Weitergabe über 500 Generationen: Das älteste Ritual der Welt

Artefakte, die in einer Kalksteinhöhle in Australien gefunden wurden, zeigen: Die Ureinwohner des Landes haben bereits vor 12.000 Jahren ein besonderes Ritual ausgeübt, das bis ins 19. Jahrhundert bekannt war.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 12. Juli 2024, 15:49 MESZ
Sepia-Aufnahme des Äußeren einer Höhle.

Das Äußere der Cloggs Cave im späten 19. Jahrhundert. Hier wurde das Ritual vor etwas mehr als 12.000 Jahren abgehalten.

Foto von State Library of Victoria

Aboriginal People, wie die Ureinwohner Australiens genannt werden, bewohnen Australien nach neuesten Untersuchungen vermutlich bereits seit etwa 60.000 Jahren. In dieser Zeit etablierten sich in den einzelnen Stämmen unzählige Rituale und Praktiken, die von den Ureinwohner*innen selbst allerdings nie aufgeschrieben wurden. Keine ihrer hunderten Sprachen und Dialekte hatte je ein Schriftsystem.

Einer dieser Aboriginal Stämme sind die Gunaikurnai, denen heute noch etwa 3.000 Menschen angehören. Sie bewohnen die Region rund um die Cloggs Cave, einer Kalksteinhöhle im australischen Bundesstaat Victoria. Vor wenigen Jahren wurden in dieser Höhle zwei außergewöhnliche Feuerstellen mit zwei auffälligen, zugespitzten Stöcken entdeckt. Eine aktuelle Untersuchung zeigt: Der Fund beweist die lange Existenz eines Rituals der Gunaikurnai, das mehr als 11.000 Jahre lang von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Es ist damit das älteste Ritual der Welt. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Das älteste Ritual der ältestesten Zivilisation der Welt

Gefunden wurden die Feuerstellen und Stöcke bereits bei Ausgrabungen im Jahr 2020. An der genauen Untersuchung der Artefakte waren Archäolog*innen der Gunaikurnai Land and Waters Aboriginal Corporation gemeinsam mit Forschenden der Monash University in Melbourne beteiligt. Sie fanden heraus, dass die beiden Stöcke aus Kasuarinen-Holz bestehen und an ihrem Ende Überreste von tierischem oder menschlichem Fett kleben. 

Die jüngere der beiden Feuerstellen an ihrem Fundort.

Foto von Bruno David, GunaiKurnai Land and Waters Aboriginal Corporation

Dass es sich bei den Feuerstellen aber nicht um zwei ehemalige Kochstellen handelt, zeigen zunächst die zurechtgestutzten Stöcke, die von kleinen Zweigen befreit wurden, und die Tatsache, dass die Feuerstellen extrem klein waren. Zusätzlich sind die Feuerstellen unterschiedlich alt: Eine von ihnen wurde vor etwa 12.000 und die andere vor 11.000 Jahren genutzt.

Der Nachweis, dass es sich um eine ehemalige Ritualstätte handelt, lieferte schließlich eine Aufzeichnung des britischen Anthropologen Alfred Howitt aus dem Jahr 1887. Er beschreibt darin einen Zauber, den die Ureinwohner*innen durchführten, um Feinden zu schaden. Dazu befestigte ein Medizinmann oder eine Medizinfrau – ein sogenannter mulla-mullung – ein Stück Kleidung oder ein Haar des Opfers an einem angespitzten Wurfstock. „Dieser wurde dann vor einem Feuer schräg in den Boden gesteckt und so platziert, dass er nach und nach herunterfällt“, heißt es in Howitts Aufzeichnungen. Während des Falles wurde ein Spruch aufgesagt – bis der Stock vollends auf dem Boden lag und das Ritual abgeschlossen war. Die Beschreibung passt laut den Forschenden klar zu dem Fund aus der Cloggs Cave.

BELIEBT

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    Verlorene Rituale und Aufarbeitung der Vergangenheit

    Verloren gegangen ist das Ritual vermutlich nur kurze Zeit später, als die Angehörigen der Gunaikurnai in christliche Missionsstationen verdrängt wurden. Dieser Prozess begann bereits in den 1850er Jahren, zuvor hatten die Europäer die Population der Ureinwohner*innen aber bereits deutlich dezimiert. Wohl deshalb wird das Ritual, das zuvor über 500 Generationen weitergegeben wurde, heute nicht mehr praktiziert.

    Umso wichtiger ist den Forschenden der Gunaikurnai Land and Waters Aboriginal Corporation und den Ältesten der Gunaikurnai das Aufarbeiten der Geschichte des Stammes. „[Der Fund] erinnert uns daran, dass wir eine lebendige Kultur sind, die noch immer mit unserer alten Vergangenheit verbunden ist“, sagt Uncle Russell Mullett, einer der Ältesten der Gunaikurnai. „Es ist eine einzigartige Gelegenheit, die Memoiren unserer Vorfahren zu lesen und sie mit unserer Gemeinschaft zu teilen.“

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