Ueli Steck: Der Gipfelstürmer
Der Schweizer stellte zahlreiche Rekorde auf, wurde jedoch nie müde, seine Grenzen zu testen und steckte sich immer wieder neue Ziele.
Ueli Steck war einer der besten Speed-Kletterer der Welt. Am 30. April 2017 verunglückte er tödlich am Mount Everest. Im Jahr 2011 führte ihn eine Expedition auf drei Achttausender im Himalaja – wo er auch verunglückte. Für National Geographic berichtete er exklusiv und sehr persönlich von seinem Glück am Berg, von schweren Entscheidungen und vom Scheitern.
Triumph und Katastrophe trennt am Berg oft nur ein Augenblick. Besonders auf den Achttausendern. Mein Stil ist die Schnelligkeit: Das Speed-Klettern. In den Jahren 2008 und 2009 habe ich die drei großen Nordwände der Alpen – Matterhorn, Eiger und Grandes Jorasses – in Rekordzeit bezwungen: Insgesamt sieben Stunden und vier Minuten. Entscheidend für mich war die Schnelligkeit, mit der ich mich ohne Haken und Fixseile in teils unbekanntem Fels bewegen konnte. Ich wusste, dass es mir auf den Achttausendern zugute kommen würde, extreme Gefahrenzonen rasch zu durchklettern.
Würde mich dies vor Unfällen verschonen wie 2007, als ich eine neue Route an der Südwand des Annapurna im Alleingang versuchte; als ein Stein meinen Helm durchschlug und ich 300 Meter in die Tiefe stürzte, aber überlebte? Würde es mich vor Schaden bewahren wie am Makalu (8485 Meter), wo ich vor wenigen Jahren bei extremer Kälte fast meine Zehen einbüßte?
Solche Erlebnisse steckst du nicht einfach weg. Sie bleiben gespeichert, prägen dich. Sie beeinflussen künftige Entscheidungen, lassen dich vorsichtiger werden. Aber sie sind wichtig. Du lernst dich besser kennen. Nur solche Grenzerfahrungen bringen dich weiter.
Diese Expedition soll mich innerhalb weniger Wochen auf drei Achttausender im Himalaja führen: auf den Shisha Pangma (8027 Meter) und seine 2000 Meter hohe Südwand, auf den Cho Oyu (8201 Meter) und den Mount Everest (8850 Meter), den höchsten Gipfel der Welt.
Ich habe mir Zeit für die Vorbereitung genommen und mit dem Sportpsychologen Jörg Wetzel viel über das Scheitern gesprochen. Du musst bereit sein, es zu akzeptieren und damit umzugehen. An den Achttausendern musst du „Wenn-dann-Pläne“ haben, die du auch unter härtesten Bedingungen abrufen und umsetzen kannst. Und du musst Ziele definieren.
Mein Minimalziel: einen der drei Gipfel zu erreichen. Optimalziel: die technisch anspruchsvolle Südwand des Shisha Pangma zu klettern. Glücksziel: alle Gipfel zu besteigen.
Im Jahr 1982 wurde die Shisha-Pangma-Südwand durch eine britische Expedition erstmals begangen. Ich will zusammen mit dem kanadischen Bergsteiger Don Bowie, einem gelassenen Typ von 1,90 Meter Größe, eine noch nie bestiegene Route klettern. Sie soll vor allem durch Fels führen und wird modernes Mixed-Klettern erfordern: eine schwierige Form des Aufstiegs, bei der die Eisausrüstung – Pickel und Steigeisen – auch im Fels zum Einsatz kommen.
Meine Frau Nicole ist froh, dass ich mit einem Kletterpartner unterwegs sein werde. So können wir uns gegenseitig sichern. Wenn ich allein klettere, sichere ich mich nicht so oft, um keine Zeit zu verlieren. Allein bin ich aber auch wachsamer, gehe defensiver vor und konzentriere mich noch mehr auf den Berg.
Mitte April erreichen wir das Basislager des Shisha Pangma. Während des zweitägigen Anmarsches hat es ständig geschneit. Am nächsten Tag starten wir gemeinsam mit unserem Fotografen und Kameramann Rob Frost zum Fuß der Südwand, die das Basislager überragt. Das ist immer ein spezieller Moment. Ich habe die Wand stundenlang auf Bildern betrachtet, nun ist sie vor mir. Ich komme mir klein vor.
Don macht kaum Fortschritte beim Akklimatisieren, leidet unter Kopfschmerzen. Wir beschließen, ein vorgeschobenes Basislager (Advanced Base Camp, ABC) einzurichten. Die Prognose ist gut, zwei Tage bestes Wetter. Ich freue mich auf die Südwand, doch Don geht es immer schlechter. Der letzte schöne Tag, bevor ein Sturm aufziehen wird. Vielleicht die einzige Chance, den Gipfel zu erreichen. Don spürt meine Unruhe: «Geh dir doch morgen mal die Wand anschauen», schlägt er vor.
Ich stehe vor der Entscheidung: Soll ich den Shisha Pangma solo versuchen? Um 22.30 Uhr breche ich vom Lager auf. Zweieinhalb Stunden später ragt im Vollmondlicht bedrohlich ein Bergschrund vor mir auf: eine Spalte zwischen dem fließenden Eis. Ich klettere eine Rinne hinauf. Darüber 2000 Meter Fels. Die Schneeauflage ist perfekt. Das habe ich noch nie zuvor an einem hohen Berg erlebt. Der Firn ist so hart, dass meine Steigeisen und Eisgeräte leicht eindringen und dennoch genügend Halt bieten.
Ich bin unterwegs. Denke nicht mehr nach, steige wie von selbst. Bin kontrolliert, selbstgewiss. Nehme jedes Geräusch wahr. Jedes Eindringen des Steigeisens, jeder Pickelschlag hat seinen eigenen Ton. So kann ich entscheiden, ob der Pickel und auch das Steigeisen sitzen.
Plötzlich ein unfreundlicher Ton: Steinschlag, mitten in der Nacht. Durch die Kälte hätte der Fels eigentlich gefroren sein müssen. Ich klettere weiter, rechts hoch und nicht weiter nach links in die Britenroute. Wenn schon nachts Steinschlag herrscht, wie wird es erst, wenn die Sonne das Eis schmelzen lässt?
Ich habe keine Ahnung, wohin mich mein Weg führt. Als endlich der Tag anbricht, bin ich schon weit über 7000 Meter hoch. Der Gipfelgrat ist nah. Ich steige die letzten Meter über die Felsen aus der Wand. Kurzes Verschnaufen, dann die Entscheidung: Der Rückweg verläuft sowieso über diesen Grat. Warum also vorher nicht zum Gipfel? Ich lege den Rucksack ab und steige keuchend weiter, Meter für Meter. Und dann, ziemlich genau um 12 Uhr mittags, stehe ich ganz oben auf dem Shisha Pangma, zehneinhalb Stunden nach Überqueren des Bergschrunds. Ich habe die Wand allein bezwungen!
“"Du musst schnell entscheiden, darfst dir keine Fehleinschätzung erlauben."”
Glücksgefühle. Nur fünf Minuten, mehr gebe ich mir nicht. Die Sonne brennt jetzt heiß, mein Wasservorrat ist aufgebraucht. Ich hole meinen Rucksack und gehe auf dem Gipfelgrat weiter nach Osten. Muss lawinenschwere Schneehänge queren, ausgerechnet in der Mittagswärme. Ich wähle dieselbe Route wie 1982 die Briten. Vom Grat geht es steil über loses Gestein nach unten. Volle Konzentration. Dann, endlich, der Bergschrund. Aber wie soll ich über die Spalte abklettern? Ich beschließe zu springen, drei Meter tief, der Schnee wird hoffentlich noch weich sein.
Wenig später schreibe ich Nicole eine SMS: «Bin zurück im ABC.» Dass ich auf dem Gipfel war, behalte ich vorerst für mich.
Acht Tage später erreichen wir das Basislager des Cho Oyu. Die Expedition ist bergsteigerisch schon jetzt ein Erfolg, das Optimalziel erreicht. Der Cho Oyu liegt nahe am Everest und ist etwas höher als der Shisha Pangma. Jetzt scheint alles möglich. Meine Gelassenheit, mein Selbstvertrauen strahlen auf das ganze Unternehmen aus.
Doch der Shisha Pangma hat mich mehr Kraft gekostet als erwartet. Zu allem Überfluss quält mich eine heftige Magenverstimmung.
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Als wir zum Gipfel aufbrechen, hat sich mein Bauch etwas beruhigt. Aber schon bald meldet sich das Rumpeln zurück. Der Schnee ist teilweise hüfttief. Wir müssen spuren. Hier oben entscheiden meist die Schneeverhältnisse über Erfolg oder Scheitern. Es ist bitterkalt. Mit Armkreisen versuche ich, mich warm zu halten. Mir ist übel.
Zum ersten Mal denke ich ans Umkehren. Nichts ist mehr wie am Shisha Pangma. Es beginnt ein Aufstieg des Leidens.
Geh weiter, du schaffst es.
Immer wieder krümme ich mich unter Krämpfen. Nur Dons Begleitung gibt mir die Kraft weiterzugehen. Ich gebe mir bis 12 Uhr mittags, dann muss ich am Gipfel sein.
Mein Höhenmesser zeigt 8160 Meter. Wie weit noch? Ich erinnere mich an die Worte von Elizabeth Hawley, der legendären Chronistin des Himalaja: «If you don’t see Everest you are not on the summit.»
Eine endlose Schneekuppe, dann sehe ich Gebetsfahnen – und den Everest! Ich bin stolz. Habe nicht aufgegeben. Die Normalroute des Cho Oyu hat mich viel mehr Substanz gekostet als die Südwand des Shisha Pangma. Aber auf den Achttausendern gibt es keine Gewissheiten.
Ob ich überhaupt noch den Everest versuchen soll? Ist die Gefahr zu groß?
Du musst deine eigenen Entscheidungen treffen. Aber manchmal ist es gut, auf jemand anders zu hören. Don motiviert mich. Wir sind bestens akklimatisiert.
Der Everest hat viel von seinem Mythos verloren. Er ist nicht mehr den besten Bergsteigern vorbehalten. Fixseile und Sauerstoffflaschen ermöglichen es jedem durchschnittlich Trainierten, den Gipfel zu erreichen. Aber nur etwas mehr als 100 Menschen haben den Aufstieg ohne Extra-Sauerstoff geschafft.
Ich habe großen Respekt vor der Höhe. Wenn du neben den Leuten mit Extra-Sauerstoff hergehst, bist du an einem anderen Berg, obwohl du den Weg mit ihnen teilst. Das größte Problem ist die Kälte. Mich friert von jeher besonders schnell. Deshalb habe ich batteriebetriebene Heizelemente in meinen Schuhen.
Wir starten unseren Gipfelversuch auf 7700 Meter im Lager 2. Weit oben sehen wir auf dem Grat eine Lichterkette aus Stirnlampen. Die ersten Bergsteiger sind um 19 Uhr auf 8300 Meter Höhe im Lager 3 gestartet. Jetzt ist es ein Uhr nachts. Der starke Wind treibt uns Schneeflocken ins Gesicht. Ich fröstele trotz meines dicken Overalls. Bei Don ist es noch schlimmer.
8000 Meter. Dons Füße sind eisig. Mein Begleiter will umkehren. Was tun? Wir haben diese Situation besprochen. Wer bei Kräften ist, soll weiter aufsteigen. Der andere wird auf dem Abstieg nur begleitet, wenn er verletzt oder entkräftet ist. Aber wo liegt die Grenze?
Du musst schnell entscheiden, darfst dir keine Fehleinschätzung erlauben.
Ich gehe weiter. Fühle mich gut. Bin überrascht, wie einfach es geht. Alles fühlt sich so selbstverständlich an wie am Shisha Pangma.
Von Zeit zu Zeit überhole ich einen Bergsteiger. Es ist dunkle Nacht. Bei jedem Schritt versuche ich, meine Zehen zu bewegen. Werden die Batterien meiner Schuhheizung durchhalten? Ich erreiche den Second Step, jene berühmte Felsstufe mit der Leiter, die ein chinesisches Team 1975 auf 8610 Metern angebracht hat. Ich habe mir das Hindernis viel höher vorgestellt. Zuerst geht es über gut gestuften Fels, dann kurz senkrecht über eine acht Meter hohe Felswand.
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Die Kälte an meinen Füßen schleicht sich von den Zehen immer weiter nach hinten, hat meinen ganzen Vorfuß erfasst. Ich denke nur noch an meine Zehen. Was mache ich, wenn ich sie überhaupt nicht mehr spüre?
Der Third Step, dritte und letzte Felsstufe, 8710 Meter. Sherpas sitzen auf den Felsen. Der Gipfel ist zum Greifen nah. Einer der Männer versucht, mich zu motivieren: Nur noch 45 Minuten bis ganz oben. Ein anderer sagt: Der Berg ist auch nächstes Jahr noch da.
Du musst für dich entscheiden. Gibst du zu früh auf? Könntest du weitergehen, oder bist du zu ehrgeizig? Hör auf deinen Körper, es geht um dich. Du bist niemandem etwas schuldig, du hast allein die Konsequenzen zu tragen.
In diesem Moment ist meine Entscheidung klar, kein Wenn und Aber mehr.
Das Glücksziel meiner Expedition habe ich verfehlt. Dennoch bin ich im Einklang mit mir. Ich bin umgekehrt – und dabei wieder einen Schritt vorangekommen.
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