Baubotanik: Von lebenden Brücken und Balkonen aus Bäumen
Ein junger Wissenschaftszweig sorgt für Aufsehen: Baubotaniker erschaffen Gebäude aus wachsenden Pflanzen. Werden unsere grauen Städte damit endlich grüner?
Die lebenden Brücken von Meghalaya: Seit Jahrhunderten bauen Einheimische im Nordosten Indiens diese Bauwerke aus den Luftwurzeln von Gummibäumen.
Cherrapunji ist ein Ort der Superlative. Jahr für Jahr prasseln die weltweit heftigsten Monsunregenfälle über das Dorf im nordostindischen Bundesstaat Meghalaya herab. Der durchschnittliche Niederschlag beträgt jährlich 11.430 Millimeter pro Quadratmeter, in Frankfurt sind es 660. Und wer den Weg in den Dschungel nimmt, wird Zeuge weiterer Naturwunder, die so unwirklich erscheinen, als stammten sie aus Fantasyfilmen wie „Der Herr der Ringe“ oder „Indiana Jones“. Es sind lebende Brücken, die sich in oft schwindelerregender Höhe über die Flüsse hangeln.
Seit vielen Jahrhunderten formen Einheimische die imposanten Bauwerke aus dem Gummibaum Ficus elastica. Dazu ziehen sie die Luftwurzeln über Flüsse und andere Hindernisse und verankern sie auf der anderen Seite in der Erde. Das Wurzelwerk verflicht sich dabei immer mehr zu einer dichten, netzartigen Struktur.
Galerie: Die lebenden Wurzelbrücken Indiens
Allmählich verwachsen die Gebilde zu stabilen und begehbaren Konstruktionen. Bis sie fertig sind, vergehen Jahrzehnte. Oft beteiligen sich mehrere Generationen an ihrem Bau. Mit der Zeit werden die Brücken immer kräftiger. So kräftig, dass auf ihnen sogar steinerne Gehwege gepflastert werden, die mehr als 50 Menschen gleichzeitig tragen können.
Wie Architekten von der Natur lernen
„Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere hundert Jahre alt werden“, sagt Ferdinand Ludwig, Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der Technischen Universität München. Gemeinsam mit dem Freiburger Botanikprofessor Thomas Speck hat Ludwig dutzende solcher lebenden Brücken analysiert.
Die Erkenntnisse über die alten Techniken könnten dabei helfen, die moderne Architektur weiterzuentwickeln. „Die Brücken sind ein einmaliges Beispiel für vorausschauendes Bauen“, erklärt Ludwig. „Davon können wir viel lernen: Wir stehen heute vor Umweltproblemen, die nicht nur uns betreffen, sondern vor allem nachfolgende Generationen.“
Pflanzen als lebende Baustoffe: Mit diesem Ansatz etablierte ein junges Forscherteam um Ludwig vor über 15 Jahren ein neues Forschungsfeld an der Universität Stuttgart – die Baubotanik. Lebende und nicht lebende Elemente werden dabei so miteinander verbunden, dass sie zu einem pflanzlich-technischen Verbund verwachsen.
Organismen aus Baum und Stahl
Einzelne Pflanzen verschmelzen zu einem größeren Gesamtorganismus. Technische Elemente wie Stahl oder Beton wachsen sozusagen in die Struktur ein. Idealerweise können sie wieder ausgebaut werden, sobald die Pflanzen stark genug miteinander verwoben sind. Wenn die Pflanzen sich gut und kontrolliert entwickeln und geformt werden, tragen sie ganze Bauten.
In Zusammenarbeit mit anderen Architekten hat Ludwig inzwischen viele solcher Projekte umgesetzt – darunter einen Metallsteg, der komplett von verwachsenen Weidenbäumchen getragen wird, oder verschiedene Pavillons und Türme.
Für Aufsehen sorgte auch ein dreistöckiger rund 1.000 Kubikmeter großer Gebäudewürfel aus Laubbäumen. Der begehbare Platanenkubus im baden-württembergischen Nagold besteht aus einem pflanzlichen Tragwerk und technischen Einbauten wie Treppen und Galerien aus Metall. Hunderte junger Platanen wurden dazu mithilfe der Pflanzenaddition verbunden – einer Methode, die dem gärtnerischen Pfropfen ähnelt.
Wenn Architektur lebendig wird: Der dreistöckige Platanenkubus im baden-württembergischen Nagold.
Besseres Klima durch grüne Städte
Projekte wie diese sollen Stadtplanern, Architekten und Bürgern neue Impulse für grünere Städte liefern. Klar ist: Konventionelle Baustoffe wie Stahl oder Beton lassen sich damit nicht grundsätzlich ersetzen. In Baumhäusern werden wir wohl in absehbarer Zeit nicht dauerhaft leben. Schon allein das strenge Baurecht steht dem im Weg.
Doch angesichts knapp werdender Grünflächen könnte die Baubotanik bislang unentdeckte ökologische Wege aufzeigen. In vergleichbar kurzer Zeit entstehen neuartige Strukturen, die wichtige Funktionen alter Bäume übernehmen könnten: Feinstaub filtern, Luft kühlen und das Stadtklima verbessern.
Wie Pflanzen miteinander verwachsen: Baubotaniker Ferdinand Ludwig verbindet zwei Baumstämme mit einer Schraube.
Ludwig will so auch die Folgen des Klimawandels abfedern. „Stein, Beton und Asphalt heizen sich bei hohen Temperaturen schnell auf, besonders in den Städten entsteht Hitzestress“, unterstreicht der Architekt. „Pflanzen sorgen für Kühlung und ein besseres Klima in der Stadt. Mit der Baubotanik muss nicht extra Raum für die Pflanzen geschaffen werden. Sie sind integraler Bestandteil der Bauwerke.“
Keine Zukunftsmusik
Aber ist die Technik tatsächlich schon so weit, um solche Projekte großflächig in Städten umsetzen zu können? Ludwig ist davon überzeugt: „In den vergangenen Jahren haben wir nach meiner Einschätzung alle wichtigen Fragen identifiziert, die es für eine solche breite Umsetzung zu klären gilt.“ Ob Baumfassaden, Baumbalkone oder grüne Bauten in Stadtparks: Viele baubotanische Vorhaben seien keine Zukunftsmusik mehr.
Qualifizierte Firmen aus dem Garten- und Landschaftsbau könnten solche Projekte heute schon umzusetzen. Auch für die Pflege gebe es spezialisierte Firmen. Was die Sicherheit angeht, hat Ludwig ebenfalls keine Bedenken. „Staatlich bestellte und vereidigte Baumsachverständige oder entsprechende Firmen sind schon heute für die Sicherheit von Bäumen zuständig.“ Sie könnten solche Aufgaben auch bei baubotanischen Projekten übernehmen.
„Die Kosten liegen in der Größenordnung anspruchsvoller Begrünungen“, sagt Ludwig, der mit dem Architekten Daniel Schönle an einer neuen lebenden Brücke arbeitet. Und zwar nicht in den Urwäldern von Meghalaya, sondern im Großstadt-Dschungel des Ruhrgebiets. Ludwig: „Grüne Infrastruktur ist eine essenzielle Grundlage für eine lebenswerte Stadt.“
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