Fossilfund: Lebten schon Frühmenschen auf dem Dach der Welt?

Ein Kieferknochen bricht den bisherigen Rekord für die früheste Besiedlung des Hochlands von Tibet und liefert neue Einblicke zu den geheimnisvollen Denisova-Menschen.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 2. Mai 2019, 21:35 MESZ
Sterne funkeln über einem Gletscher auf dem Animaqin im tibetischen Bezirk Golog. Aufgrund der dünnen Luft ...
Sterne funkeln über einem Gletscher auf dem Animaqin im tibetischen Bezirk Golog. Aufgrund der dünnen Luft und des harschen Klimas im Hochland von Tibet nahmen Forscher lange Zeit an, dass frühe Menschen in dieser Region nicht überleben konnten.
Foto von Kieran Dodds, Panos Pictures, Redux

Der Eingang zur Baishiya-Karst-Höhle befindet sich am Fuße einer gewaltigen Felswand am Rande des Hochlands von Tibet. Bunte Gebetsflaggen wurden kreuz und quer über die Öffnung im Felsen gespannt. Es ist ein heiliger Ort, an den die Tibeter schon seit langer Zeit kommen, um zu beten und von Krankheiten zu genesen. Im kühlen Inneren der Höhle entdeckte ein Mönch 1980 etwas, mit dem eigentlich niemand gerechnet hatte: einen Kieferknochen mit zwei großen Zähnen, der zwar von einem Menschen zu stammen schien, aber dennoch fremdartig und anders wirkte.

Eine Studie, die in „Nature“ veröffentlicht wurde, offenbarte nun die Geheimnisse dieses uralten Kieferknochens. Eine detaillierte Analyse seiner Form und der Proteine, die aus dem Fossil extrahiert wurden, lässt darauf schließen, dass der etwa 160.000 Jahre alte Knochen von einem Vertreter der geheimnisvollen Denisova-Menschen stammt. Diese Schwestergruppe der Neandertaler war bislang nur von ein paar wenigen Fossilien aus einer einzigen sibirischen Höhle im Altaigebirge bekannt.

„Ich konnte das einfach nicht glauben, als [meine Kollegen] mir davon erzählten“, sagt die Co-Autorin der Studie, Dongju Zhang von der chinesischen Universität Lanzhou.

Zhangs Aufregung ist durchaus gerechtfertigt: Der Xiahe-Kiefer – benannt nach dem chinesischen Kreis, in dem er gefunden wurde – schließt eine große Lücke, die in unserem Wissen über diese rätselhaften Frühmenschen klafft. Obwohl die einzigen anderen bestätigten Denisova-Fossilien aus der namensgebenden Höhle in Sibirien stammen, finden sich ihre DNA-Spuren heutzutage in zahlreichen Populationen Asiens und Australasiens. Die Entdeckung des Xiahe-Kiefers in mehr als 2.200 Kilometern Entfernung von der sibirischen Höhle bestätigt, dass die Denisova-Menschen sich noch viel weiter über den Kontinent verbreitet hatten.

Vermutlich trennten sich die Abstammungslinien der Denisova-Menschen und der Neandertaler vor mindestens 400.000 Jahren, als die Denisova-Menschen ostwärts nach Asien zogen, während sich die Neandertaler über Europa und Westasien verbreiteten. Der moderne Mensch verließ Afrika vermutlich erstmals vor etwa 200.000 Jahren, zunächst in kleinen Gruppen und später in Wellen. Im Nahen Osten trafen er dann auf die Neandertaler und zeugte gemeinsamen mit ihnen Nachwuchs. Jene, die weiter nach Osten bis nach Asien wanderten, kreuzten sich mit den Denisova-Menschen, deren genetischer Fingerabdruck noch heute in Asien zu finden ist.

Eines dieser genetischen Überbleibsel hilft heutigen Sherpas und Tibetern dabei, mit der dünnen Luft auf dem Dach der Welt zurechtzukommen. Zuvor hatten sich die Fossilbelege der Denisova-Menschen auf vergleichsweise niedrige Höhenlagen beschränkt: Die Denisova-Höhle liegt nur etwa 700 Meter über dem Meeresspiegel. Der Xiahe-Kiefer, der auf einer Höhe von etwa 3.280 Metern gefunden wurde, ist der erste physische Beleg dafür, dass die Denisova-Menschen sich in dieselben Höhen begaben wie heutige Menschen, die auf das Leben in sauerstoffarmen Umgebungen angepasst sind. Mit 160.000 Jahren ist der Kiefer zudem viermal so alt wie die frühesten Belege für menschliche Aktivität im Hochland von Tibet mit seinen schwierigen klimatischen Bedingungen. Damit zeugt das Fossil auch von der bemerkenswerten Belastbarkeit unserer alten Verwandten.

„Dank dieser Studie kommen wir den Denisova-Menschen so langsam auf die Schliche“, schrieb María Martinón-Torres, die Leiterin des spanischen Forschungszentrums für menschliche Evolution, in einer E-Mail. „Unser Bild von ihnen wird zunehmend weniger verschwommen.“

Foto von Jason Treat, Ngm Staff

Der Mönch und der Kieferknochen

Obwohl der Kiefer schon in den Achtzigern entdeckt wurde, begannen Forscher erst 30 Jahre später mit seiner Untersuchung. 2010 wandte sich Zhang, die gerade ihren Doktortitel erhalten hatte, auf Anraten ihres Kollegen Guangrong Dong und ihres Professors Fahu Chen – der Leiter der aktuellen Studie – dem Fossil zu.

Zunächst galt es herauszufinden, wo genau der Kieferknochen entdeckt wurde. Der anonyme Mönch, der ihn gefunden hatte, übergab ihn dem sechsten Lebenden Buddha Gung-Thang, der als Reinkarnation der früheren Inhaber dieses Titels angesehen wird. Allerdings vergaß der Mönch dabei zu erwähnen, in welcher Höhle er das Fossil entdeckt hatte.

Das Team grenzte die Möglichkeiten ein, sodass am Ende nur noch ein Kandidat übrigblieb: die Baishiya-Karst-Höhle im Kreis Xiahe, deren Name im chinesischen so viel wie „weiße Klippe“ bedeutet. Die anschließenden Ausgrabungen in der Höhle förderten Steinwerkzeuge und große Tierknochen mit Schnittspuren zutage. Derzeit werden diese Artefakte noch untersucht, erklärt Zhang. Deshalb könne sie noch nicht sagen, ob die Werkzeuge und die Schnittspuren von den Denisova-Menschen aus der Höhle stammen.

„Jeder Schritt nimmt viel Zeit in Anspruch“, sagt sie über das Forschungsprojekt.

Die Analysen des Kieferknochens hielten noch mehr Überraschungen bereit. Seine Morphologie lässt vermuten, dass er weder zu Homo erectus, noch zu Homo sapiens gehörte. Von beiden Arten gibt es in ganz Asien zahlreiche Fossilien. Die Form der Zahnreihe war beispielsweise nicht langgezogen genug, um vom Homo erectus zu stammen. Außerdem fehlte dem Kiefer ein Kinn, über das nur moderne Menschen verfügen. Am deutlichsten stach aber die schiere Größe der Zähne hervor: Die Kauwerkzeuge waren ähnlich groß wie die Zähne aus der Denisova-Höhle.

„Für mich fällt das ziemlich genau in die Morphologie, die man erwarten würde“, sagt Bence Viola, ein Paläanthropologe der University of Toronto und Experte für die Morphologie von Denisova-Fossilien. „Es sieht genauso aus, wie man es sich erhoffen würde.“

Um ihre Vermutung zu bestätigen, versuchten die Forscher, DNA aus dem Kiefer zu gewinnen. Die Analyse offenbarte jedoch, dass sich die uralte DNA im Laufe der Zeit zersetzt hatte. Daraufhin versuchten es die Forscher mit einem etwas langlebigeren molekularen Werkzeug: den Proteinen, die auf Basis des genetischen Codes erzeugt wurden.

Die Forscher extrahierten Proteine aus dem Kieferknochen selbst sowie aus dem Dentin in den Zähnen. Dann nutzten sie ein Enzym, um die Proteine in kurze Stränge zu zerlegen und so die Aminosäuren zu identifizieren, die von der DNA codiert wurden. Insgesamt ähnelten die Dentinproteine denen der Denisova-Menschen aus dem Altaigebirge deutlich stärker als denen von Neandertalern oder modernen Menschen, sagt Frido Welker von der Universität Kopenhagen. Der Wissenschaftler ist auf die Analyse von Proteinen alter Hominini-Vertreter spezialisiert und leitete diese Phase der Studie.

„Ich liebe es einfach, wie die Toten mit Hilfe hoch moderner Technologien zum Sprechen gebracht werden“, sagt Martinón-Torres, die an der Arbeit selbst nicht beteiligt war. „Schon die Paläogenetik hat das Feld der Paläoanthropologie revolutioniert, und die Proteomik eröffnet der Forschung nun wieder neue Wege zu ungeahntem Wissen.“

Geisterjagd im Stammbaum

Allerdings haben Informationen, die aus Proteinen gewonnen wurden, auch ihre Grenzen. Innerhalb der Denisova-Gruppe gibt es eine erstaunliche Vielfalt. Eine in diesem Jahr veröffentlichte Studie deutet darauf hin, dass es sich bei jener Menschenart, die wir als Denisova-Menschen bezeichnen, um mindestens drei genetisch verschiedene Abstammungslinien handeln könnte. Da sich die Proteine über verschiedene Gruppen und Generationen hinweg aber sehr ähneln, lässt sich nur schwer mit Sicherheit sagen, welcher dieser Abstammungslinien der Besitzer des Kiefers am meisten ähnelt – oder ob er gar aus einer vierten Gruppe stammt.

„Auf die eine oder andere Art wird dieser Kiefer sich in die Geschichte einfügen“, sagt Welker.

Der neu beschriebene Kieferknochen – der Xiahe-Kiefer, benannt nach dem chinesischen Kreis, in dem er gefunden wurde – ist der erste physische Beleg für Denisova-Menschen jenseits der Denisova-Höhle in Sibirien.
Foto von Dongju Zhang, Lanzhou University

Weiterhin bleibt unklar, welche Rolle die Denisova-Menschen bei der Anpassung des modernen Menschen an große Höhenlagen gespielt haben könnten, erklärt Emilia Huerta-Sanchez, eine Populationsgenetikerin der Brown University und Hauptautorin der 2014 in „Nature“ veröffentlichten Studie, die erstmals auf diese genetische Verbindung hinwies.

„Ich stimme mit den Autoren darin überein, dass diese Hominini-Gruppe womöglich an die Höhenlage angepasst war“, sagt sie. „Aber ich denke nicht, dass wir das mit Sicherheit sagen können.“

Huerta-Sanchez erklärt, dass die genetischen Veränderungen, den heutigen Tibetern dabei hilft, mit der dünnen Luft in großen Höhen fertig zu werden, nicht zu einer Gensequenz gehört, die Proteine kodiert, sondern bestimmt, wie viele Proteine produziert werden. Der Kiefer wurde zwar an einem Ort gefunden, an dem die Luft recht dünn ist, aber ohne DNA-Proben können die Wissenschaftler nicht genau sagen, ob der Besitzer des Kiefer über eine Anpassung verfügte, die ihm das Überleben in dieser Umgebung erleichterte.

Neubewertung nötig

Obwohl es noch viele Unklarheiten gibt, warten die Wissenschaftler gespannt darauf, welche Erkenntnisse sich aus dem Kiefer noch ergeben könnten und wie sie unser Bild von der menschlichen Evolution in Asien vielleicht beeinflussen. Mit Hilfe des Kiefers könnte man eventuell andere Denisova-Menschen aus der wachsenden Sammlung an Fossilien identifizieren, die bislang in keinen Zweig des zunehmend verworrenen Familienstammbaums des Menschen zu passen scheinen, sagt Martinón-Torres, die sich ausgiebig mit dem asiatischen Fossilbericht befasst hat. Einer der Backenzähne aus dem Kiefer ähnelt beispielsweise einem Zahn aus einem bereits beschriebenen Kiefer namens Penghu 1, was darauf hindeutet, dass es sich dabei ebenfalls um Überreste eines Denisova-Menschen handeln könnte.

Im Jahr 1980 entdeckte ein Mönch den ungewöhnlichen Kieferknochen in der Baishiya-Karst-Höhle am Rande des Hochlands von Tibet. Schon seit Langem pilgern Tibeter dort hin, um zu beten und von Krankheiten zu genesen.
Foto von Dongju Zhang, Lanzhou University

Die Studie hat auch andere Forscher neugierig darauf gemacht, was sich in diesen großen Höhen noch alles verbergen könnte. „Die asiatischen Hochgebirge sind noch sehr wenig erforscht“, sagt Viola. „Man ist im Normalfall einfach davon ausgegangen, dass da niemand gelebt hat.“

Viola erforscht eine der wenigen anderen Hominini-Fundstellen, die bislang in großer Höhe identifiziert wurden: die Sel’ungur-Höhle in Kirgisistan, die sich in fast 1.900 Metern Höhe befindet. Er und seine Kollegen waren immer davon ausgegangen, dass die fossilen Knochenfunde in der Höhle zu Neandertalern gehören. Die aktuelle Studie gibt ihm nun aber zu denken.

„Vielleicht waren es ja Denisova-Menschen.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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