Lebendes Fossil: Wie der Mensch den Ginkgo rettete

Fast 200 Millionen Jahre lang bevölkerten die berühmten Bäume die Erde. Dann verschwanden sie – doch heute findet man sie weltweit in den Straßen der Städte.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 1. Dez. 2020, 14:28 MEZ
Ein Ginkgobaum im Herbst mit leuchtend gelben Blättern. Im Gegensatz zu den meisten Bäumen, die ihre ...

Ein Ginkgobaum im Herbst mit leuchtend gelben Blättern. Im Gegensatz zu den meisten Bäumen, die ihre Blätter allmählich verlieren, neigen Ginkgos dazu, sie alle auf einmal abzuwerfen.

Foto von Werner Layer, Mauritius Images Gmbh, Alamy

Auf den Straßen von Manhattan und Washington, D.C., in den Vierteln von Seoul und in den Parks von Paris verlieren die Ginkgobäume jedes Jahr nach und nach ihre leuchtend gelben Blätter, wenn die erste kalte Winterluft durch die Städte weht.

Zunächst rieseln nur vereinzelte Blätter aus der Krone, dann scheinen die Bäume schlagartig ihr gesamtes Laub abzuwerfen und überziehen die Straßen jedes Jahr mit goldenen, fächerförmigen Blättern. Auf der ganzen Welt dokumentieren Wissenschaftlerinnen, dass dieses Spektakel immer später eintritt – ein möglicher Hinweis auf den Klimawandel.

„Wenn die Leute uns fragten, wann der beste Zeitpunkt sei, um die Ginkgos in ihrer schönsten Farbe zu sehen, sagten wir immer: der 21. Oktober“, sagt David Carr, der Direktor der Blandy Experimental Farm der University of Virginia. Dort befindet sich der Ginkgo Grove, ein Arboretum mit über 300 Ginkgobäumen.

Kamera filmte ein Jahr lang einen Baum - und seine Besucher

Carr arbeitet seit 1997 bei Ginkgo Grove. Ihm zufolge sei der Trend zu immer wärmeren Herbsten und späterer Blattfärbung deutlich erkennbar. „Mittlerweile scheint der Zeitpunkt eher Ende Oktober oder in der ersten Novemberwoche zu sein.“

Aber es ist nicht das erste Mal, dass die uralte Baumart mit größeren klimatischen Veränderungen konfrontiert wird. Und die Geschichte der Ginkgos ist nicht das altbekannte abschreckende Beispiel dafür, wie die Unachtsamkeit des Menschen der Natur schadet.

Dank Fossilfunden in North Dakota wissen Forschende, dass die Art Ginkgo biloba in ihrer heutigen Form seit 60 Millionen Jahren existiert. Sie hat genetisch ähnliche Vorfahren, die bis in den Jura vor 170 Millionen Jahren zurückreichen.

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    In den fast 200 Millionen Jahren ihres Bestehens „verschwanden sie nach und nach. Sie sind fast ausgestorben. Aber dann erlebten sie einen Aufschwung, der auf ihre Beziehung mit dem Menschen zurückzuführen ist“, sagt Peter Crane, Autor des Buches „Ginkgo“ und einer der weltweit führenden Ginkgo-Experten..

    Die Weltnaturschutzunion, die das Überleben der Arten der Erde überwacht, stuft den Baum in freier Wildbahn als stark gefährdet ein. Vermutlich existieren nur noch in China einige wenige seltene Populationen. Wer also im Herbst auf diese leuchtend goldenen Fächer trifft, die auf einem regenverdunkelten Bürgersteig verstreut sind, begegnet einer seltenen Spezies – und einer Spezies, die der Mensch vor ihrem natürlichen Ende bewahrt und über die ganze Welt verbreitet hat. Es ist „so eine großartige Evolutionsgeschichte“, sagt Crane, „und auch eine großartige Kulturgeschichte“.

    Ginkgo biloba: Der Letzte seiner Art

    Auf der Erde gibt es heute fünf verschiedene Arten von Pflanzen, die Samen produzieren: blühende Pflanzen, die am häufigsten vorkommen; Koniferen, also Pflanzen mit Zapfen; Gnetales, eine vielfältige Gruppe von etwa 70 Arten, darunter Wüstensträucher, tropische Bäume und Reben; Palmfarne, eine weitere uralte Gruppe von palmenähnlichen Bäumen – und den einsamen Ginkgo. In der Familie der Ginkgoaceae des Pflanzenreichs gibt es nur eine lebende Art, den Ginkgo biloba.

    Wissenschaftler glauben, dass es auf der Welt einst viele verschiedene Ginkgo-Arten gab. Versteinerte Pflanzen, die in einem Kohlebergwerk in Zentralchina gefunden wurden und 170 Millionen Jahre alt sind, verweisen auf Ginkgo-ähnliche Bäume mit nur geringen Abweichungen in der Form ihrer Blätter und der Anzahl der Samen.

    Ein Arrangement aus Ginkgoblättern, die hellgrün sind, bevor sie im Herbst einen leuchtenden Gelbton annehmen.

    Foto von Darlyne A. Murawski, Nat Geo Image Collection

    Die Art wird oft als lebendes Fossil bezeichnet – eine Kategorie, zu der unter anderem auch Pfeilschwanzkrebse und Königsfarne gehören –, weil sie ein Überbleibsel einer einst vielfältigen Gruppe ist, die vor Millionen von Jahren existierte. Da es sich beim Ginkgo um eine so alte Art handelt, weist er Merkmale auf, die man bei moderneren Bäumen nicht oft sieht.

    Ginkgobäume sind entweder männlich oder weiblich. Sie pflanzen sich fort, wenn ein Spermium von einem männlichen Baum – getragen von im Wind schwebenden Pollenkörnern – auf einen Samen eines weiblichen Baumes trifft und diesen befruchtet, nicht unähnlich dem menschlichen Befruchtungsprozess. Es gibt auch Anzeichen eines möglichen Geschlechtswechsels von männlich zu weiblich. Dieses Phänomen ist bei Ginkgos nur selten zu beobachten und noch nicht gut erforscht, aber man nimmt an, dass männliche Bäume manchmal weibliche Zweige ausbilden, um die Fortpflanzung zu gewährleisten.

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    Eine Theorie für den Untergang der Ginkgoarten beginnt vor 130 Millionen Jahren, als die blühenden Pflanzen begannen, sich zu diversifizieren und auszubreiten. Heute gibt es mehr als 235.000 Arten von Blütenpflanzen. Sie entwickelten und vermehrten sich rasch, wuchsen schneller und nutzten einerseits Früchte, um Pflanzenfresser anzulocken, und andererseits Blütenblätter, um mehr Bestäuber als die Ginkgos anzuziehen.

    „Es ist möglich, dass [Ginkgos] verdrängt wurden, da sie der Konkurrenz modernerer Pflanzen ausgesetzt waren“, sagt Crane.

    Die Ginkgos, die bereits um ihr Überleben kämpften, begannen während des Känozoikums aus Nordamerika und Europa zu verschwinden. Zu jener Zeit gab es eine globale Abkühlung, die vor etwa 66 Millionen Jahren begann. Als die letzte Eiszeit vor 11.000 Jahren endete, schienen sich die überlebenden Ginkgos auf China zu beschränken.

    Kultivierung durch den Menschen

    Ginkgobäume sind berüchtigt für ihren Gestank. Die weiblichen Bäume produzieren Samen mit einer äußeren fleischigen Schicht, die Buttersäure enthält – der charakteristische Geruch von menschlichem Erbrochenem.

    Zu der Frage, warum sie einen so penetranten Gestank entwickelt haben, sagt Crane: „Ich vermute, dass sie von Tieren gefressen wurden, die stinkende Dinge mochten. Sie wandern dann durch den Verdauungstrakt und keimen schließlich.“

    Dieselben Samen könnten dem Ginkgo vor 1.000 Jahren auch die Gunst des Menschen eingebracht haben. Wenn sie erst einmal von ihrer äußeren Schicht gereinigt wurden, ähneln Ginkgo-Samen Pistazien. Damals, als die Bäume anderswo längst verschwunden waren, könnten die Menschen in China begonnen haben, sie gezielt zu pflanzen und ihre Samen zu essen, sagt Crane. (Ginkgosamen sind erst essbar, wenn die giftige äußere Schicht entfernt wurde).

    Erst als der deutsche Naturforscher Engelbert Kaempfer Ende des 17. Jahrhunderts nach Japan reiste, das wohl bereits Ginkgos aus China erworben hatte, wurde die Pflanze nach Europa gebracht. Heute ist der Ginkgobaum einer der am weitesten verbreiteten Bäume an der amerikanischen Ostküste. Er ist anscheinend von Natur aus resistent gegen Schadinsekten, Pilze und hohe Luftverschmutzung. Zudem hat er Wurzeln, die auch unter Beton wachsen können.

    Die Art galt in freier Wildbahn als ausgestorben, bis Anfang des 20. Jahrhunderts im Westen Chinas eine mutmaßlich wilde Population entdeckt wurde. Eine 2004 veröffentlichte Studie widersprach dem jedoch. Die Autoren vermuteten stattdessen, dass diese Bäume von alten buddhistischen Mönchen kultiviert worden waren. Sie mutmaßten jedoch, dass es im Südwesten des Landes noch wilde Restbestände alter Ginkgos geben könnte.

    2012 zitierte eine neue Studie Beweise dafür, dass im südwestchinesischen Dalou-Gebirge tatsächlich eine Wildpopulation existierte.

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    „Ich denke, es könnte [auch] einige wilde Ginkgopopulationen im subtropischen China geben. Aber das muss noch weiter erforscht werden“, sagt Cindy Tang, eine Ökologin an der Universität Yunnan und Autorin der Studie von 2012. Für Züchter, die die domestizierte Art verbessern wollen, sind diese wilden Populationen eine potenzielle Goldgrube der genetischen Vielfalt.

    Crane macht sich aber keine Sorgen um die Zukunft des Baumes: Die Popularität der Art wird ihr helfen zu überleben. „Auch wenn ihr Status in der Wildnis prekär und die Bestände schwer zugänglich sein mögen, ist es eine Pflanze, die wahrscheinlich nie aussterben wird.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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