Vegetarische Serienmörder: Präriehunde töten ihre Konkurrenz

Die Nagetiere haben es vor allem auf die Jungen von Wyoming-Zieseln abgesehen – mit einer bislang einzigartigen Besonderheit.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 6. Dez. 2019, 16:37 MEZ
Ein Weißschwanz-Präriehund (Cynomys leucurus) hält einen jungen Wyoming-Ziesel (Urocitellus elegans) im Maul, den er gerade getötet ...
Ein Weißschwanz-Präriehund (Cynomys leucurus) hält einen jungen Wyoming-Ziesel (Urocitellus elegans) im Maul, den er gerade getötet hat.
Foto von John Hoogland

In der kargsten Region des amerikanischen Westens vergießen pelzige Schurken mit Knopfäuglein unschuldiges Blut.

Weißschwanz-Präriehunde – soziale Nagetiere, die in Colorado, Wyoming, Utah und Montana heimisch sind – beißen und schlagen Wyoming-Ziesel zu Tode und lassen ihre blutigen Kadaver verrotten, wie eine Studie darlegt.

Der Nachwuchs der mörderischen Präriehunde führt dafür ein längeres und gesünderes Leben – vermutlich, weil seine Eltern die Konkurrenz um Nahrungsressourcen aus dem Weg geräumt haben.

Es ist das erste Mal, dass ein pflanzenfressendes Säugetier dabei beobachtet wurde, Konkurrenten umzubringen, ohne sie zu fressen. Das lässt vermuten, dass eine pflanzliche Ernährungsweise Säugetiere nicht zwingend daran hindert, tödliche Kämpfe auszufechten.

„In meinen 43 Jahren Forschung ist das vielleicht die provokanteste, verblüffendste und weitreichendste Entdeckung, die ich je gemacht habe“, sagt der Co-Autor der Studie John Hoogland. Er arbeitet am Zentrum für Umweltwissenschaften der University of Maryland.

„Die Ergebnisse sind einfach überwältigend.“

Mordende Nager im Niemandsland

Wie viele Kriminalgeschichten begann Hooglands Studie mit einer Leiche, die in einer verlassenen Landschaft hinterlassen wurde: in der Prärie des Arapaho National Wildlife Refuge in Colorado. Dort erforschten Hoogland und seine Studenten von 2003 bis 2012 das Verhalten der Präriehunde geradezu obsessiv.

„Vier Monate pro Jahr lebten wir wie Präriehunde“, sagt Hoogland, der von National Geographic gefördert wurde. „Früh am Morgen, bevor die ersten Präriehunde aufwachen, gehen wir zur Kolonie. Da sitzen wir dann den ganzen Tag in Türmen, beobachten sie und bleiben, bis zu Sonnenuntergang der letzte Präriehund wieder im Bau verschwindet.“

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    Während der Feldforschungssaison 2017 entdeckte Hoogland einen Weißschwanz-Präriehund, der ein junges Nagetier durch die Gegend schleuderte. Zunächst vermutete er, es wäre der Nachwuchs eines anderen Präriehundes, was keineswegs überraschend wäre. Infantizid ist unter Präriehundarten weit verbreitet, auch wenn er noch nie bei Weißschwanz-Präriehunden beobachtet wurde.

    Aber als Hoogland das Opfer untersuchte, stellte er fest, dass es sich um einen Wyoming-Ziesel handelte. Die Art frisst dieselben Gräser und Kaktusfeigen wie die Präriehunde.

    „Ich habe direkt mein Walkie-Talkie rausgeholt und meinen Studenten gesagt: Wir müssen beobachten, ob es noch mehr [tödliche Angriffe] gibt!“, erzählt er.

    Blutige Überlebensstrategie

    In den folgenden fünf Jahren erstellten Hoogland und seine Studenten Dossiers zu 101 Zieselmorden und 62 Verdachtsfällen. Die meisten Tötungen fanden im Mai statt, wenn die jungen Ziesel gerade aus ihren Nestern kletterten und sich auf Nahrungssuche machten.

    Die Forscher identifizierten 47 Präriehunde, die Konkurrenten töteten. Allesamt waren ausgewachsene Tiere, sowohl Männchen als auch Weibchen.

    Ein Präriehund, dem die Forscher den Spitznamen Killer Supreme verpasst hatten, tötete in einem Zeitraum von vier Jahren neun Ziesel. Ein anderer biss und schlug an einem einzigen Tag sieben junge Ziesel zu Tode.

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    Ein Vergleich der Überlebensrate des Nachwuchses beider Arten offenbarte womöglich den versteckten Sinn hinter den Taten: Die Nachkommen der mordenden Präriehunde hatten bessere Überlebenschancen als die der Ziesel – vermutlich, weil sie mehr zu essen hatten.

    Besonders überraschend: Der Hang der Präriehunde zum Morden war der einzige Faktor, der sich auf den Erfolg des Nachwuchses auswirkte. 

    „Der Zustand des Weibchens, ihre Lebensdauer – Faktoren, die den Erfolg normalerweise beeinflussen – schienen in diesem Fall alle keine Wirkung zu haben“, sagt der Co-Autor Charles Brown von der University of Tulsa.

    „Auf mich wirkt es so, als sei es einfach ein Riesenvorteil, die Ziesel zu töten.“

    Unappetitliches Ableben

    Die Studie erschien in „Proceedings of the Royal Society B“ und liefert einen unerwarteten neuen Einblick in die interspezifische Konkurrenz – den Kampf verschiedener Arten um dieselben Ressourcen, beispielsweise Nahrung.

    Es ist nicht ungewöhnlich, dass aus dieser Konkurrenz auch Aggression erwächst – oder sogar Tod. Manche Tiere fressen Konkurrenten, die sich auf derselben Ebene der Nahrungskette befinden wie sie selbst.

    Was bei den Weißschwanz-Präriehunden daher ungewöhnlich ist, ist der Umstand, dass sie ihre Opfer nicht verzehren.

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    Hoogland erzählt, dass sie gelegentlich am Brustkorb der Ziesel oder an ihren Gehirnen knabbern – allerdings nur, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich tot sind. Dann überlassen die Präriehunde die Kadaver ihrer Opfer den Aasvögeln, die in der Nähe lauern.

    „Sie töten um des Tötens willen – und nicht, weil sie daraus einen ernährungsspezifischen Nutzen ziehen“, sagt John Orrock von der University of Madison-Wisconsin.

    Rätselhaftes Motiv

    Obwohl die Forscher die Präriehunde auf frischer Tat ertappt haben, bleiben ihre Motive völlig unklar.

    Die Forschungsergebnisse zeigen, dass der Nachwuchs der mordenden Präriehunde länger lebt.

    Künftige Studien werden aber eine weitere Möglichkeit ausschließen müssen: dass die Präriehunde, die Ziesel töten, einfach in Bereichen leben, in denen mehr Vegetation wächst. Diese würde wiederum mehr Ziesel anlocken, was zu vermehrten Konflikten um Nahrung führt, so die Studienautoren.

    Unabhängig von der zugrundeliegenden Motivation deuten die Ergebnisse aber darauf hin, dass die Konkurrenz unter den Pflanzenfressern der Prärie in vielen Fällen ein blutiges Ende nimmt.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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