Neue Orang-Utan-Art ist seltenster Menschenaffe der Welt
Die knapp 800 Menschenaffen in den Bergen Sumatras bilden einer neuen Studie zufolge eine eigene Art.
Am 20. November 2013 erhielt das Orang-Utan-Artenschutzprogramm auf Sumatra einen Anruf wegen eines verletzten Orang-Utans in der Bergregion Tapanuli.
„Er hatte Schnitte in seinem Gesicht, an seinem Kopf, Rücken, seinen Händen und Beinen“, erinnert sich der Forscher Matt Nowak. „Man hat sogar Rundkugeln aus Luftgewehren in seinem Körper gefunden“, was auf Folter und Quälerei durch Menschen hindeutet. Trotz der tierärztlichen Behandlung verstarb der Orang-Utan namens Raya acht Tage später.
Aber Raya lebt als repräsentatives Mitglied einer neuen Orang-Utan-Art weiter: Pongo tapanuliensis, die seltenste Menschenaffenart der Welt.
Die neu identifizierte Tierart wurde nur in einem einzigen Hochwald namens Batang Toru gefunden. Die dortige Population gab dem Genetiker Michael Krützen von der Universität schon seit Langem Rätsel auf. Er studiert der Menschenaffen seit mehr als zehn Jahren.
Das liegt daran, dass die Tiere aus Batang Toru enger mit denen auf Borneo auf der anderen Seite des Meeres verwandt sind als mit den Orang-Utans auf ihrer eigenen Insel. Bisher gab es zwei wissenschaftlich anerkannte Orang-Utan-Arten: Den Sumatra-Orang-Utan und den Borneo-Orang-Utan, die beide vom Aussterben bedroht sind.
„Man hat immer angenommen [...], dass diese Tiere zur Art Pongo abelii gehören, den Sumatra-Orang-Utans“, sagt er.
VON EISZEITEN UND VULKANEN
Schließlich schlossen sich die Wissenschaftler zusammen. Krützens Gruppe sequenzierte die Genome von 37 wilden Orang-Utans auf Sumatra und Borneo.
Das Ergebnis, das am 2. November in „Current Biology“ veröffentlicht wurde, zeigt, dass Borneo-Orang-Utans, Sumatra-Orang-Utans und die neue Art aus Batang Toru drei unterschiedliche evolutionäre Abstammungslinien bilden. Zu ihrer Überraschung gehört die älteste Linie der neuen Art.
Die genetischen Ergebnisse lassen vermuten, dass sich die Orang-Utans vor mehreren Millionen Jahren vom südasiatischen Festland auf das heutige Sumatra begaben und dort ein Gebiet südlich der Caldera des Toba bewohnten. Nur etwa 3,3 Millionen Jahren spaltete sich eine Gruppe von ihnen ab und kolonisierte das Gebiet nördlich des Toba.
Dann, vor etwa 600.000 Jahren, gab es eine zweite Abspaltung, wieder von der ursprünglichen Gruppe südlich des Toba. Die neue Gruppe von Orang-Utans besiedelte Borneo. Als die Eiszeit voranschritt und den Meeresspiegel beeinflusste, konnten sich die Orang-Utans mühelos zwischen den Landmassen hin und her bewegen. Das erklärt auch, warum der Tapanuli-Orang-Utan näher mit den Borneo-Orang-Utans verwandt ist.
Vor etwa 75.000 Jahren brach der Toba aus. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Daten aus den Genomen auch auf einen Populationszusammenbruch vor etwa 75.000 Jahren schließen lassen. Da die Lava den umliegenden Regenwald zerstörte, wurden die Orang-Utans zu beiden Seiten des Vulkans dauerhaft voneinander getrennt.
ORANG-UTANS IN GEFAHR
Der Student James Askew von der Universität von Südkalifornien fand zudem heraus, dass sich die Rufe der Orang-Utan-Männchen aus Batang Toru von denen der anderen Affen auf Sumatra und Borneo unterscheiden. Sumatra-Orang-Utans geben lange, tiefe Rufe von sich, während die Borneo-Männchen kürzere, hohe Rufe haben. Die Rufe der männlichen Tapanuli-Orang-Utans waren eine Mischung daraus: lang, aber hoch.
„Es ist erstaunlich, dass die tiefgehende genetische Spaltung zwischen den heute lebenden Orang-Utans bis jetzt übersehen wurde“, sagt Kris Helgen, ein Mammaloge von der Universität von Adelaide in Australien.
„Die Unterschiede bei den Schädelmaßen sind wirklich auffällig und stärken die Argumente dafür, eine neue Art anzuerkennen – selbst auf Basis eines einzigen Skeletts, sagt Helgen, der an der neuen Studie nicht beteiligt war.
Helgen mahnt jedoch, dass die neue Studie nur ein Ausgangspunkt ist. Es sei entscheidend, wenn möglich weitere Exemplare des Tapanuli-Orang-Utans für Studienzwecke zu sammeln.
Das ist besonders deshalb wichtig, weil es weniger als 800 verbleibende Exemplare dieser Menschenaffen in Batang Toru gibt, die sich auf drei fragmentierte Gebiete verteilen.
„Viele übersehene Arten wie Pongo tapanuliensis sind stark gefährdet“, sagt Helgen. „Es ist dringend notwendig und entscheidend, sie korrekt zu dokumentieren und ihnen wissenschaftliche Namen zu geben. So können sie als eigenständige Arten anerkannt, genauer untersucht und vor dem Aussterben bewahrt werden.“