Neue Studie: Menschenaffen fehlt eine entscheidende Fähigkeit

Was unterscheidet den Menschen vom Affen? Ein Forschungsteam der Universität Tübingen hat dazu den Erfindergeist unserer nächsten tierischen Verwandten untersucht.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 23. März 2021, 10:58 MEZ, Aktualisiert am 30. März 2021, 10:52 MESZ
Der Schein trügt: Menschenaffen geben ihr eigenes Know-how offenbar nicht an Artgenossen weiter.

Der Schein trügt: Menschenaffen geben ihr eigenes Know-how offenbar nicht an Artgenossen weiter.

Foto von AdobeStock

Der genetische Unterschied ist winzig. Schimpanse und Mensch stimmen in 98,7 Prozent des Erbguts überein. Doch offenbar unterscheiden sich Mensch und Affe mehr voneinander als bisher angenommen: Im Gegensatz zum Homo sapiens können Menschenaffen ihre Verhaltensweisen nicht an die nächste Generation weitergeben. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam der Universität Tübingen unter der Leitung von Dr. Alba Motes-Rodrigo und Dr. Claudio Tennie in einer neuen Studie, die im Fachmagazin Biological Reviews veröffentlicht wurde.

Die Studienergebnisse zeigen dem Forschungsteam zufolge, dass die Kultur der Affen durch andere Lernmechanismen aufrechterhalten wird als die unsere. Indem sich Menschen gegenseitig beobachten und nachahmen, geben sie wertvolles Wissen an die kommenden Generationen weiter. Weil hierbei Verhaltensweisen oft leicht abgewandelt werden, kann sich die menschliche Kultur von Generation zu Generation weiterentwickeln. Motes-Rodrigo vergleicht das mit dem Stille-Post-Spiel.

Affen hingegen, so fanden die Tübinger Biologen heraus, kopieren sich nicht gegenseitig. Stattdessen erfinden sie jede ihrer Verhaltensweisen in jeder Population und in jeder Generation neu. „Diese Erkenntnis erscheint überraschend, wird aber von neuesten Studien der vergleichenden Kognitionswissenschaften gestützt“, sagt Tennie. Demzufolge würden Menschenaffen nur dann neue Verhaltensweisen nachahmen, wenn sie vorher durch Menschen daraufhin trainiert wurden.

Warum Menschenaffen das sprichwörtliche Rad ständig neu erfinden

Für ihre eigene Studie suchten Motes-Rodrigo und Tennie in Berichten über Menschenaffen nach Hinweisen über lokal einzigartige Verhaltensmuster, wie zum Beispiel das Nussknacken bei Schimpansen. „Beruht das Verhalten der Menschenaffen wirklich auf Nachahmung, wie es bei Menschen der Fall ist, würden wir erwarten, dass sich ihr Auftreten kulturell weiterentwickelt hat und es deshalb einzelne Verhaltensweisen geben müsste, die nur auf eine Population an einem Ort beschränkt sind“, erklärt Motes-Rodrigo.

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    Doch tatsächlich beobachteten sie das genaue Gegenteil: Die Auswertung habe gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit der Verhaltensweisen von Menschenaffen nicht regional begrenzt sei. Aus tausenden Verhaltensmustern konnten lediglich drei nicht andernorts nachgewiesen werden. Das Know-how, um eine Nuss zu knacken, lernen Affen also nicht durch Nachahmung. Sie müssen sich dieses Wissen selbst erarbeiten.

    Eine kulturelle Weiterentwicklung oder Verfeinerung solcher Verhaltensweisen scheint so unmöglich. „Affen sind darauf angewiesen, das sprichwörtliche Rad immer wieder neu zu erfinden“, betont Tennie. „Die Form des Rades ändert sich dabei aber nicht.“

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    Im Interview mit National Geographic spricht der Tübinger Biologe Dr. Claudio Tennie über den Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Intelligenz, missverstandene Menschenaffen – und über den entscheidenden Punkt, in dem wir uns vom Affen unterscheiden.

    Herr Dr. Tennie, sind Menschenaffen doch nicht so schlau, wie wir eigentlich dachten?

    Wir Menschen sind nicht schlauer als Menschenaffen. Wir wirken nur deswegen schlauer, weil wir unsere Intelligenz kulturell weitergeben – das heißt, unsere heutige Intelligenz hat sich über Jahrtausende aufgebaut.

    Laut ihrer Studie können Menschenaffen genau das nicht. Sie müssen ihre Verhaltensmuster in jeder Generation neu erlernen. Spricht das nicht für mangelnde Intelligenz?

    Wenn man Intelligenz nicht weitergeben kann, kann man sie auch nicht kulturell weiterentwickeln. Das bedeutet dann, dass sich diese tierische Intelligenz immer nur auf einem individuellen Level bewegt – dieser ist bei Menschenaffen hoch im Vergleich zu anderen Tieren. Aber der einzelne Mensch ist ja auch nicht von Natur aus ein Genie. Letztendlich bauen wir unsere Fähigkeiten auf dem angesammelten Wissen früherer Generationen auf. Dieses Klein-Klein führen wir nur zusammen fort und weiten es so aus. Die menschliche Welt ist komplett abhängig von unserer speziellen Kopierfähigkeit. Wir würden sterben, wenn wir unser Know-how nicht weitergeben würden.

    Dass Affen Werkzeug benutzen, wird oft als Beispiel für ihre Intelligenz angeführt. Schaut sich der Affennachwuchs beim Nussknacken tatsächlich nichts von den älteren Tieren ab?

    „Affen sind darauf angewiesen, das sprichwörtliche Rad immer wieder neu zu erfinden“, sagt Biologe Claudio Tennie von der Universität Tübingen.

    Foto von Claudio Tennie

    Die Tiere begreifen schon: Es geht hier um eine Nuss. Das Know-what und Know-where können sie sich abschauen, das ist auch gut belegt. Das Was und Wo ist damit geklärt. Aber das langfristig Entscheidende ist das Wie – das Know-how. Und diese Fähigkeit, eine Nuss zu knacken, lernen sie nicht durch Nachahmung. Sie brauchen zum Teil Jahre, um sie sich selbst anzueignen – aber das liegt wohl eher an ihrer generellen motorischen Entwicklung. Orang-Utans etwa knacken gar keine Nüsse in der Wildnis. Wenn man ihnen aber welche gibt, hämmern auch Orang-Utans auf Nüssen herum. Dieses Know-how vollzieht sich aber spontan und rein individuell – und nicht, weil sie es sich abgeschaut hätten. Wir haben das getestet – und zwar bei Orang-Utans, die Nussknacken niemals sahen.

    Kann es also sein, dass wir oft viel zu viel in tierisches Verhalten hineininterpretieren?

    Ja. Zum einen, weil es uns einfach selbstverständlich erscheint, wir können da einfach nicht aus unserer Haut. Unsere Kultur baut ja massiv darauf auf, dass wir unser erlerntes Wissen an die nächste Generation weitergeben. Zum anderen, weil der Anthropomorphismus, also das Zuschreiben menschlicher Eigenschaften auf Tiere, bis heute tief verwurzelt ist.

    Ist unsere kulturelle Fähigkeit, Wissen zu kopieren, letztlich der entscheidende Punkt, in dem sich der Mensch vom Affen unterscheidet?

    Ganz genau. Für viele Menschen ist es offenbar eine schöne Vorstellung, dass Menschenaffen uns in ihren Fähigkeiten sehr ähnlich seien. Das sind sie auch, in einigen Fähigkeiten. Andere Fähigkeiten gehen ihnen aber ab. Und die Schlüsselfähigkeit der Know-how-Kopie gehört zu der Liste der fehlenden Fähigkeiten.

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