Coronavirus: Wann erreichen wir die Herdenimmunität?
Eine flächendeckende Immunisierung der Bevölkerung ist auf lange Sicht unerlässlich, um die Pandemie zu stoppen. Welche Strategie ist dabei die sinnvollste?
Als weltweit Schulen und Arbeitsplätze geschlossen und öffentliche Events verboten wurden, um die rapide Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, löste die ursprüngliche Strategie Großbritanniens vielerorts Empörung aus.
Dort wurden zunächst weder Massenansammlungen verboten, noch gab es strikte Verordnungen zum Social Distancing. Der Plan, der viele Mediziner überraschte, sah den Behörden zufolge Folgendes vor: Das Virus sollte nur durch schrittweise Maßnahmen unterdrückt werden, damit sich genügend Leute anstecken könnten.
Die Strategie sei ein Versuch gewesen, eine Herdenimmunität aufzubauen, sodass „genügend von uns, die nur milde Symptome zeigen werden, immun werden können“, erklärte Sir Patrick Vallance am 13. März in einem Interview mit Sky News. Vallance ist der oberste wissenschaftliche Berater der britischen Regierung.
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Wenn COVID-19 nicht mit so großen Risiken einhergehen würde, wäre es technisch gesehen möglich, eine Herdenimmunität aufzubauen, wenn man der Krankheit in der Bevölkerung freien Lauf ließe. Bisherige Erkenntnisse zeigen allerdings, dass so ein Szenario zu einer großen Zahl an Klinikaufenthalten führen würde, der das Gesundheitssystem nicht gewachsen wäre.
Nachdem neue Simulationen der Epidemie vom Imperial College London gezeigt haben, wie stark die Krankenhäuser dadurch belastet würden, änderte die Regierung am 16. März schlagartig ihren Kurs. Bis zum Ende der Woche hatte der Premierminister Maßnahmen zum Social Distancing verkündet und sämtliche Pubs, Restaurants, Fitnessstudios und Kinos geschlossen.
Trotzdem ist die Frage der Herdenimmunität bei der Coronavirus-Pandemie noch nicht vom Tisch. Sie könnte den Erfolg bei der Entwicklung eines Impfstoffes ebenso beeinflussen wie die Wahrscheinlichkeit, dass es nach dem Ende der Social-Distancing-Maßnahmen zu einem erneuten Aufflammen der Krankheit kommt.
Schneller sein als das Virus
Viren müssen hinterhältig agieren, um zu bekommen, was sie wollen. Sie tarnen sich, wenn sie in einen Wirt eindringen, und übernehmen dort dessen Zellen, um sich einen Vorsprung vor dem Immunsystem zu verschaffen. Sobald die Zelle den Krankheitserreger erkennt, schickt sie ein Alarmsignal an das Immunsystem. Dank seines Vorsprungs hat das Virus aber noch Zeit, sich zu replizieren und neue Zellen zu übernehmen, ehe die Immunreaktion einsetzt.
Bis es dazu kommt, können bis zu 24 Stunden vergehen, erklärt Elly Gaunt, eine Virologin vom Roslin Institute der University of Edinburgh. Eine großflächige Immunreaktion kann weitere drei Tage dauern. Das bedeutet, dass Viren – wie beispielsweise Grippeviren, die sich binnen acht Stunden vermehren – dann bereits einen gewaltigen Vorsprung haben.
Deshalb kann es besonders unangenehm sein, das erste Mal an einer bestimmten Krankheit zu leiden. Ein zweites Mal lässt sich das Immunsystem nicht so leicht austricksen. Wenn es einen Krankheitserreger einmal besiegt hat, hält es genau für diesen Erreger spezialisierte Antikörper bereit. Auf einen zweiten Virenbefall kann es dann deutlich schneller reagieren, sodass sich die Krankheit nicht so schnell im Körper ausbreiten kann.
Menschen mit einer solchen Immunreaktion übertragen die Krankheit nicht so leicht, sagt Katie Gostic, eine Forscherin von der University of Chicago, die sich auf Grippeimmunität spezialisiert hat. Wenn sich eine virale Krankheit nicht weiter ausbreiten kann, ebbt die Epidemie ab und verlischt, erklärt sie.
Eine Herdenimmunität entsteht aber nur dann, wenn ein bestimmter Teil der Bevölkerung immun gegen eine Infektionskrankheit ist, erklärt Yonatan Grad, ein Epidemiologe der Harvard T.H. Chan School of Public Health. Man kann also nicht nur ein bisschen Herdenimmunität haben – genau so, wie man auch nicht nur ein bisschen schwanger sein kann, sagt er.
Um eine Herdenimmunität zu erreichen, muss jede infizierte Person im Schnitt weniger als eine andere Person anstecken. (Natürlich kann man keine halbe Person anstecken: Wenn einige Menschen ihre Infektion weitergeben, viele andere aber nicht, sinkt die durchschnittliche Infektionsrate unter den Wert von eins.) Sobald die Infektionsrate geringer als eins ist, hat eine Bevölkerung die Herdenimmunität erreicht. Das wird weitere Infektionen zwar nicht verhindern, aber es sorgt dafür, dass sich die Krankheit nicht unbegrenzt ausbreitet.
Viel von dem, was wir über Herdenimmunität wissen, haben wir von Masernausbrüchen gelernt. Je ansteckender eine Krankheit ist, desto mehr Menschen müssen immun werden, damit eine Herdenimmunität erreicht wird. Ein einziger Mensch, der die Masern hat, kann bis zu 18 weitere Menschen infizieren. Damit diese Infektionsrate auf weniger als eins sinkt, muss fast jedes Mitglied der Population als Puffer zwischen einem Infizierten und einem neuen potenziellen Wirt fungieren. Deshalb muss die Immunitätsrate so hoch sein, um eine Herdenimmunität für die Masern zu erreichen – immerhin um die 95 Prozent.
Bisher sieht es so aus, als hätte das Coronavirus eine deutlich geringere Infektionsrate als die Masern: Jeder Infizierte scheint im Schnitt zwei bis drei weitere Personen anzustecken. Das bedeutet, dass eine Herdenimmunität für COVID-19 erreicht sein sollte, wenn etwa 60 Prozent der Bevölkerung immun sind.
Strategien für die Herdenimmunität
Durch eine Impfung kann ein Körper Antikörper produzieren, ohne je mit der entsprechenden Krankheit infiziert worden zu sein. Eine Herdenimmunität wird deshalb für gewöhnlich über flächendeckende Impfungen anstatt über natürliche Infektion erzielt. Dafür gibt es gute Gründe: Bei etwa 30 Prozent aller Masernerkrankungen kommt es beispielsweise zu Komplikationen wie Krampfanfällen, Lungenentzündung und Encephalitis, die in seltenen Fällen auch zum Tode führen können. Würde man eine ganze Bevölkerung über Infektionen immunisieren wollen, riskierte man eine hohe Zahl an schweren Krankheitsverläufen sowie unnötige Todesfälle.
“Eine Herdenimmunität für COVID-19 sollte erreicht sein, wenn etwa 60 Prozent der Bevölkerung immun sind.”
„Das Problem mit dem Coronavirus ist, dass ihn noch niemand hatte“, sagt Gostic. Besonders ältere Erwachsene sind durch schwere Erstinfektionen deshalb besonders gefährdet.
Herdenimmunität funktioniert außerdem auch nicht bei jeder Krankheit. Es spielt beispielsweise keine Rolle, wie viele Menschen eine Impfung gegen Tetanus haben: Wenn jemand ohne Impfung auf einen rostigen Nagel tritt, kann er sich trotzdem damit infizieren, da Tetanus in Reservoirs außerhalb des menschlichen Körpers überdauert. Damit Herdenimmunität funktioniert, muss die betreffende Infektion von Mensch zu Mensch übertragbar sein.
Individuelle Immunität hält außerdem nicht immer lange genug vor, um eine Herdenimmunität zu erreichen. HIV mutiert beispielsweise so schnell, dass es sich bereits innerhalb einer einzigen infizierten Person weiterentwickeln kann, sagt Jessie Abbate, eine Expertin für Infektionskrankheiten am Institut de Recherche pour le Développement in Frankreich. Auch schnell mutierende Grippeviren stellen die Impfkommission jedes Jahr vor neue Herausforderungen, weil für die Zusammenstellung der saisonalen Grippeimpfungen jedes Jahr aufs Neue antizipiert werden muss, welcher Erregerstamm sich besonders stark ausbreiten wird, erklärt sie.
Was bedeutet das für das Coronavirus?
Gaunt zufolge kursieren bereits vier andere Coronaviren in der Weltbevölkerung. Sie alle lösen erkältungsähnliche Krankheiten aus, da unsere Immunität gegen diese Viren nicht lange anhält. Wenn das auch auf das neue SARS-CoV-2 zutrifft, müssten die Menschen wiederholt geimpft oder infiziert werden, um eine Herdenimmunität zu erreichen.
Einige Berichte beschreiben Fälle von Menschen, die an COVID-19 erkrankten, wieder gesund wurden und später trotzdem positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Allerdings ist nicht klar, ob es sich dabei um Neuinfektionen handelt. Wahrscheinlich schieden die Betroffenen das Virus einfach auch nach ihrer Genesung weiterhin aus.
Eine schnelle Neuinfektion sei derzeit eine „unwahrscheinliche Möglichkeit“, findet auch Abbate. Wenn Menschen tatsächlich so schnell wieder an COVID-19 erkranken würden, ließe sich der starke Rückgang der Fallzahlen in einigen Teilen der Welt nicht erklären. Außerdem würden sich die allermeisten uns bekannten Viren nicht so verhalten, fügt sie hinzu.
Selbst, wenn ein wirksamer Impfstoff entwickelt wird, wird es immer einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung geben, der trotz Impfung keine Immunität entwickelt. Sollte die Immunität gegen das neue Coronavirus außerdem nur von kurzer Dauer sein und regelmäßig aufgefrischt werden müssen, würde das zusätzliche logistische Herausforderungen bedeuten, so Grad.
Aktuell ist Social Distancing eine der besten Möglichkeiten, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Auch deshalb sind Mediziner erleichtert, dass die britische Regierung sich vergangene Woche zu einer Strategieänderung entschieden hat.
„Wir hatten damit gerechnet, dass sich eine Herdenimmunität entwickelt“, sagte der auf Infektionskrankheiten spezialisierte Forscher Azra Ghani vom Imperial College London bei einem Pressebriefing am 16. März. „Uns ist jetzt klar, dass wir dem aber nicht gewachsen sind.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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