Mysteriöse Turmschädel: DNA-Analysen liefern neue Hinweise

Genetische Untersuchungen der fossilen Überreste dreier Teenager aus der Zeit der Völkerwanderung könnten dabei helfen, die Rätsel um die künstlichen Schädeldeformationen zu lösen.

Von Megan Gannon
Veröffentlicht am 16. Sept. 2021, 12:41 MESZ

Der stark verformte Schädel eines Jungen im Teenageralter. Er hatte ostasiatische Wurzeln und starb vor ungefähr 1.500 Jahren im heutigen Kroatien. Die sogenannten Turmschädel entstanden, indem kleinen Kindern im Wachstum der Kopf abgebunden wurde. Sie waren möglicherweise ein Erkennungszeichen für eine spezifische kulturelle oder soziale Herkunft.

Foto von M. Cavka, University Hospital Dubrava, Zagreb

Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs begann die Zeit der Völkerwanderungen: In den Jahren 300 bis 700 kämpften sogenannte Barbaren, darunter die Goten und die Hunnen, um die Vorherrschaft in den Territorien Europas. Schädelmodifikationen könnten dabei die Funktion extremer Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe gehabt haben. Mithilfe von DNA-Analysen können Archäologen diese Theorie nun möglicherweise überprüfen und die kulturellen Allianzen dieser Zeit genauer herausarbeiten.

Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen die fossilen Überreste dreier Jungen im Teenageralter, die in einem Grab an der Ausgrabungsstätte Hermanov vinograd im Osten Kroatiens gefunden wurden. Sie starben irgendwann zwischen 415 und 560 n. Chr., die Schädel von zwei der Jungen weisen künstliche Deformationen auf.

Dieser längliche Schädel gehörte einem Teenager, der vermutlich aus dem Nahen Osten stammte.

Foto von M. Cavka, University Hospital Dubrava, Zagreb

In einer Hinsicht waren die Ergebnisse der DNA-Analyse, die in einer Studie in der Zeitschrift „PLOS ONE“ veröffentlich wurden, besonders überraschend: Die drei Jungen, die gemeinsam begraben wurden, waren genetisch von komplett unterschiedlicher Abstammung. Die Wurzeln des Jungen, dessen Schädel keine Deformationen aufwies, lagen im westlichen Eurasien. Der, dessen Schädel verlängert, aber noch rund war, stammte aus dem Nahen Osten. Der dritte Leichnam hatte einen extrem verlängerten Schädel und war vermutlich ostasiatischer Herkunft.

„Die Ergebnisse der DNA-Analyse haben uns ziemlich überrascht“, sagt Mario Novak, leitender Autor der Studie vom Institut für Anthropologische Forschung in Zagreb, Kroatien. „Sie belegen, dass damals Angehörige verschiedener Völker in diesem Teil Europas gelebt und intensiven Kontakt miteinander gepflegt haben. Die Schädelmodifikationen könnten ein Erkennungsmerkmal für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe gewesen sein.“

Für die vorliegende spezielle Schädeldeformation, den sogenannten Turmschädel, muss einem Kind bereits in sehr jungem Alter der Kopf abgebunden werden. Hinweise auf diese Form der Körpermodifikation finden sich spätestens seit der Jungsteinzeit in verschiedenen Kulturen überall auf der Welt. In Europa scheint sich der Turmschädel insbesondere im 2. und 3. Jahrhundert rund um das Schwarze Meer etabliert zu haben. Laut Susanne Hakenbeck, Archäologin und Expertin für Schädelmodifikationen an der University of Cambridge in England, erreichte die Praxis im 5. und 6. Jahrhundert ihren Höhepunkt, bevor sie mit dem Ende des 7. Jahrhunderts wieder verschwand.

Mario Novak zufolge wurden auch abseits von Hermanov vinograd an anderen Stellen Kroatiens Turmschädel gefunden. Ungefähr ein Dutzend sollen es sein, doch die Studien zu diesen Funden wurden noch nicht veröffentlich.

Deformierte Schädel: Erfindung der Hunnen?

Die Urheber der aktuellen Studie deuten ihre Erkenntnisse als Beleg für die schon lange bestehende Theorie, dass die Hunnen – ein Bündnis reitender Nomaden, die vermutlich aus Ostasien stammten – die Tradition der Turmschädel nach Mitteleuropa gebracht haben.

Eine Luftaufnahme des Fundorts bei Hermanov vinograd in der Nähe von Osijek im Osten Kroatiens.

Foto von B. Rozankovic, Kaducej Ltd.

„Diese DNA-Analyse ist der erste physische und biologische Beweis für die Anwesenheit von Angehörigen Ostasiatischer Volksgruppen – vermutlich Hunnen – in diesem Teil Europas“, sagt Mario Novak.

Woher genau die Hunnen kamen, bleibt jedoch weiterhin eine Streitfrage unter Archäologen. Manche Forscher sind der Meinung, dass sie nicht aus Ostasien stammen, sondern aus einer Region nördlich des Schwarzen Meeres.

Das Grab bei Hermanov vinograd mit Tierknochen zu Beginn der Ausgrabungsarbeiten (rechts) und gegen Ende der Ausgrabungen (links) mit freigelegten menschlichen Überresten.

Foto von M. Cavka, University Hospital Dubrava, Zagreb

Allerdings reichen die Ergebnisse einer Genanalyse nicht aus, um zu bestimmen, ob ein Individuum – in diesem Fall der Junge mit dem extrem verlängerten Schädel – zur damaligen Zeit tatsächlich einer spezifischen Volksgruppe angehörte. Das räumt auch Mario Novak ein. „Natürlich weiß ich, dass man auf Basis alter DNA nicht sicher feststellen kann, ob jemand Ostgote oder Hunne war“, sagt er. „Das war schließlich auch davon abhängig, als was sich diese Menschen identifiziert haben. Ein äußerst subjektiver Aspekt“ – der ohne schriftliche Überlieferungen, die die Hunnen nicht hinterlassen haben, kaum zu verifizieren ist.

Basierend auf ihren Erkenntnissen über Fossilfunde von Turmschädeln in Europa und Eurasien ist Susanne Hakenbeck nicht davon überzeugt, dass das Vorkommen derartiger Schädelmodifikation zwangsläufig in Zusammenhang mit den Hunnen steht. „Wahrscheinlich ist diese Traditionen über die Eurasische Steppe nach Europa gelangt – über Verbindungen, die historisch nicht unbedingt belegt sind“, sagt sie. „Ich schließe nicht aus, dass die Hunnen ihren Teil zu der Verbreitung beigetragen haben, aber sie waren sicher nicht die Einzigen.“

Kaum Wissen über die Zeit der Völkerwanderung

Wie es dazu kam, dass die drei Teenager gemeinsam in einem Grab beerdigt wurden, ist genauso wenig geklärt wie ihre Todesursache. Hermanov vinograd ist eine große, jungsteinzeitliche Siedlungsstätte, es ist aber keine Siedlung aus der Zeit der Völkerwanderungen in diesem Gebiet bekannt. Der Bestattungsort scheint nicht Teil eines größeren Friedhofs gewesen zu sein. Mario Novak vermutet, dass der Begräbnisplatz von einer nomadisch lebenden Gruppe ausgewählt wurde, deren eigentliche Heimat woanders war. Vor ihrem Tod haben die Jungen sich auf dieselbe Weise ernährt, was darauf hindeutet, dass sie zusammen am selben Ort gelebt haben. In dem Grab fanden sich neben ihren fossilen Überresten auch Knochen von Pferden und Schweinen. Die Skelette der Teenager weisen keine Spuren eines gewaltsamen Todes auf, weshalb die Forscher davon ausgehen, dass sie entweder in einem Ritual geopfert wurden oder an der Pest oder einer anderen Krankheit mit schnellem tödlichen Verlauf gestorben sind.

Gesicht einer alten Königin erstmals enthüllt
Fast 1.200 Jahre nach ihrem Tod rekonstruierten Wissenschaftler das Gesicht einer peruanischen Königin. Die 2002 entdeckte Frau war in einem Grab bestattet worden, in dem noch 57 weitere adelige Frauen lagen. Mit Hilfe eines 3D-Drucks ihres Schädels wurden ihre Gesichtszüge von Hand nachgebaut.

„Man darf nicht vergessen, dass die vorliegenden Hinweise eher dürftig sind. Es gibt nur dieses eine Grab und wir haben nicht viele Informationen darüber“, sagt Krishna Veeramah, Genetiker an der Stony Brook University in New York, der an der Studie nicht mitgearbeitet hat. „Trotzdem macht der Aspekt der unterschiedlichen genetischen Wurzeln der Jungen diesen Fund sehr interessant.”

Im Jahr 2018 veröffentlichten Krishna Veeramah und seine Kollegen eine Studie, die sich mit den fossilen Überresten von Frauen mit Turmschädeln beschäftigte. Sie waren in einem Grab in Süddeutschland aus der Zeit der Völkerwanderung gefunden worden. Und auch sie hatten unterschiedliche genetische Wurzeln wie die Teenager in Kroatien – und möglicherweise auch ostasiatischen Hintergrund. Eine Erklärung dafür, wie die Turmschädelfrauen aus dem Osten nach Mitteleuropa kamen, ist, dass sie in den Westen verheiratet wurden. Laut Susanne Hakenbeck finden sich die deformierten Schädel in Europa und dem westlichen Eurasien in einem Verhältnis von zwei zu eins mehrheitlich an Frauen.

Mario Novak zufolge könnten weitere Fossilienfunde den Wissenschaftlern dabei helfen, genauer zu klären, aus welchen Regionen der Welt die Volksgruppen stammten, die die Praxis der Schädeldeformation gepflegt haben, und ob es sich dabei tatsächlich um ein visuelles Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Gruppe gehandelt hat.

Doch die Untersuchungen der DNA von Individuen mit Turmschädeln sind rar. Laut Ron Pinhasi von der Universität in Wien und Autor der Hermanov vinograd-Studie, ist die Völkerwanderungszeit in der Fülle von Studien zu fossiler DNA aus den letzten zwei Jahrzehnten eher unterrepräsentiert. 

„Bezieht man sich nur auf genetische Daten, wissen wir viel mehr über das Europa vor 5.000 Jahren als über die Dinge, die hier vor 1.500 Jahren passiert sind“, sagt er. Doch er rechnet mit einem Wandel und damit, dass mehr DNA-Proben aus den vergangenen 2.000 Jahren Gegenstand der Forschungen werden.

„Ich gehe davon aus, dass wir auf noch viel mehr überraschende Geschichten stoßen werden“, sagt er. „Indem wir immer mehr Puzzleteile finden und zusammensetzten, könnte sich ein völlig neues Bild dieser Zeit ergeben.“

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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