Streuner verstehen menschliche Gesten instinktiv

Eine neue Studie könnte für ein friedlicheres Miteinander zwischen Menschen und streunenden Hunden sorgen – von denen es weltweit mehrere Hundert Millionen gibt.

Von Liz Langley
Veröffentlicht am 24. Jan. 2020, 15:16 MEZ
Streuner
Ein Streuner ruht sich im Chapada Diamantina Nationalpark in Brasilien aus. Weltweit gibt es bis zu 300 Millionen herrenlose Hunde.
Foto von Alex Saberi, Nat Geo Image Collection

Vor über 15.000 Jahren wurden die ersten Hunde domestiziert. Seitdem setzt die Menschheit alles daran, aus ihnen einen treuen Begleiter für jede Lebenslage zu machen – was den Tieren die Fähigkeit verschafft hat, unsere Emotionen zuverlässig zu interpretieren.

Nun kam eine neue Studie zu dem Schluss, dass selbst herrenlose Hunde – Tiere, die nie mit Menschen zusammengelebt hatten – unsere Gesten und Mimik verstehen.

Weltweit gibt es bis zu 300 Millionen Streuner, davon allein 30 Millionen in Indien. Diese freilaufenden Hunde geraten oft in Konflikte mit dem Menschen und insbesondere in Indien stellen sie als Überträger der Tollwut ein nicht zu unterschätzendes Gesundheitsrisiko für die Öffentlichkeit dar. Das tödliche Virus tötet laut der Weltgesundheitsorganisation in Indien jedes Jahr bis zu 20.000 Menschen, zumeist Kinder.

Der Umgang mit diesen Hunden ist ein überaus polarisierendes Thema. Einige Leute töten die Tiere auf zum Teil grausame Weise, sagt Anindita Bhadra, die als Tierverhaltensforscherin am Indian Institute of Science Education and Research in Kolkata arbeitet. Streuner könnten sich nie sicher sein, ob die Menschen sie füttern, streicheln oder ihnen Schaden zufügen wollen.

Galerie: Willkommen im Land der tausend Streuner

Deswegen ist mehr Wissen über verwilderte Hunde und ihr Verhalten so essenziell für die Lösung dieses Problems, sagt Bhadra, die seit zehn Jahren das Verhalten dieser Tiere erforscht.

Bei ihren neuesten Versuchen stellte sie fest, dass die meisten Streuner wussten, wohin sie schauen mussten, wenn ein Mensch auf ein Objekt zeigte. Das lässt darauf schließen, dass ihnen die Fähigkeit, die Gesten und Mimik von Menschen zu lesen, angeboren ist.

Die Ergebnisse der Studie könnten dabei helfen, Erwachsenen und Kindern – die oft gebissen und dabei mit Tollwut infiziert werden, wenn sie streunende Hund füttern – zu vermitteln, wie sie mit den Tieren besser interagieren können. Damit käme man einer „friedlicheren Koexistenz“ ein gutes Stück näher, sagt die Forscherin.

Auf den Punkt gebracht

Im Rahmen der Studie, die am 17. Januar 2020 im Wissenschaftsmagazin „Frontiers in Psychology“ veröffentlich wurde, untersuchten Bhadra und ihre Kollegen das Verhalten von 160 Streunern in verschiedenen indischen Städten. Dafür stellte ein Mitarbeiter zwei abgedeckte Schüsseln in der Nähe des Tieres auf dem Boden ab. In einer befand sich rohes Hähnchenfleisch, die andere war leer und lediglich mit dem Duft nach Futter präpariert.
Ein zweiter Mitarbeiter, der nicht wusste, in welcher Schüssel sich was befand, stellte sich anschließend daneben und deutete auf eine von ihnen. Das Experiment wurde mit unterschiedlich langen Fingerzeigen durchgeführt, von einigen Sekunden bis hin zur kompletten Dauer des Versuchs. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die Hände des zweiten Mitarbeiters nie in die Nähe der Schüsseln kamen.

19 Gesten, über die Hunde mit uns sprechen
Genau wie menschliche Babys nutzen auch Hunde nonverbale Kommunikation, um zu bekommen, was sie wollen.

Etwa die Hälfte der Hunde traute sich in die Nähe der Mitarbeiter. Viele von ihnen wirkten nervös, was darauf schließen lässt, dass sie bereits schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hatten, erklärt Bhadra.

Von diesen Hunden gingen etwa 80% direkt zu der Schüssel, auf die der zweite Mitarbeiter zeigte, was bedeutet, dass sie seine Geste verstanden. Wenn die Hunde die Schüssel dann leer vorfanden, waren sie anschließend weniger bereit, einem erneuten Fingerzeig zu folgen.

Bei früheren Studien hatten sich die Mitarbeiter deutlich näher an den Schüsseln aufgehalten. Wenn sie sich jedoch weiter davon entfernt positionieren, gibt das den Hunden die Möglichkeit, „die Absichten des Menschen zu deuten und dann eine Entscheidung zu fällen“, meint Bhadra. Außerdem können die Tiere dann neue Informationen besser verarbeiten, die daraus resultieren, ob das Befolgen des Hinweises eine Belohnung nach sich zieht oder nicht.

Alles in allem kommt die Studie zu dem Schluss, dass auch herrenlose Hunde, die wahrscheinlich traumatische Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, deren Verhalten sehr wohl interpretieren können.

„Das untermauert die Theorie, dass streunende Hunde genauso gut wie jeder andere Hund darin sind, einfache menschliche Gesten zu deuten und dass die Streuner wirklich so klug sind, wie man ihnen oft unterstellt“, teilt Brian Hare, Gründer des Duke Canine Cognition Center der Duke University, in einer Email mit.

Mehr Verständnis für Streuner

Herrenlose Hunde sind kein Phänomen der Neuzeit. Schon in den Veden, einer indischen Schriftensammlung uralter, religiöser Texte, steht geschrieben, dass ein guter Haushalt sich auch dadurch auszeichnet, dass er unter anderem herrenlosen Hunden Essensreste überlässt.

Verwilderte Hunde führen ein ungleich härteres Leben als unsere Haustiere, doch sie sind ebenso gut an uns angepasst, sagt Bhadra. Sie durchlebten die Industrielle Revolution mit uns und wissen, was eine Autobahn ist.

Diese Anpassungsfähigkeit zusammen mit ihrer Fähigkeit, menschliches Verhalten zu deuten, macht sie unseren Haushunden sehr ähnlich, fügt Hare hinzu. „Und sie verdienen ebenso unseren Respekt.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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