Was ein uralter Mangrovenwald über die Zukunft der Erde verraten könnte

An dem 100.000 Jahre alten Wald lässt sich ablesen, dass der Meeresspiegel einst um mehrere Meter höher gelegen haben muss als heute – eine Warnung, wie sehr er infolge des Klimawandels steigen könnte.

Von Alejandra Borunda
Veröffentlicht am 8. Okt. 2021, 15:00 MESZ
Die El-Cacahuate-Lagune ist von Mangroven gesäumt.

Die El-Cacahuate-Lagune grenzt an den Fluss San Pedro Mártir im mexikanischen Bundesstaat Tabasco. Die Lagune ist von Mangroven gesäumt, obwohl sich deren eigentlicher Lebensraum an der rund 160 Kilometer entfernten Küste befindet.

Foto von Octavio Aburto

Das Forschungsteam war mehr als 160 Kilometer landeinwärts von der Küste entfernt unterwegs. Es bewegte sich entlang des Flusses San Pedro Martír nahe der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze, als es auf etwas Unerwartetes stieß: einen Mangrovenwald, der die Ränder einer großen schimmernden Lagune am Fluss säumte.

Eigentlich sollten diese Bäume dort gar nicht zu finden sein. Normalerweise ist ihr Vorkommen auf schmale Küstenbereiche beschränkt, wo sie in unwirtlichem Salzwasser und Sturmfluten gedeihen.

Und doch waren sie da, mehrere Meter über dem jetzigen Meeresspiegel und oberhalb einer Ansammlung von Wasserfällen. Nach einer eingehenden Untersuchung fanden die Forscher etwas noch Bemerkenswerteres heraus: Diese Mangroven sind lebendige Überbleibsel einer früheren Welt. Ihre Vorfahren gelangten vor etwa 100.000 Jahren an diesen Ort, als der Planet ungefähr so warm war wie heute, der Meeresspiegel jedoch um viele Meter höher. Als die Meere zurückwichen, konnte diese Mangrovenpopulation dennoch überleben.

“[Die Magroven] sind lebende Relikte aus einer vergangenen Welt.”

Aburto-Oropeza.

„Wir rekonstruierten das Bild einer verlorenen Welt“, erklärt Octavio Aburto-Oropeza, der als Forscher an der Scripps Institution of Oceanography im kalifornischen San Diego tätig ist. Als leitender Autor einer neuen Studie hat er die Forschungsergebnisse in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.

Die urtümliche Meeresküste liegt weit von den uns bekannten Ufern entfernt und half den Forschenden herauszufinden, wie viel höher der Meeresspiegel während der letzten Warmzeit genau war. Das Thema sorgt für rege Diskussion und ist deshalb so wichtig, weil es dabei helfen kann, den Anstieg des Meeresspiegels infolge der Erderwärmung abzuschätzen.

Lebendige Überbleibsel einer vergangenen Welt

Zwar ist es Mangroven möglich, außerhalb der für sie üblichen schmalen Küstenstreifen zu überleben, jedoch können sie nicht gut mit anderen Pflanzen konkurrieren, erklärt Véronique Helfer, Mangrovenexpertin am Leibniz Zentrum für Marine Tropenforschung: „Normalerweise ist ihr Vorkommen auf die Gezeitenzone beschränkt.“

Als Teil eines Mangrovenwaldes, der eine Lagune umgibt, steht eine Mangrove inmitten von Wasserfällen. Der Wald stammt von uralten Mangroven ab, die dort lebten, als der Meeresspiegel um einige Meter höher lag und das Gebiet eine Küste war – vor etwa 100.000 Jahren.

Foto von Octavio Aburto

Die neu entdeckten Inlandmangroven konnten kilometerweit von einer Küste entfernt überleben, weil aus den umgebenden Böden große Mengen Kalzium in die Lagune und in das Flusswasser sickert. Dadurch entsteht ein Lebensraum, der dem Meerwasser so ähnlich ist, dass die Bäume dort bestehen können.

Und die Mangroven sind nicht allein. Auch andere Pflanzen, die gewöhnlich mit Mangroven leben, sind dort zu finden: elegante Orchideen, zarte Farne und Meerestrauben. Uralte Austernschalen sind in den Sedimenten unter den holzigen Mangrovenwurzeln eingelagert. Alte Sanddünen und Strandkiesel erstrecken sich von den Rändern der Lagune aus.

Die wichtigere Frage für Aburto-Oropeza und sein Team war jedoch, wie und wann die Mangroven an diesen Ort gekommen waren. Mangroven verbreiten sich in der Regel nicht weiträumig oder schnell; sie siedeln sich eher örtlich begrenzt an. Die Samen keimen, während sie sich noch am Baum befinden, fallen ins Gezeitenwasser und legen dann meistens auf dem Wasser treibend eine kurze Strecke zurück, bevor sie ganz in der Nähe Wurzeln schlagen, erläutert Neil Saintilan, Mangrovenexperte an der australischen Macquarie-Universität.

Das Wasser wäre nicht in der Lage gewesen, die Mangrovensetzlinge stromaufwärts und über hohe Wasserfälle hinweg zu tragen. Die Vorfahren dieser Bäume mussten sich also angesiedelt haben, als der Ort eine Küste war, mutmaßten Aburto-Oropeza und seine Kollegen.

Um diese Theorie zu prüfen, verglichen sie die genetische Beschaffenheit der Mangroven mit anderen, die im Küstengebiet von Yucatán vorkommen. „Die Geschichte eines jeden Organismus ist in seiner DNA festgeschrieben“, sagt Felipe Zapata, ein Biologe an der UCLA, der die Genanalyse durchgeführt hat.

Wären die Inlandmangroven während der letzten Warmzeit an ihrem jetzigen Standort gewachsen sind und dort verblieben, als der Meeresspiegel sank, so sollten sie genetisch anders beschaffen sein als die neuzeitlichen Bäume. Anhand der Genomanalyse ließ sich nachweisen, dass genau das der Fall ist.

Aber das Team ging noch einen Schritt weiter. Zellen machen bei der Kopie genetischen Materials unerhebliche Fehler. Diese winzigen Veränderungen häufen sich mit einem überraschend regelmäßigen Tempo an – wie eine molekulare Uhr, die die genetische Zeit markiert. Diese Uhr legt nahe, dass die Mangroven der Lagune über circa 100.000 Jahre von ihren nächsten Verwandten isoliert waren. Das macht sie zu einem „lebenden Relikt aus einer vergangenen Welt“, sagt Aburto-Oropeza.

Diese Zeitberechnung stimmt genau mit einer Ära der Erdgeschichte überein, in der der Meeresspiegel deutlich höher lag als heute. Um wie viel genau, ist noch immer nicht vollständig geklärt.

Eine Zierschildkröte findet zwischen den überfluteten Wurzeln des Mangrovenwaldes Unterschlupf. 

Foto von Octavio Aburto

Der Meeresspiegel in der Vergangenheit

Im Laufe ihrer Geschichte hat die Erde enorme klimatische Wandel durchlaufen, die durch Veränderungen in ihrer instabilen Umlaufbahn ausgelöst wurden. Zeitweise war der Planet näher zur Sonne geneigt und konnte Wärme wirkungsvoller absorbieren. Zu anderen Zeiten erstreckte sich seine Umlaufbahn entlang einer Achse, weiter entfernt von der Wärme der Sonne. Die weltweiten Temperaturen schlugen in der Folge nach oben und unten aus.

Diese Temperaturwechsel haben einschneidende Auswirkungen auf den Meeresspiegel. Während der großen Eiszeiten – darunter jene, welche vor etwa 20.000 Jahren auf der Erde herrschte – war Nordamerika bis in so südliche Gebiete wie die Großen Seen und Long Island von gigantischen Eisdecken bedeckt. Die Antarktis war weiter ausgedehnt als sie es heute ist. Gewaltige Wassermengen waren als Eis gebunden, was den Meeresspiegel sinken ließ. Kältere Ozeane waren zudem kleiner, und die Küsten erstreckten sich kilometerweit von ihren jetzigen Positionen entfernt. Während der Warmzeiten hingegen schmolz das Eis, und das Wasser der Ozeane nahm mehr Platz ein; der Meeresspiegel stieg an.

Die letzte Warmzeit der Erde erreichte vor circa 120.000 Jahren ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit lagen die Temperaturen um zwischen 0,5 und 1,5 Grad Celsius höher als vor der industriellen Revolution. Inzwischen hat sich der Planet auf etwa 1 Grad Celsius über den vorindustriellen Durchschnittswert erwärmt. Damit gleichen die heutigen Temperaturen in etwa denen der letzten Warmzeit. Die Mehrheit der Länder, die das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet haben, sind sich einig, dass die gesamte Erderwärmung unter 2 Grad Celsius und idealerweise unter 1,5 Grad Celsius gehalten werden sollte.

„Was das Klima anbelangt, sah die Welt gar nicht so sehr anders aus“, sagt Alex Simms. Als Geologe an der University of California in Santa Barbara hat er die Geschichte des Meeresspiegels am Golf von Mexiko untersucht. „Bedeutet das also, dass wir für die kommenden 1.000 Jahre mit einem Anstieg des Meeresspiegels um fünf Meter oder mehr rechnen müssen?“

Winzige Meerestiere könnten Klima an Land beeinflussen
Diese winzigen Meerestiere könnten gewaltigen Einfluss auf das Meer haben.

Die Abweichungen sind von enormer Bedeutung. Selbst bei einem Anstieg um einen Meter würden riesige Küstengebiete überschwemmt, in denen sich Großstädte, Wirtschaftszentren und kulturelle Ressourcen befinden. Rund 770 Millionen Menschen leben in Höhenlagen, die das heutige Normalnull um weniger als fünf Meter überschreiten. Ein Anstieg um neun oder zehn Meter hätte katastrophale Auswirkungen. Für die Forschenden sind deshalb alle Werte, die Informationen über das Klimageschehen der Vergangenheit liefern, hilfreich, da sie so genauere Voraussagen über zukünftige Risiken treffen können.

Wie hoch lag der Meeresspiegel genau?

Zu ermitteln, wo der Meeresspiegel vor 100.000 Jahren stand, als die Vorfahren der Mangroven Wurzeln schlugen, erweist sich als schwierig. Oft suchen Forscher nach Korallen oder Sanddünen, da sie Hinweise auf ehemalige Küstenabschnitte geben können. Dann vermessen sie die Entfernung zwischen diesen Gebieten und den heutigen Küsten, um Aussagen über die Unterschiede zwischen den jeweiligen Höhen der Meeresspiegel zu treffen. Dabei verkomplizieren unzählige Aspekte das Messverfahren, so etwa der Wechsel der Gezeiten oder die geologischen Bedingungen vor Ort. Der Ursprung des schmelzenden Eises – zum Beispiel Grönland im Gegensatz zur Antarktis – kann die Erfassung Daten zum Meeresspiegel an entlegenen Orten noch weiter erschweren.

Die Mangroven der Lagune wurden mehr als neun Meter oberhalb des heutigen Meeresspiegels gefunden. Das Team fand überdies auch geologische Zeugnisse: Eine Familie hob in der Nähe einen Brunnen aus und stieß nach einigen Metern auf eine dicke Schicht aus Muscheln und Sand. Das Forscherteam konnte bestätigen, dass es sich dabei um Teile eines historischen Strandes handelt, der sich etwa zehn Meter oberhalb des Meeresspiegels befunden haben muss.

Das ruhige kalziumreiche Gewässer des Flusses San Pedro Mártir ermöglicht es den Mangroven, ohne Salzwasser zu überleben.

Foto von Octavio Aburto

Diese Zahl markiert das oberste Ende des geschätzten Meeresspiegelanstiegs, der nach Meinung vieler Wissenschaftler während der letzten Zwischeneiszeit möglich gewesen ist. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese Erhöhung, die das Team ausgemacht hat, nicht unbedingt einen Meeresspiegelanstieg um ganze neun Meter abbildet, erklärt Nicole Khan, Expertin für Meeresspiegel an der Universität Hongkong. Die Zahl könne auch aufgrund geologischer Veränderungen tief im Erdmantel nach oben hin verfälscht sein.

Der Standort Yucatán ist wahrscheinlich von einem Prozess betroffen, der glazial isostatische Anpassung genannt wird. Wenn sich große Eisdecken – so wie die, von der Nordamerika während der letzten Eiszeit überzogen war –  bilden, werden sie so schwer, dass sie die darunterliegende Erdkruste nach unten drücken. Das kann man sich wie einen Körper vorstellen, der in eine Matratze einsinkt. Die Erdkruste wiederum drückt dann auf den Erdmantel. Dieser wölbt sich außerhalb des gequetschten Bereiches, was zur Formung einer Ausbeulung oder eines Kammes führt. Diese sogenannten Vorbulgen sind also Formationen, die höher liegen als die Erde an dieser Stelle normalerweise wäre.

“Wir sollten uns wirklich auf einen weitaus höheren Meeresspiegel einstellen.”

Alex Simms

Yucatán liegt vermutlich im Bereich der durch eine enorme Eisschicht entstandenen Vorbulge. Die Region würde heute demnach höher liegen als einst, da sie von der nun verschwundenen Eisschicht nach oben gedrückt wurde. Eine Studie zeigte kürzlich, dass dieser Effekt in der nahen Karibik einige Meter Unterschied ausmachen könnte. Träfe das auch für die Fundstelle zu, so würde der von den Forschern entdeckte neun oder zehn Meter hoch gelegene Strand in der Tat für einen niedrigeren Meeresspiegel sprechen.

Laut Khan seien noch viele große Fragen zum Meeresspiegelaspekt zu klären. Der wichtige Teil aber sei, dass die Forschung jene bislang erhobenen Daten insofern ergänze, als dass sie zeige, dass große Veränderungen des Meeresspiegels auch unter Bedingungen möglich seien, die den jetzigen recht ähnlich sind.

„Mit dem Meeresspiegel im Blick verdeutlichen diese und andere Forschungsarbeiten, dass er einmal viel höher lag als heute – selbst ohne unser Herumpfuschen am Klima. Wir sollten uns also wirklich auf einen weitaus höheren Meeresspiegel einstellen“, sagt Simms.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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