Turmschädel-Frauen im frühen Bayern waren womöglich Hunnen
Die Schädelmodifikationen waren zu Zeiten der Völkerwanderung eher in Osteuropa und Asien verbreitet. Wie gelangten sie in den Westen?
Während der Zeit der Völkerwanderung (ca. 4. bis 6. Jh.) streiften Volksgruppen wie die Goten und Vandalen durch Europa, rangen dem im Niedergang befindlichen Römischen Reich zunehmend Gebiete ab und ließen sich dann in diesen nieder. Eine solche Volksgruppe waren die Bajuwaren, die sich etwa im 6. Jahrhundert im heutigen Süddeutschland, Österreich und Südtirol niederließen. Auf ihren Friedhöfen hatten Archäologen ein paar interessante Entdeckungen gemacht: Frauen mit länglichen Schädeln.
Lange Zeit hatte das für Verwirrung gesorgt, da derartige Schädelmodifikationen im damaligen Europa eher östlich anzutreffen waren, beispielsweise im heutigen Ungarn. Der Südosten Europas war damals von den Hunnen besiedelt, auf deren Friedhöfen sich deutlich mehr Menschen mit länglichen Schädeln fanden als weiter westlich in Bayern. Wie gelangte diese Praktik auf das Gebiet des heutigen Deutschland?
Eine Theorie besagte, dass die Hunnen oder eine andere Gruppe die Technik für die Schädelmodifikation an die Bajuwaren weitergegeben haben. Eine neue Studie, die im Fachmagazin „PNAS“ veröffentlicht wurde, deutet nun aber auf eine andere Antwort hin: Die bajuwarischen Frauen mit den langen Schädeln waren vermutlich gar keine Bajuwaren.
Ein internationales Forscherteam hat kürzlich die Genome von 36 Skeletten aus insgesamt sechs Friedhöfen im heutigen Bayern untersucht, die zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert genutzt wurden. Darunter befanden sich 10 Männer und 26 Frauen. Bei 14 der Frauen ließen sich Spuren künstlicher Schädeldeformationen finden. Zusätzlich analysierten sie fünf weitere Proben, darunter die Überreste eines mutmaßlichen römischen Soldaten und zweier Frauen mit Schädeldeformationen aus der Krim und Serbien.
Die Schädel der beiden Frauen waren keineswegs zufällig verformt. Schon nach der Geburt wurden sie sorgfältig mit Tüchern gebunden, damit die Schädel ihre auffällige Form behielten, als sie aushärteten. Archäologen sind sich nicht sicher, ob diese Praktik rein ästhetisch war, der Gesundheit nutzen sollte oder andere Gründe hatte.
Sie sequenzierten Teile der DNA der begrabenen Bajuwaren und erstellten elf vollständige Genome. Aus diesen Daten konnten sie Rückschlüsse auf das Aussehen, die Abstammung und die Gesundheit der seit Langem verstorbenen Menschen ziehen.
Die Männer – vermutlich Bauern aus kleinen Gemeinden – sahen einander allesamt recht ähnlich. Aber viele der Frauen unterschieden sich optisch ganz deutlich von ihnen.
Das lag aber nicht nur an den Schädelmodifikationen. Während die Gene der Männer zeigten, dass sie größtenteils blonde Haare und blaue Augen hatten, waren die Frauen wahrscheinlich brünett und hatten braune Augen.
Allerdings war ihr äußeres Erscheinungsbild in dieser Hinsicht nur die Spitze des Eisbergs. Die Forscher verglichen die alten Gene mit denen heutiger Menschen und fanden einige große Unterschiede zwischen den Männern und den Frauen.
Die Gene der Männer ähnelten denen von Nord- und Mitteleuropäern. Die Frauen mit den modifizierten Schädeln hatten hingegen einen deutlich vielfältigeren Stammbaum. Die Mehrheit passte zum genetischen Profil von Südosteuropäern wie Bulgaren und Rumänen, und eine hatte sogar ostasiatische Vorfahren.
„Archäologisch gesehen unterscheiden sie sich nicht besonders vom Rest der Population“, sagt Joachim Burger, ein Anthropologe und Molekularbiologe der Universität Mainz und Autor der Studie. „Genetisch sind sie völlig verschieden.“
Soweit die Archäologen das sagen können, integrierten sich die Frauen und übernahmen lokale Traditionen – und mit ihnen schien auch die Praktik der Schädelmodifikationen gestorben zu sein, zumindest in dieser Region. Wie kam es aber, dass sie solche beträchtlichen genetischen Unterschiede aufwiesen?
Burger gibt zu, dass er das nicht weiß. Allerdings haben er und seine Kollegen eine Theorie. Sie vermuten, dass ihre Daten auf eine bislang nicht bestätigte Praktik des Austauschs zwischen den Bajuwaren und anderen Kulturen hindeuten, selbst in „relativ langweiligen, blonden Bauernorten“, wie Burger es formuliert.
Obwohl sie nicht an der aktuellen Studie beteiligt war, hat die Archäologin Susanne Hakenbeck von Cambridge jahrelang die Geschichten der europäischen Frauen mit Schädeldeformationen zusammengetragen.
Als Hakenbeck die Isotope in den Knochen aus einem jener Friedhöfe untersuchte, der auch in der aktuellen Studie eine Rolle spielte, konnte sie Unterschiede in der Ernährung der Männer und Frauen feststellen. Ihre Analyse der Schädelmodifikationen aus dieser Zeit stützte ihre Hypothese: Künstliche Schädeldeformationen waren damals unter Männern, Frauen und Kindern zwischen Mittelasien und Österreich weit verbreitet. Weiter westlich, zum Beispiel in Deutschland, findet man Spuren solcher Deformationen aber nur bei einer Handvoll Frauen.
„Niemand hatte gedacht, dass Heirat und Verwandtschaft in jener Zeit eine wirklich wichtige Rolle spielten“, sagt Hakenbeck. Ihre neue Forschung könnte das allerdings widerlegen: Die Frauen schienen explizit in die Region gekommen zu sein, um bajuwarische Männer zu heiraten, womöglich aufgrund einer strategischen Allianz.
Die Studie hat aber auch ihre Grenzen: Sie beschäftigt sich nicht mit der gesamten Population und zwei der Frauen wurden später begraben als die anderen. Die Vorfahren jener zwei Frauen stammten allerdings aus noch weiter entfernten Regionen als die der anderen, was auf ein Muster für Heiratsmigrationen hindeuten könnte.
„Da kommen exotische Frauen mit exotischen Schädeln an diese langweiligen, fremdländischen Orte“, beschreibt Burger das Ganze. „Ein Aufeinanderprallen von Kulturen.“
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