Die Welt ist bleifrei: Algerien verhängt als letztes Land Verbot für verbleites Benzin

Jahrzehntelang hat das Umweltprogramm der UN (UNEP) dafür gekämpft, nun ist die Produktion und der Verkauf von Benzin mit Bleizusatz endlich weltweit verboten.

Von Ingrid Lobet
Veröffentlicht am 3. Sept. 2021, 12:17 MESZ
Algerien tut es dem Rest der Welt gleich und verbietet den Verkauf von verbleitem Benzin.eaded-gasoline-algeria

Algerien tut es dem Rest der Welt gleich und verbietet den Verkauf von verbleitem Benzin.

Foto von Oliver Soulas, Laif, Redux

Verbleites Benzin gibt es nicht mehr. Es ist verbannt – von allen Tankstellen auf der ganzen Welt. Schon vor einem Vierteljahrhundert kam das Aus in Deutschland, mit Algerien hat im August 2021 nun auch das letzte Land auf diesem Planeten ein Verbot ausgesprochen.

„Das ist ein großer Tag“, sagt Jane Akumu, Leiterin des afrikanischen Programms für nachhaltige Mobilität beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP).

Sie gehört einem Kader aus internationalen Transport- und Kindergesundheitsexperten an, die sich schon seit 19 Jahren dem Problem von verbleiten Treibstoffen und Farben annehmen. In dieser Zeit gelang es dem Zusammenschluss aus 73 Gruppen aus Non-Profit-Organisationen und Industrie- und Regierungsgruppen unter der Schirmherrschaft der UNEP, in einem Land nach dem anderen für ein Verbot verbleiter Kraftstoffe zu sorgen.

Doch warum, wenn doch schon seit mehr als einem Jahrhundert bekannt ist, welche Gesundheitsrisiken von Blei ausgehen, hat sich dieser Prozess so lange hingezogen?

Wie Blei der Gesundheit schadet

Kommerziell relevant wurde die metallorganische Alkylverbindung Tetraethylblei in den 1920ern durch ihre Wirksamkeit als Antiklopfmittel für Motorenbenzin. Das Klopfen führte zu einem höheren Treibstoffverbrauch und beschädigte Motorenteile, der Kraftstoffzusatz Tetraethylblei unterband diese negativen Erscheinungen, wurde stark beworben und erfreute sich schnell großer Beliebtheit, obwohl sauberere, beispielsweise alkoholbasierte Produkte verfügbar waren.

Das Blei, das auf diese Weise seinen Weg in Tanks auf der ganzen Welt fand, wurde über Auspuffrohre wieder ausgestoßen. Die Partikel schwebten durch die Luft und legten sich auf Oberflächen: Benzin überzog die Welt mit einer Bleischicht.

In den frühen 1970er Jahren waren Forscher so alarmiert durch die negativen Folgen des Bleis für die Gesundheit, dass sie mit ihren Ergebnissen an die gerade erst gegründete U.S. Environmental Protection Agency herantraten. Das erste Land, das Blei verbot, war Japan im Jahr 1980. Österreich, Kanada, die Slowakei, Dänemark und Schweden folgten dem Beispiel kurze Zeit später, in Deutschland und den USA kam das Ende für verbleites Benzin im Jahr 1996.

Auch nach diesen ersten Verboten häuften sich Beweise dafür, dass Blei die Gesundheit schädigt.

Smog in Indien verursacht Autounfälle
8. November 2017 – Ein dichter Smog, der das 10-fache der empfohlenen Sicherheitsgrenzen übersteigt, hängt über Teilen Nordindiens. Die schlechte Sichtweite wurde als Ursache für eine Massenkarambolage mit 30 Autos etwa 48 km vor Neu-Delhi genannt. Das Einatmen der Luft wurde mit dem Rauchen von 50 Zigaretten pro Tag verglichen. Die kühlen Temperaturen und langsamen Winde sollen für die steigende Schadstoffbelastung verantwortlich sein.

Laut Amit Bhattacharya, Professor für Umweltgesundheit an der University of Cincinnati in Ohio, gibt es keine Stelle im menschlichen Körper, die durch Blei nicht angegriffen wird. „Der Bewegungsapparat, kognitive Bereiche, die Leber, die Nieren, das Sehvermögen – alles, was einem so einfällt, nimmt durch Blei Schaden.“

Mary Jean Brown, Lehrbeauftragte an der Harvard Chan School of Public Health in Boston Massachusetts, beschreibt den verheerenden Effekt, den Blei auf das Lesen haben kann: „Beim Lesen findet ein komplexer Prozess statt: Buchstaben, also Symbole, müssen erkannt und mit anderen Symbolen in Verbindung gebracht werden, diese Verbindung als Wort begriffen und dieses wiederum einem Objekt oder einer Aktivität zugeordnet werden.“

Kinder, die Blei ausgesetzt waren, sind in dieser Fähigkeit stark eingeschränkt, was sich in einem um bis zu zehn Punkte niedrigeren IQ niederschlagen kann.

„Ich hatte immer Probleme dabei, mich zu konzentrieren“, erzählt der 22-jährige Tony im Jahr 2003 in der Radiosendung „Living on Earth“. „Die ganze Schulzeit war hart, von der ersten bis zur elften Klasse.“ Als einer von 300 Probanden aus Cincinnati nahm Tony an der längsten Langzeitstudie teil, die Menschen begleitete, die bereits im Mutterleib Blei ausgesetzt waren.

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BELIEBT

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    Weniger bekannt als die Beeinträchtigung der Lernfähigkeit des Gehirns sind die Auswirkungen von Blei auf den Gleichgewichtssinn von Kindern und Erwachsenen. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt der Forschungen von Amit Bhattacharya, der mit seinem Team einen schnellen, nichtinvasiven Test erstellt hat, mit dem bleiverursachte Schädigungen ab einem Alter von fünf Jahren ermittelt werden können. Früh genug erkannt ist es möglich, Probleme mit dem Gleichgewicht und Bewegungsabläufen wieder in den Griff zu bekommen.

    „Im Gehirn der Geschädigten fehlen bestimmte Nervenzellen, die für das Halten der Balance verantwortlich sind. Sie sind einfach nicht da. Das Blei hat sie zerstört“, erklärt Amit Bhattacharya. Da das Blei die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, gibt es keine Stelle im Körper, die vor ihm sicher ist.

    Je länger die Forschungen zu dem Thema andauern, desto klarer wird, wie dramatisch der Einfluss ist, den Blei auf den Körper haben kann. Derzeit untersucht Amit Bhattacharya, in welchem Zusammenhang die chemische Verbindung mit frühzeitiger Knochenschwäche bei Frauen steht. „Bei einigen unserer Probandinnen sind die Knochen bereits im Alter von 30 Jahren so brüchig, wie man es sonst eher bei 47-Jährigen sieht“, sagt er.

    Die Forschungsergebnisse der vergangenen 20 Jahre zeigen, dass es keine Bleimenge gibt, die im Blut von Kindern unbedenklich ist.

    Jahrzehntelange Überzeugungsarbeit

    In den frühen 2000ern einigten sich 25 Subsahara-Länder beim Weltbildungsforum in Dakar darauf, verbleites Benzin sukzessive zu verbieten: der Startschuss für das UNEP-Programm, das sogleich seine Arbeit aufnahm.

    Luc Gnacadja, dem ehemaligen Umweltminister Benins, reichte ein Bericht über durch Blei verursachte Gesundheitsschäden, um das Vorhaben in die Tat umzusetzen. „Menschen, die durch Blei geschädigt sind, verursachen hohe Gesundheitskosten und ihre Arbeitskraft geht verloren. Der wirtschaftliche Schaden machte damals 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus: Der Preis des Nichtstuns war also hoch, aktiv zu werden lohnte sich. Das hat bei der Entscheidung sehr geholfen“, sagt er. Das Verbot für verbleites Benzin in Benin wurde innerhalb kurzer Zeit beschlossen.

    Doch in 117 anderen Ländern auf der Welt war der gesundheitsgefährdende Kraftstoff weiterhin verfügbar. Laut Rob de Jong, Leiter der Division für nachhaltige Mobilität bei UNEP, konnten zunächst schnelle Fortschritte verbucht werden, dann aber entwickelte sich die Kampagne zu einer zähen Angelegenheit. „Innerhalb von zehn Jahren war verbleites Benzin aus fast allen Ländern verbannt. Doch bis wir die fehlenden zehn ebenfalls von einem Verbot überzeugen konnten, vergingen weitere zehn Jahre“, sagt er.

    Dabei hatte das UNEP-Team oft mit Falschmeldungen zu kämpfen. Oft war das Problem, dass die Menschen an das neue, bleifreie Produkt nicht gewöhnt waren. Außerdem verbreitete sich das Märchen, dass ältere, gebrauchte Fahrzeuge nur dann ordentlich funktionierten, wenn man sie mit verbleitem Benzin betankte. „Es waren einige Legenden im Umlauf“, erinnert sich UNEP-Chefin Inger Anderson. Wer diese in die Welt gesetzt haben soll, will sie jedoch nicht verraten.

    Im Jahr 2010 war Innospec Inc., führender und zu der Zeit der geschätzt letzte nicht-chinesische Hersteller für bleihaltige Kraftstoffadditive, in einen Korruptionsskandal verwickelt, zu dem sich das Unternehmen vor einem britischen Gericht schuldig bekannte. Es hatte Mitglieder der indonesischen Regierung und leitende Angestellte von Raffinerien bestochen, damit diese ihre bleihaltigen Zusätze kauften. Innospec wurde zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von über 10,7 Millionen Euro verurteilt. Fünf Jahre später wies man dem ehemaligen Geschäftsführer der staatlichen indonesischen Raffinerie Pertamina nach, dass er über einen Mittelsmann Bestechungsgelder von Innospec angenommen hatte.

    Beispiele für die Behinderung der Bleiverbote aus Industriezweigen, die mit den Additiven ihr Geld verdienten, gibt es viele. Don Ryan, damaliger Geschäftsführer der Alliance for Healthy Homes, sagte im Jahr 2003 in einer „Living in Earth“-Dokumentation: „Die Industrie stellt generell wissenschaftliche Beweise in Frage, verhöhnt die reale gesundheitsschädliche Wirkung von Blei und behauptet, die Darstellung des Problems durch die Wissenschaftler sei völlig übertrieben.“

    Sauberer Kraftstoff: ein langer Weg

    Trotzdem machten Jane Akumu, Rob de Jong und der Rest des Teams Fortschritte.

    Eine Erkenntnis wurde dabei immer deutlicher: Länder mit eigenen Raffinerien unterschieden sich von denen, die ihr raffiniertes Benzin importierten.

    Kenia zum Beispiel, eines der größten afrikanischen Länder, verfügte über eigene Raffinerien und exportierte Kraftstoffe in andere Länder. „Statt an Kenia heranzutreten und dem Land zu sagen, wie es seine Raffinerien betreiben soll, sprachen wir mit den Verantwortlichen in Ruanda, Burundi, Uganda und Tansania und rieten ihnen dazu, bleifreie Kraftstoffe zu importieren, weil sie weniger gesundheitsschädlich sind“, erklärt Rob de Jong. So war es nicht UNEP, sondern die importierenden Länder, die Druck auf Kenia ausübten, indem sie nach bleifreiem Kraftstoff verlangten und ankündigten, diesen anderswo zu kaufen, sollte Kenia ihre Nachfrage nicht bedienen.

    Gruppenzwang wäre, so Rob de Jong, eine wirkungsvolle Methode gewesen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Das UNEP-Team legte den Regierungen zum Beispiel Karten vor, auf denen die Länder, die Bleiverbote eingeführt hatten, blau markiert waren, sodass die Minister fragten: „Wieso sind wir noch rot, wenn alle um uns herum blau sind?“

    Jane Akumu fand außerdem heraus, dass es sinnvoll war, die Mitarbeitenden an den Zapfsäulen auszubilden. „Sie wurden unsere Botschafter“, sagt sie. An Tankstellen auf der ganzen Welt erklärten Tankstellenangestellte den Kunden, dass bleifreies Benzin ihrem Fahrzeug nicht schaden würde und für ihre Gesundheit viel besser sei.

    Über die Jahre erhobene Daten zeigen klar und deutlich, dass die Bleiwerte im Blut der Menschen sanken, sobald der Kraftstoffzusatz aus dem Alltag verschwand.

    „Im Jahr 1986 lag der durchschnittliche Bleiwert im Blut von Kindern in den Vereinigten Staaten bei 8 μg pro Deziliter. Heute liegt er bei 0,9“, sagt Mary Jean Brown, die sich seit bald schon 40 Jahren mit dem Blei-Problem beschäftigt.

    Im Jahr 2016 waren Algerien, der Jemen und der Irak die letzten Orte der Welt ohne Bleiverbot.

    Im August 2021 hat nun endlich auch Algerien – als letztes übriges Land – seine letzten Bleivorräte aufgebraucht. Laut Schätzungen von UNEP wird dies den vorzeitigen Tod von 1,2 Millionen Menschen verhindern. Die Wirtschaft könnte durch die vermiedenen Gesundheitskosten und gewonnene Arbeitskraft um mehr als zwei Billionen Euro pro Jahr wachsen.

    Doch Jane Akumus ist noch lange nicht zufrieden. Als nächstes will sie dafür kämpfen, Schwefel aus Dieselkraftstoffen zu verbannen und dadurch das weltweite Lungenkrebsrisiko zu minimieren.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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