Störche kehren nach 600 Jahren nach Großbritannien zurück

Ein renaturierter Schlosspark erklärt, wie er zum Vogelparadies wurde. Trotz der Freude über die Rückkehr der Störche gibt es allerdings auch Kritiker an dem Konzept.

Von Isabella Tree
Veröffentlicht am 31. Juli 2020, 16:05 MESZ
Ein Weißstorchweibchen begrüßt seinen Partner, der Nistmaterial auf die Kroner einer Eiche auf dem Landgut Knepp ...

Ein Weißstorchweibchen begrüßt seinen Partner, der Nistmaterial auf die Kroner einer Eiche auf dem Landgut Knepp in Südostengland bringt. In diesem Jahr waren die Weißstörche von Knepp die ersten ihrer Art seit 1414, die wieder in Großbritannien brüten.

Foto von Nick Upton

KNEPP ESTATE, ENGLAND Hoch in einer Eiche in der Grafschaft West Sussex, im Südosten Englands, brütete ein Paar Weißstörche drei Küken aus. Es war der 6. Mai 2020, ein bahnbrechender Moment: 604 Jahre war es her, seit zuletzt brütende Weißstörche in Großbritannien dokumentiert worden waren. Zwei Wochen, nachdem diese ersten Küken auf dem Knepp Estate das Licht der Welt erblickt hatten, schlüpften drei weitere Küken im Nest eines anderen Storchenpaars in einer nahegelegenen Eiche.

„Diese Leistung ist mehr als aufregend. Wir haben von diesem Moment geträumt, und jetzt haben die Störche es geschafft – wir haben wieder britische Küken“, sagt Tim Mackrill, ein Experte für die Wiederansiedlung der Tiere vom White Stork Project. Das 2016 gestartete Projekt zielt darauf ab, bis 2030 50 brütende Weißstorchpaare im Süden Großbritanniens anzusiedeln.

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Diese Graudrosslinge unternehmen fast alles gemeinsam – aber eine Sache machen sie heimlich.

Die über einen Meter großen Vögel mit schneeweißen Körpern, schwarzen Flügeln und langen, roten Beinen nisten oft auf Dächern in Städten und Dörfern in ganz Europa, wo sie sehr beliebt sind. Im Frühjahr brechen sie aus ihren Winterquartieren in Kenia, Uganda und Südafrika auf nach Norden. Die majestätischen Tiere stehen für Glück und Wiedergeburt – daher auch der Mythos vom Klapperstorch, der Babys bringt. Letzteren Namen verdanken sie dem liebevollen Klappern ihrer Schnäbel, welches durch den Kehlsack noch lauter wirkt. Mit dem Geräusch drücken sie ihre Zuneigung zu ihrem Partner aus.

Niemand weiß ganz genau, warum die Störche aus Großbritannien verschwunden sind. Ihre Präsenz auf den Speisekarten mittelalterlicher Bankette deutet allerdings darauf hin, dass sie als beliebte Speise gejagt wurden. Trotz seiner 600-jährigen Abwesenheit ist der Weißstorch jedoch ein wichtiges Symbol geblieben, das seit Jahrhunderten in der Folklore, in Kindergeschichten und illustrierten Manuskripten, auf Pub- und Hotelschildern sowie in Familiennamen und Spitznamen erhalten blieb.

Das White Stork Project hofft, dass die Rückkehr dieser charismatischen Vögel das öffentliche Interesse für Naturbelange im Vereinigten Königreich wecken wird. Vielleicht wird dieser Erfolg sogar den Weg für die Wiederansiedlung weiterer Arten ebnen.

BELIEBT

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    Die Altstörche füttern die Küken in Schichten, wobei sie Regenwürmer, Heuschrecken und sogar Ringelnattern ins Nest würgen.

    Foto von Brad Albrecht

    In den letzten Monaten waren die Neuankömmlinge des Knepp Estate in der Tat ein Grund zum Feiern – eine Ablenkung von den düsteren COVID-19- Statistiken. Ende März, als die Menschen ihre Zeit im häuslichen Lockdown verbrachten, begannen die Weißstörche mit dem Bebrüten ihrer Eier. Mitte Mai, als die Reisebeschränkungen für Naturgebiete im Vereinigten Königreich aufgehoben wurden, schlüpften Küken aus den beiden Gelegen. Hunderte von Besuchern konnten die kleinen Vögel erstmals mit eigenen Augen sehen.

    Mitte Juli verließen die Küken zum ersten Mal ihr Nest und flogen zu Boden, um unter den wachsamen Augen ihrer Eltern Heuschrecken zu fangen. Nachts schliefen sie in nahegelegenen Bäumen.

    Obwohl die letzten Jahrzehnte besonders für Weißstörche in Europa hart waren, ist die Art insgesamt nicht gefährdet. Die Trockenlegung von Feuchtgebieten – Lebensraum für Amphibien und kleine Fische, auf die die Vögel Jagd machen –, der pestizidbedingte Mangel an Insekten sowie Todesfälle durch Kollisionen mit Hochspannungsleitungen haben in vielen Teilen Europas zu einem Rückgang der Storchbestände geführt. Diese Verluste wurden zum Teil durch Wiederansiedlungen in Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, der Schweiz, Polen und Schweden ausgeglichen.

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    Wie wird aus Ackerland wieder Wildnis?

    Das Vereinigte Königreich ist laut dem Predicts Project eines der Länder mit dem weltweit geringsten Anteil an natürlicher Vielfalt. Dort haben seit den 1970ern mehr als zwei Fünftel der Säugetiere, Insekten, Vögel und andere Wildtiere deutliche Rückgänge zu verzeichnen. Der Weißstorch ist ein Symbol für eine umfassendere Bewegung zur Wiederherstellung der Natur im Land. Der Knepp Estate unter der Leitung von meinem Mann, Charlie Burrell, und mir leistet in diesem Bereich Pionierarbeit.

    Um die Grundlagen für ein naturnahes Ökosystem zu schaffen, begannen wir im Jahr 2000 mit der Wiederaufforstung unserer 1.400 Hektar unprofitablen Ackerlandes. Wir begannen, den Fluss, die Tümpel und die Feuchtgebiete wiederherzustellen; Dornengestrüpp und Bäume durften wieder wachsen. Wir siedelten Pflanzenfresser wie das English Longhorn, Exmoor Ponys und Tamworth-Schweine als Stellvertreter für ausgestorbene Auerochsen, Tarpans und Wildschweine an. Dann nahmen wir uns zurück und ließen der Natur freien Lauf.

    Die Tiere grasten, stöberten, gruben Wurzeln aus, trampelten, suhlten sich und verstreuten Samen in ihrem Dung. So schufen sie komplexe, neuartige Ökosysteme – und zwar rasant und mit erstaunlichen Ergebnissen. Knepp ist heute ein Brutgebiet für gefährdete Nachtigallen, Turteltauben und Große Schillerfalter. Alle fünf Eulenarten Großbritanniens sind hier zu finden, außerdem 13 der 18 heimischen Fledermausarten. Es wurden mehr als 1.600 Insektenarten nachgewiesen, von denen viele landesweit selten sind. All diese Lebewesen haben in Knepp eine Zuflucht gefunden, angelockt von neu entstehenden Lebensräumen und Nahrungsressourcen.

    Die Weißstörche brauchten jedoch Hilfe, um sich wieder zu etablieren. Jedes Jahr wagen sich etwa 20 der Vögel aus Europa nach England – aber da sie keine anderen Störche finden, die hier nisten, fliegen sie weiter. Wie Reiher nisten Weißstörche in Kolonien, um sich zahlenmäßig sicher zu fühlen, soziale Lernprozesse zu fördern und im Falle des Todes eines Partners leicht Ersatz zu finden. Ohne den Rückhalt dieser Gruppe ist es unwahrscheinlich, dass sie überhaupt versuchen, sich fortzupflanzen.

    Europäische Auswilderungsprojekte haben Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet: Sie ahmten echte Kolonien nach, indem sie Weißstörche in großen Gehegen in der freien Natur hielten. Dabei kamen flugunfähige Vögel aus der Tierrettung und in Gefangenschaft gezüchtete Vögel mit gestutzten Flügeln zum Einsatz, um wilde Störche anzulocken. Schließlich brüteten die Wildvögel zusammen mit den in Gefangenschaft gezüchteten Störchen – und ihre Nachkommen kehrten treu an ihren Geburtsort zurück.

    Im Jahr 2016 wählte das von der Regierung genehmigte britische White Stork Project Knepp als ersten Standort. Das Projekt ist eine Partnerschaft zwischen drei privaten Landbesitzern, dem Durrell Wildlife Conservation Trust, der Roy Dennis Wildlife Foundation und dem Cotswold Wildlife Park.

    Die artenreichen Feucht- und Graslandschaften von Knepp und die offen gewachsenen Bäume zum Nisten sind ein perfekter Lebensraum für Störche. (Zufälligerweise ist der Name des Dorfes Storrington ganz in der Nähe von Knepp von „Estorchestone“ abgeleitet, was „Wohnort der Störche“ bedeutet. Das Ortsschild zeigt zwei Weißstörche). Zwei weitere Standorte – Wadhurst Park Estate in East Sussex und Wintershall Estate in Surrey – wurden für die Einrichtung zusätzlicher Freigehege im folgenden Jahr bestimmt.

    Das britische White Stork Project will bis 2030 50 Brutpaare etablieren.

    Foto von Nick Upton

    Die erste Gruppe von 20 Jungstörchen, die vom Warschauer Zoo in Polen gespendet wurde, traf im Dezember 2016 im 1,5 Hektar großen Gehege des Knepp Estate ein. Mit dabei waren vier nicht flugfähige Altvögel, die bei Verkehrsunfällen oder durch Stromleitungen verletzt wurden. Sie sollten den Jungstörchen ein natürliches Sozialverhalten beibringen. Als Vorbild dienten die erfolgreichen Wiederansiedlungen in Schweden und im französischen Elsass. Dort stieg die Zahl der Weißstörche dank eines 1976 begonnenen Zuchtprogramms von weniger als 10 Paaren bis heute auf mehr als 600 an.

    Eines der nistenden Weibchen von Knepp, ein besonders kühnes Fünfjähriges aus der ersten Reihe polnischer Importe, flog 2018 nach Frankreich. Dort verbrachte es ein Jahr mit Wildvögeln, bevor es nach Knepp zurückkehrte, um sich mit einem der Störche in ihrem Gehege zu paaren. Ein weiteres Jungtier mit einem GPS-Sender, das auf Knepp aufgezogen wurde, flog letztes Jahr ins marokkanische Rabat und befindet sich jetzt in Spanien. Das Männchen des anderen nistenden Paares ist ein Wildvogel – einer von mehreren, die bereits durch die Anwesenheit der neuen Kolonie angezogen wurden.

    Sind die Störche heimisch oder invasiv?

    Nicht jeder im Vereinigten Königreich befürwortet das White Stork Project. Die Gegner argumentieren, dass die historischen Belege für Weißstörche in Großbritannien dürftig sind und dass sie nicht als einheimische Art betrachtet werden sollten. Alfred Newton schrieb in seinem Vogelkundebuch „A Dictionary of Birds“, das 1896 veröffentlicht wurde, dass der Weißstorch seiner Meinung nach „nie ein Einheimischer oder überhaupt ein Bewohner dieses Landes gewesen“ sei.

    Darüber hinaus sind Kritiker der Ansicht, damit diese „neue“ Art den Status „heimisch“ erlangen kann, sollten die Vögel von sich aus und ohne menschliche Beteiligung Kolonien bilden. Sie verweisen auf die spontanen Neuansiedlungen von Seidenreihern und Silberreihern im Südosten Englands. „Ich würde lieber [...] eine natürliche Besiedlung unserer Vogelwelt zulassen“, sagt Lizzie Bruce, die Direktorin der Zeitschrift British Birds. Für sie fühlt sich das Weißstorchprojekt „eher wie ein Eitelkeitsprojekt an, zumal die Art nicht bedroht ist“.

    Dieser Weißstorch (Ciconia ciconia) wurde in Gefangenschaft aufgezogen. Hier fliegt er am Tag seiner Freilassung aus einem provisorischen Gehege auf dem Knepp Estate. Sussex, Großbritannien, August 2019.

    Foto von Nick Upton

    Vogelbeobachter äußern sich in den sozialen Medien ähnlich: Ihrer Ansicht nach wäre es besser, sich nicht auf eine prächtige Spezies zu konzentrieren, die nicht vom Aussterben bedroht ist, sondern auf Vögel wie den Feldsperling, die ums Überleben kämpfen, aber weniger spektakulär aussehen.

    Einige Naturschützer machen sich auch Sorgen über die Auswirkungen, die der Weißstorch auf Lebensräume oder Beutetierarten wie Insekten und Amphibien haben könnte. Sie haben Umweltverträglichkeitsstudien gefordert. Das scheint allerdings kaum machbar angesichts der potenziellen Ausdehnung des Nahrungsgebietes der Vögel in Südostengland. Zudem ist die Anzahl der betroffenen Störche relativ klein und ihre Nahrung äußerst vielfältig.

    Keiner dieser Kritikpunkte beunruhigt Ian Newton, einen ehemaligen Gastprofessor für Ornithologie an der University of Oxford und ehemaligen leitenden Ornithologen beim Natural Environment Research Council, dem führenden öffentlichen Geldgeber für Umweltwissenschaften im Vereinigten Königreich. (Newton hat keinerlei Verbindung zum White Stork Project.) Der Weißstorch, so sagt er, ist in Knochenresten in der bronzezeitlichen Fundstätte Jarlshof auf den Shetland-Inseln, in der eisenzeitlichen Fundstätte Dragonby in Lincolnshire, der römischen Fundstätte Silchester in Hampshire und in der archäologischen Fundstätte von Westminster Abbey in London vertreten – alles lange bevor er 1416 schriftlich erwähnt wurde.

    „Wenn wir uns auf die Wiederansiedlung von Arten beschränken, die in den historischen Aufzeichnungen gut dokumentiert sind, würden wir all jene Arten ausschließen, die schon früher verschwunden sind, für die Großbritannien aber immer noch geeigneten Lebensraum bietet“. Dazu zählen beispielsweise Krauskopfpelikane, Nachtreiher und Uhus, sagt Newton. Wiederansiedlungen bieten seiner Meinung nach nicht nur die Freude über die Rückkehr verloren gegangener Arten, sondern auch ein großes Potenzial für den Artenschutz an sich.

    „Im Allgemeinen gilt: Je weiter eine Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet verbreitet ist, desto zahlreicher und sicherer ist sie auf längere Sicht“, sagt Newton. Laut ihm finde die Wiederansiedlung charismatischer Arten „ein enormes Interesse und die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit. Das kann auch der lokalen Wirtschaft zugutekommen und Geld in den Naturschutz leiten, das sonst für andere Aktivitäten ausgegeben würde.“ Außerdem können die Störche anderen Arten nützen. In Europa bieten ihre riesigen, wirren Nester zahlreichen Vögeln wie Staren, Haus- und Feldsperlingen Nisthabitate.

    Knepps Weißstörche sind bereits so etwas wie ein Medienphänomen geworden. Es gibt umfangreiche Berichterstattung im Inland, aber auch im französischen und polnischen Fernsehen. Mehr als 2.500 Besucher haben die Küken seit der Lockerung der COVID-19-Beschränkungen gesehen. 30 Kilometer entfernt zeigt ein riesiges Wandgemälde an der belebten Nordstraße der Stadt Brighton Weißstörche, die zur Fütterung ihrer Küken herbeifliegen. Das Wandgemälde ermahnt uns, die Natur Raum zum Atmen zu lassen – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die prächtigen Weißstörche im Vereinigten Königreich tatsächlich einen Neuanfang einläuten könnten.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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