theoretische Physik Sie erfreut.

    Theoretische Physik ist ein seltsames Feld. Ich arbeite von zu Hause, sitze an meinem Schreibtisch mit Blick auf den Lake Austin in Texas, spiele mit mathematischen Ideen – und die meisten von ihnen funktionieren nicht.

    Ab und zu jedoch stößt man auf eine neue Idee für eine Theorie – eine neue Art, auf die man Mathematik auf die reale Welt anwenden kann –, die dann auch wirklich funktioniert. Man versetzt die Grenzen des Wissens ein kleines Stück, sehr langsam und schmerzvoll, und meistens führt der Prozess ins Nirgendwo. Theoretische Physik besteht hauptsächlich aus Fehlschlägen.

    Das klingt deprimierend. Sind Sie manchmal deprimiert?

    Die theoretische Physik findet fernab von allen menschlichen Dingen statt. Sie ist davon komplett losgelöst. Darum lasse ich alte Filme auf dem Fernseher laufen, während ich mich mit dieser kalten, unpersönlichen Wissenschaft beschäftige. Auch wenn ich zu keinem Ergebnis komme, halten mich die Filme am Schreibtisch. Aber die Freude, die man fühlt, wenn man eine funktionierende Entdeckung macht, ist meiner Meinung nach das, was die Wissenschaft antreibt.

    Als Ptolemäus das Sonnensystem erforschte, sagte er, er habe das Gefühl, er trinke Nektar, den Trank der Götter. Das ist eine schöne Beschreibung dafür, wie man sich als Wissenschaftler fühlt, wenn man zu einem plausiblen Ergebnis kommt. Man kann dann sagen: „Ich habe es verstanden – so funktioniert die Welt.“ Das ist aufregend. Spannend. Die pure Freude.

    Dieses Interview wurde 2015 geführt und ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Wissenschaften

    Nicht ganz so noble Nobelpreisträger

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