Pfeilschwanzkrebse: Darum kostet ein Liter ihres Blutes 15.000 €

Das Blut der Pfeilschwanzkrebse kommt bei Medizintests zum Einsatz. Doch die Gewinnung bringt die uralte Spezies in Gefahr. Synthetische Alternativen können ihr Überleben sichern.

Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 8. Okt. 2020, 11:00 MESZ
Gefangene Pfeilschwanzkrebse

Pfeilschwanzekrebse sind nicht nur  in der Medizin gefragt. In einigen Ländern landen sie als Delikatesse auf dem Teller.

Foto von ErnstUlrich, Stock.adobe.com

Pfeilschwanzkrebse krochen bereits vor 150 Millionen Jahren über den Meeresgrund und überlebten die Dinosaurier. Heute sichert das hellblaue Blut des atlantischen Pfeilschwanzkrebses Limulus polyphemus das Überleben der Menschen, denn es kommt bei LAL-Tests zum Einsatz. Mit Limulus Amöbozyten Lysat (LAL)-Tests werden seit den späten 70ger Jahren weltweit standardmäßig pharmazeutische Produkte auf Endotoxine getestet. Dabei handelt es sich um bakterielle Stoffe, z.B. aus Kolibakterien oder Salmonellen, die im Menschen gesundheitsgefährdende Effekte haben können. Die Blutzellen (Amöbozyten) des Pfeilschwanzkrebses bilden ein primitives Immunsystem. Das darin enthaltene Protein (Eiweiß) Faktor C reagiert nämlich auf Endotoxine, indem es zur Gerinnung führt und Bakterien an Ort und Stelle bindet. Doch die Gewinnung des Pfeilschwanzkrebsblutes bringt das Überleben der Spezies in Gefahr. Synthetische Alternativen sollen und können der Fortbestand sichern.

Pfeilschwanzkrebse - lebende Fossile

Seit Millionen von Jahren haben sich Pfeilschwanzkrebse kaum verändert. Der Limulus Polyphemus, wie er wissenschaftlich bezeichnet wird, hat erdgeschichtlich ururalte Vorfahren: Die ältesten Fossilien dieser Gliederfüssler aus der Ordnung der Schwertschwänze sind 440 Millionen Jahre alt. Die ersten Mitglieder der Familie der Pfeilschwanzkrebse krabbelten dann 140 Millionen Jahre später über den Meeresgrund. 150 Millionen Jahren alt ist der nächste fossile Verwandte, dessen anatomischer Bauplan dem heutigen Pfeilschwanzkrebs gleicht. Kein Wunder also, dass man von „lebenden Fossilien“ spricht.

Riesige Krebse erbeuten sogar Vögel

Das Aussehen der Krebse, die eigentlich einer Schwestergruppe der Spinnentiere angehören, ist einzigartig und hat sich evolutionär bewährt: Der zweigliedrige Körper ist von je einer gewölbten, panzerartigen Rückenplatte (Carapax) bedeckt. Optisch erinnern Pfeilschwanzkrebse an Pferdehufe, weshalb die Tiere im englischen den Namen Horseshoe Crab erhielten. Von dem stacheligen Hinterteil geht der namengebende, lange Schwanz (Telson) ab. Unterhalb befinden sich fünf Beinpaare, Kiemen und teilweise offenliegende Organe. Die vorderen Beinpaare haben kräftige Scheren und Kieferklauen, die anderen dienen der Fortbewegung. Die Tiere können bis zu 60 Zentimeter lang und fünf Kilogramm schwer werden.

Über den ganzen Körper sind Augen verteilt: Seitlich sitzt je ein Komplexauge, bestehend aus mehreren einzelnen Augen. Dazu kommen das mittig sitzende dritte Auge.1967 wurden die Forschungen, die sich mit den zehn Augen des Pfeilschwanzkrebses befassten, mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.

Zu den wenigen natürlichen Feinden der Pfeilschwanzkrebse gehören der Tigerhai, Schildkröten und Vögel, die es auf die Larven im Flachwasser abgesehen haben. Heute leben sie in bis zu fünfzig Metern Tiefe an der nordamerikanischen Atlantiküste vom südlichen Kanada, über das US-amerikanische Maine bis ins mexikanische Yucatan.

Die meiste Zeit verbringen die Gliederfüsser eingebuddelt im sandigen Boden, wo sie auch Nahrung finden. Doch einmal im Jahr treibt es sie zur Fortpflanzung an den Strand ihrer Geburt. Erst mit zehn bis zwölf Jahren sind Pfeilschwanzkrebse geschlechtsreif. Dann krabbeln Weibchen und Männchen im Frühjahr ins seichte Wasser um sich zu paaren und die besamten Eier zu bewachen.

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    Einmal im Jahr kommen die Pfeilschwanzkrebse zur Paarung ins seichte Küstengewässer um sich zu Paaren und die Eier solange zu bewachen, bis die Jungen geschlüpft sind.

    Foto von Ellie Nator, Stock.adobe.com

    Fragwürdige Blutspende 

    Hier wartet der Mensch bereits: Jedes Jahr werden während der Paarungszeit mehr als eine Million Pfeilschwanzkrebse gefangen, um ihnen das für LAL-Test benötigte Blut abzuzapfen. Dahinter steht eine riesige Industrie und ein grosses Geschäft, denn ein Liter des Blutes kostet bis zu 15.000 €. Sind die Tiere eingesammelt, werden sie in Labore gebracht, wo ihnen mit einer Kanüle ins Herz gestochen und bis zu einem Drittel ihres hellblauen Blutes entnommen wird. Danach werden sie zurück ins Meer gebracht. Welchen Schaden sie durch die Blutentnahme haben, weiss man nicht. Nicht nur Tierschützer stufen diese Methode als fragwürdig ein. Auch deshalb gelten Pfeilschwanzkrebse heute als potenziell gefährdete Art.

    Vor allem ist diese Methode aber eines: Völlig unnötig. Denn um Medikamente zu zertifizieren und menschliches Leben zu retten, gibt es längst biotechnologisch hergestellte Alternativen zum blauen Blut. Ist es längst an der Zeit, dass der Mensch tierisches Leben rettet?

    Alternativen zum blauen Blut der Pfeilschwanzkrebse

    Unternehmen wie bioMérieux, das am Standort Bernried am Starnberger See synthetische Testalternativen entwickelt hat, haben durchaus auch den Tierschutz im Blick. Hier folgt man der europäischen Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere und damit dem international anerkannten Prinzip der 3 R (Replacement, Reduction, Refinement), welches seit 1959 zum Ziel hat, Tierversuche vollständig zu vermeiden. „Abgesehen davon ist Nachhaltigkeit auch ein wirtschaftliches und sicherheitsrelevantes Thema“, so ein Sprecher des Unternehmens.

    „Durch den Wechsel vom tierischen auf ein zeitgemäßes, rekombinantes Produkt wird die Sicherung der Lieferkette dieser essenzieller Testverfahren gewährleistet. Pfeilschwanzkrebse kommen nur an der nordamerikanischen Atlantikküste und in Südostasien, nicht aber in Europa vor. Gleichzeitig ist die Reproduzierbarkeit und Verlässlichkeit der Testergebnisse bei biotechnologischen Produkten häufig besser als bei tierischen Produkten. Die Abhängigkeit von biologischen und saisonalen Schwankungen wird auf ein Minimum reduziert, sodass Produkte von konstant gleicher Qualität hergestellt werden können.“

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    Ein Vorteil im biotechnischen Nachbau des Blutproteins der Pfeilschwanzkrebse liegt neben anderen darin, dass nur diejenigen Bestandteile, die für den Endotoxin-Nachweis nötig sind, produziert werden, so der Sprecher von bioMérieux: „Der biologische Sensor für Endotoxin in Pfeilschwanzkrebsen ist das Protein Faktor C. Die Bauanleitung für Faktor C liegt in der DNA der der Pfeilschwanzkrebse. Wir haben diese DNA nachgebaut und in speziell herangezüchtete Mikroorganismen eingebracht, die den Pfeilschwanzkrebs-Faktor C produzieren, aber nicht die anderen unnötigen Bestandteile des Pfeilschwanzkrebsblutes. Dieser Prozess wird allgemein als rekombinante Produktion bezeichnet und das auf diese Weise hergestellte Protein in diesem Fall als rekombinanter Faktor C (rFC).

    Ein Hauptunterschied zwischen unseren rFC-basierten Tests und dem Naturprodukt LAL ist, dass letzterer eine komplexe Mischung aus verschiedensten Blutbestandteilen ist, in welcher wiederum zahlreiche biologische, chemische und physikalische Vorgänge stattfinden. Wir produzieren dagegen explizit nur solche Bestandteile, die für das Endotoxin-Nachweisverfahren notwendig sind. Unser Produkt ist damit maßgeschneidert für sein Einsatzgebiet und verzichtet auf die Komplexität des Naturproduktes, welche zu ungewollten Reaktionen und Schwankungen in der Qualität führen kann.“

    Die biotechnischen Produkte reagieren demnach nur auf Endotoxin, während LAL auch auf sogenannte beta-Glukane reagiert, die sich u.a. in Filtern bei der sterilen Arzneimittelproduktion finden. Es kann also vorkommen, dass LAL fälschlicherweise eine Kontimination anzeigt und infolgedessen eine teure, eigentlich endotoxinfreie Medikamentencharge entsorgt werden muss.

    Aderlass der Pfeilschwanzkrebse: nur veralteter Standard?

    Doch können die zahlreichen Vorteile der biotechnologien Tests das einzigartige Blut der Pfeilschwanzkrebse bei der Medikamententestung schlagen? Für den Sprecher von bioMérieux ein klarer Fall, denn er sieht in den heutigen LAL-Tests die Spätfolge eines Zufalls: „Verglichen mit anderen arthropoden Gliedertieren inkl. Insekten, Krebstieren und Spinnentieren, ist das Immunsystem der Pfeilschwanzkrebse nicht überaus einzigartig. Allerdings wurde eben nur aus ihrem Blut in den 1960er Jahren ein Test auf Endotoxine entwickelt, der LAL-Test. Das hing sicherlich mit der Nähe des berühmten Woodshole Meeresbiologielabors zu Stränden mit Pfeilschwanzkrebsen, deren Wehrlosigkeit und deren für Wirbellose großen Mengen an Gewebe, hier Blut, zusammen.

    Damit boten sie sich als Studienobjekte wunderbar an. LAL-Tests wurden in den späten 70ern für die Medikamentestung freigegeben und damit zum de facto-Standard, an dem sich alle anderen Endotoxintests messen lassen mussten. LAL-Tests waren quasi einfach als erste Endotoxintests da und genießen allein schon deswegen einen anerkannten Sonderstatus, den sich rFC-Tests unter anderen Bedingungen mühsam erarbeiten mussten. Im Vergleich zur vorherigen Injektion von Kaninchen samt Temperaturüberwachung (Fieber), boten LAL-Tests viele Vorteile; sie waren schneller, einfacher, reproduzierbarer, quantifizierbar und günstiger.“

    Weitere Massnahmen zum Schutz der Pfeilschwanzkrebse

    Das unfreiwillige Blutspende der Pfeilschwanzkrebse ist also dank der Forschung und neuer Technologien obsolet geworden. Doch einige Testlabore nutzen immer noch das teure Blut, statt auf rFC-Tests umzusteigen. „rFC kann und soll LAL für die Endotoxintestung vollkommen ersetzen. Einige Unternehmen haben mit der Implementierung begonnen“, so der Sprecher. Doch für den Experten reicht das als einzige Massnahme zum Schutz der Pfeilschwanzkrebse nicht aus, vor allem mit Blick auf die in Asien lebenden Arten Tachypleus tridentatus, Tachypleus gigas und Carcinoscorpius rotundicauda: „Nichtsdestotrotz müssten weitere Maßnahmen ergriffen werden. In Asien werden die Tieren zur LAL-Gewinnung bewusst bis zum Tode ausgeblutet. Einige von ihnen landen als Delikatesse auf dem Teller. Doch das standardmässige ausbluten sollte verboten werden. Außerdem werden Pfeilschwanzkrebse an der Nordamerikanischen Nordostküste als Köder für den Aal- und Schneckenfang verwendet. Dieser müsste kontrolliert und eingeschränkt werden.“

    Pfeilschwanzkrebse haben durch Anpassung über Jahrmillionen an Erdgeschichte überlebt. Hoffentlich überleben sie auch die Profitgier des Menschen.

     

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