Woher kommen die neuen Corona-Varianten?

Einige Wissenschaftler vermuten, dass lange Krankheitsverläufe dem Virus erlauben, sich über ausgedehnte Zeiträume hinweg zu replizieren und außerdem einige der neuen Behandlungsmethoden Mutationen unterstützen.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 30. Dez. 2020, 14:03 MEZ
Spaziergänger am Ufer der Themse in London, 18. Oktober 2020.

Spaziergänger am Ufer der Themse in London, 18. Oktober 2020.

Foto von Andrew Testa, T​he New York Times, via Redux

Anfang Dezember 2020 stiegen die Fallzahlen von COVID-19 im englischen Kent auf einmal sprunghaft an – und die Wissenschaft fragte sich warum. Daher untersuchte Nick Loman vom COVID-19 Genomics Consortium U.K. (COG-UK) zusammen mit seinen Kollegen, wie das Coronavirus mutiert. Sie nahmen die neue Gruppe leicht veränderter Erreger genauer unter die Lupe und konnten so ihre Verbreitung innerhalb der Gemeinde in groben Zügen nachvollziehen.

Im Fall von SARS-CoV-2 entwickeln sich Mutationen – kleine Fehler, die natürlicherweise auftreten, wenn Genome vervielfältigt werden – normalerweise mit einer relativ gleichbleibenden Geschwindigkeit von einer oder zwei pro Monat, sagt Loman, der als Professor für mikrobielle Genomforschung und Bioinformatik an der Universität von Birmingham tätig ist. Bei den in Kent auftretenden Fällen fanden die Wissenschaftler jedoch etwas Außergewöhnliches: Insgesamt 23 Mutationen, die ohne Vorwarnung und schneller auftraten, als man es je für möglich gehalten hätte.

„Um so viele Mutationsschritte mussten wir zurückgehen, um etwas Bekanntes zu finden“, meint er. „Das ist sehr faszinierend und überaus ungewöhnlich.“

Die Entdeckung ist mitverantwortlich dafür, dass die britischen Behörden Mitte Dezember Alarm geschlagen haben. Eine Folgeuntersuchung von Public Health England zeigte auf, dass die Variante, die den Namen B.1.1.7 oder 501Y.V1 trägt, sich zu einem Zeitpunkt vermehrt ausbreitete, als die Fallzahlen in Kent und anderen Regionen im Südosten Englands am höchsten waren. Die Rückverfolgung in der Testdatenbank ergab, dass B.1.1.7 erstmalig am 20. September auftrat. Mitte November war die Variante bereits für 20 bis 30 Prozent der Erkrankungsfälle in London und dem Gebiet östlich der Stadt verantwortlich. Drei Wochen später waren es schon 60 Prozent. Am 23. Dezember gaben britische Wissenschaftler darüber hinaus bekannt, dass zwei Patienten in Großbritannien von einer weiteren, neuen Variante von SARS-CoV-2 betroffen sind, die eine Woche zuvor in Südafrika dokumentiert worden war.

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Aktuell wissen die Forscher noch nicht mit Sicherheit, wie es zum vermehrten Auftreten der Mutationen kommen konnte und was das langfristig für die Übertragung des Virus bedeutet. Eine Hypothese besagt, dass der Ursprung eventuell in Zusammenhang mit chronisch kranken Patienten steht, die mit experimentellen Verfahren wie Rekonvaleszenten-Plasma behandelt wurden. Durch den langen Krankheitsverlauf hat das Virus unter Umständen die Möglichkeit bekommen, sich häufiger zu replizieren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für Mutationen erhöht. Dabei könnten auch die konstant angewendeten Behandlungen Druck auf den Erreger ausüben, sich weiterzuentwickeln.

„Bei einigen dieser Menschen mit chronischen Infektionskrankheiten sind die Viren ziemlich stark verändert“, sagt Ravindra Gupta, ein Virologe der Universität Cambridge. „Manche der Patienten leiden unter einer Immunschwäche. Einige haben Rekonvaleszenten-Plasma bekommen. Einige wurden mit dem Virustatikum Remdesivir behandelt.“

Wenn sich diese Hypothese bewahrheitet, könnte das auch Auswirkungen auf Behandlungsmethoden haben, erklärt Muge Cevik, die als klinische Dozentin für Infektionskrankheiten an der University of St. Andrews lehrt. Zu Beginn der Pandemie war unklar, wie Patienten am besten geholfen werden kann. Daher nutzten die Krankenhäuser ein breites Spektrum an Therapien, in der Hoffnung, dass irgendeine Kombination Erfolg zeigen würde. Stellt sich nun heraus, dass Medikamente wie Virustatika oder Behandlungen mit Antikörpern zur Entwicklung neuer Virusvarianten beigetragen haben, wird das „die medizinische Fachwelt daran erinnern, dass wir diese Behandlungsmethoden sorgsam einsetzen müssen.“

Zahlreiche Mutationen

Mutationen verändern zwar den genetischen Code, zeigen sich bei Erregern oder Organismen jedoch nicht immer nach außen. Auch deshalb geben die neu entdeckten Varianten nun so viel Anlass zur Sorge. Es ist, als wäre das Virus in eine Umkleidekabine gegangen und in komplett neuem Gewand wieder herausgekommen, anstatt – wie sonst üblich – einfach nur einen neuen Hut aufzusetzen.

17 der 23 Mutationen der britischen Variante sitzen an Stellen im Genom, die die Bausteine verändern, aus denen die Proteine des Virus bestehen. Beschrieben wurde das Ganze kürzlich in einem Bericht des COVID-19 Genomics Consortium von Loman und seinen Kollegen. COG-UK gab dabei an, dass eine so große Veränderung bislang während der COVID-19-Pandemie beispiellos ist. Acht der Genveränderungen betreffen die Region, die für das Spike-Protein zuständig ist – der Eintrittskarte, die SARS-CoV-2 nutzt, um in Zellen zu gelangen.

Bisher gibt es noch keine Hinweise darauf, dass diese Ansammlung von Mutationen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Allerdings deuten Modelle und frühere Laborforschung darauf hin, dass sie das Virus ansteckender machen könnten. Mehr Infektionen könnten daher zu mehr Hospitalisierungen und Todesfällen führen.

Modellrechnungen sind informativ, aber nicht in Stein gemeißelt. Das Gesamtbild erzählt uns die Geschichte.

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    So deuten beispielsweise Laborexperimente darauf hin, dass eine der beobachteten Abwandlungen zwei Bausteine namens H69 und V70 im Spike-Protein betrifft. Laut eines Preprints könnte das Virus doppelt so ansteckend sein wir zuvor. Andere Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Mutation N501Y die Fähigkeit des Spike-Proteins zum Andocken erhöhen könnte. Das trat außerdem unabhängig bei der südafrikanischen Variante 501Y.V2 auf, die erstmalig im Oktober entdeckt wurde. Schwieriger gestaltet sich dagegen eine Prognose, wie sich die Mutationen auf die Übertragung von Mensch zu Mensch auswirkt, sagt Cevik.

    Am 18. Dezember veröffentlichte das britische Beratergremium der Regierung – dem auch Cevik und einige Mitglieder von COG-UK angehören – seine vorläufige Einschätzung der Variante. Die von ihnen berechneten Modelle deuten darauf hin, dass die Variante für eine um bis zu 70 Prozent erhöhte Übertragungsrate verantwortlich sein könnte. Cevik weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass die neuen Erkenntnisse derzeit noch schlecht einzuordnen sind. Ein Teil der Ausbreitung könnte auf das Verhalten der Menschen zurückzuführen sein, wie zum Beispiel das Treffen in größeren Gruppen während der gelockerten Kontaktbeschränkungen. Mehr Zeit, mehr Forschung und die nun wieder restriktiveren Einschränkungen könnten jetzt mehr Klarheit verschaffen.

    „Modellrechnungen sind informativ, aber nicht in Stein gemeißelt“, sagt Cevik. Sie führt aus, dass wir die Antwort vermutlich in einer Kombination aus den Forschungsergebnissen verschiedener Fachgebiete finden werden – Epidemiologie, Virologie, Genforschung, sowie Modellberechnung. „Das Gesamtbild erzählt uns die Geschichte.“

    Vorschlaghammer-Therapien

    Wo die Geschichte von B.1.1.7 begann, ist vorerst noch ein Rätsel. Viele Wissenschaftler verweisen auf die Möglichkeit, dass Viren sich in Menschen mit geschwächtem Immunsystem besonders gut entwickeln können. Diese Patienten leiden häufig unter chronischen Infektionen, in deren Verlauf sich das Coronavirus wochen- oder sogar monatelang aufhalten kann.

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    In so einer Situation erhält das Virus zusätzliche Chance zur Reproduktion und zufällige Mutationen treten häufiger auf. Ein Fall berichtet von einem 45-jährigen immungeschwächten Mann, der beinahe fünf Monate lang infiziert war, bevor er der Krankheit schließlich erlag. Bei ihm wurde eine rasante Weiterentwicklung des Virus festgestellt. Die meisten der Mutationen traten im Spike-Protein auf, darunter auch Veränderungen wie bei den neuen Varianten in Großbritannien und Südafrika.

    „Das Virus hat gerade die Gelegenheit bekommen, ein bisschen die Fühler auszustrecken“, erklärt Loman. Nach einem Jahr engmaschiger Verfolgung dieser Mutationen wissen die Forscher inzwischen, dass die meisten keine relevanten Auswirkungen haben. Manche wirken sich sogar negativ auf die Replikationsfähigkeit des Virus aus. So führt beispielsweise die oft genannte Mutation D614G dazu, dass das Coronavirus sich zwar stärker vermehrt, aber weniger infektiös und außerdem anfälliger für eine Neutralisierung durch Antikörper ist.

    Doch der Druck, den teileffektive Therapien bei chronisch Kranken auf den Erreger ausüben, könnte ebenfalls an dem Entwicklungsschub beteiligt sein, der einige für das Virus vorteilhafte Mutationen vorantreibt. Der Grundgedanke folgt der Problematik bei HIV-Patienten, die eine Behandlungsresistenz entwickeln, wenn Medikamentenzyklen nicht vollständig abgeschlossen werden, sagt Gupta, der zehn Jahre lang an HIV-Resistenz geforscht hat. „Wenn man einen Vorschlaghammer benutzt, um eine Nuss zu knacken, bekommt man sie in jedem Fall auf“, veranschaulicht er. Aber zur Behandlung von COVID-19 gibt es derzeit noch keine Vorschlaghammer-Therapien.

    Die Wirksamkeit von Rekonvaleszenten-Plasma schwankt stark dank der natürlichen Varianz innerhalb der Zusammensetzung von Antikörpern, die vom Immunsystem des Spenders produziert werden.

    Einige Fallstudien weisen auf diese Form rasanter Weiterentwicklung bei chronisch kranken SARS-CoV-2-Patienten hin. In einem kürzlich als Preprint erschienen Artikel dokumentieren Gupta und seine Kollegen die Mutation des Virus, nachdem ein Patient ab dem 63. Krankheitstag drei Behandlungen mit Rekonvaleszenten-Plasma erhielt. Zwei der viralen Mutationen zeigten sich in Genen die das Spike-Protein codieren. Etwas Ähnliches passierte bei einem 65-jährigen Krebspatienten, der nach 105 Krankheitstagen das Virus überlebte. Und eine der Mutationen, die kürzlich in Südafrika entdeckt wurden – N439K – könnte es, laut einem Bericht von COG-UK im November, dem Virus erlauben, Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern zu umgehen.

    Eine ähnlich schnelle Weiterentwicklung von Viren konnte bereits bei Influenzapatienten beobachtet werden, sagt Emma Hodcroft, eine Mitentwicklerin von Nextstrain, einer Webapplikation, die die Nachverfolgung von Krankheitserregern in Echtzeit möglich macht. Dennoch wendet sie ein, dass es auch andere Erklärungen geben könnte. „In der Biologie gibt es fast nie nur den einen einzigen Weg, wie etwas vonstattengeht“, meint sie.

    Beispielsweise prognostizierte ein mathematisches Modell des Norovirus, dass es zu wenige immungeschwächte Menschen gibt, um eine großflächige Ausbreitung von Varianten zu ermöglichen. Andererseits könnte die unkontrollierte Ausbreitung dem Virus genug Möglichkeiten eröffnen, in gesunden Menschen mit kurzen Krankheitsverläufen zu mutieren. Dieser Meinung ist Mark Tanaka, ein Biomathematiker und -informatiker, der an der University of New South Wales Sydney forscht, und ebenfalls Autor der Studie ist. Sowohl Pfizer als auch Moderna untersuchen, ob die Varianten die Antikörper in ihren jeweiligen Impfstoffen umgehen können. Die Wissenschaftler, die maßgeblich an der Entwicklung der Impfstoffe beteiligt waren, halten das jedoch für unwahrscheinlich.

    Hodcroft betont, dass die Entdeckung der britischen Variante noch einmal beweist, welch große Rolle die Gensequenzierung bei der Überwachung von COVID-19 spielt. Von den 2,1 Millionen Fällen in Großbritannien, hat COG-UK insgesamt 137.000 SARS-CoV-2-Genome sequenziert, was etwa die Hälfte aller Sequenzierungen weltweit ausmacht. Im Gegensatz dazu sequenzierten die USA gerade einmal 51.000 ihrer 18 Millionen Fälle.

    Die fortschrittlichen Gentests sind auch der Grund dafür, warum Großbritannien so schnell auf B.1.1.7 reagieren und andere davor warnen konnte, als sich die Variante langsam nach Dänemark, die Niederlande, Italien, Belgien, Hong Kong und Australien ausbreitete – und wie die beiden Fälle aufgespürt wurden, die mit der Variante in Südafrika in Verbindung stehen.

    „Wenn wir jetzt sofort den Versuch unternehmen, diese Menschen zu identifizieren, zu testen und unter Quarantäne zu stellen, könnten wir das Ganze vielleicht im Keim ersticken“, sagt Hodcroft und fügt außerdem hinzu, dass es keine Zeit zu verlieren gibt. „Mit 100 Menschen schaffen wir das vielleicht noch, aber es wird viel schwieriger, wenn erst einmal ein paar Tausend betroffen sind.“

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