Schatz im Titicacasee: Kostbare Opfergaben der Inka geborgen
500 Jahre lang lag das Opferbehältnis aus Vulkangestein in dem heiligen See, der den Inka jahrhundertelang als rituelle Opferstätte diente.
Ein Mitglied des Forschungsteams taucht in den Titicacasee, der durch die Grenze zwischen Bolivien und Peru verläuft. Die Inka verehrten den See wie einen Gott und brachten ihm – mitunter auch menschliche – Opfer dar.
Der Titicacasee war ein heiliger Ort im alten Imperium der Inka in den Anden, das sich auf seinem Höhepunkt im frühen 16. Jahrhundert vom heutigen Kolumbien bis nach Chile erstreckte. Die Inka errichteten mehr als 80 Tempel und andere Bauwerke für eine Vielzahl von Ritualen auf der Isla del Sol („Sonneninsel“) im südlichen Teil des Sees in Bolivien. Ihren Mythen zufolge soll dort der Sonnengott geboren worden sein – ebenso wie ihre Urahnen, die dort einem Felsen entstiegen. Im Wasser des heiligen Sees versenkten sie Opfergaben, während sie inbrünstige Gebete zum Himmel schickten.
Eine faszinierende Entdeckung, die in der Zeitschrift „Antiquity“ veröffentlicht wurde, bietet neue Einblicke in das Glaubenssystem der Inka. Das umfasste wahrscheinlich nicht nur Politik, Plädoyers für Fruchtbarkeit und eine Göttin namens Mama Cocha – die Mutter des Meeres –, sondern auch blutige Opfergaben, die das Wasser eines der größten Seen der Welt trübten.
Während einer Unterwassererkundung im Titicacasee, der sich zwischen Bolivien und Peru erstreckt, fand ein internationales Archäologenteam eine Opferschatulle aus Andesit. Das Behältnis aus lokalem Vulkangestein lag auf einem Riff etwa fünfeinhalb Meter unter der Oberfläche des Sees. Es misst etwa 35 x 25 x 16 Zentimeter und hat einen konkaven Hohlraum, der mit einem runden Steinpfropfen verschlossen war. Anhand des Zustands der Schatulle schlossen die Forscher, dass das Artefakt seit seiner Versenkung vor mehr als 500 Jahren unberührt geblieben war.
Die Opferschatulle wurde aus regionalem Vulkangestein gefertigt und mit einem runden Steinpfropfen verschlossen. Im Gegensatz zu früheren Entdeckungen war dieses Artefakt intakt und mit einer Sedimentkruste überdeckt, was darauf hindeutet, dass es seit seiner Versenkung vor 500 Jahren nicht bewegt wurde.
Die Opferschatulle enthielt eine kleine Lamafigur aus korallenfarbener Muschel und einen kleinen Goldzylinder. Einem frühen spanischen Bericht zufolge wurde oft das Blut von geopferten Kindern oder Tieren in die Steinbehältnisse gegossen.
Im Inneren der Schatulle fanden die Wissenschaftler einen winzigen Zylinder aus eingerolltem Goldblech und eine Lamafigur aus der korallenfarbenen Schale einer Stachelauster, die als selten und wertvoll galt. Bei dem Zylinder könnte es sich den Archäologen zufolge um eine Miniaturreplik einer Chipana handeln. Diese Goldarmbänder trugen Inkafürsten am rechten Unterarm. Lamas wurden von den Inka als robuste Lasttiere genutzt.
Kostbare Opfergaben, viele Deutungen
Es war nicht die erste derartige Entdeckung, die im See gemacht wurde. Gerüchte über versenkte Schätze lockten schon spanische Konquistadoren zum Titicacasee, und ein Bericht aus dem Jahr 1541 erwähnt zehn Männer, die auf der Suche nach dem Schatz ertranken. In der Neuzeit erkunden Taucher, darunter auch der berühmte Unterwasserforscher Jacques Cousteau, seit den 1950ern den Boden des Sees.
Verschiedene Expeditionen haben im Laufe der Jahrzehnte mehr als zwei Dutzend Steinkisten auf einem anderen Riff gefunden, aber nur in vier Fällen war der Inhalt ganz oder teilweise erhalten geblieben. Bei diesen Opfergaben handelte es sich um Figuren von Männern, Frauen und Lamas. Sie alle waren aus seltenen und wertvollen Materialien hergestellt worden – Silber, Gold und Stachelausterschalen. Winzige goldene Repliken von Tupus – Nadeln zur Befestigung von Tüchern – in einer der Kisten könnten ein Hinweis darauf sein, dass die menschlichen Figuren ursprünglich traditionelle, bunte Kleidung trugen, die im Laufe der Zeit zerfiel, als Wasser in den Hohlraum der Kiste eindrang.
„Es gibt mehrere, komplementäre Bedeutungen“ der Opfergaben, von großen politischen Gesten bis hin zu einfachen landwirtschaftlichen Anliegen, erklärt der Co-Autor der Studie, Christophe Delaere, in einer E-Mail. Delaere ist der wissenschaftliche Leiter der Unterwasser-Archäologieprojekte, die am Titicacasee von der Freien Universität Brüssel betrieben werden.
An Bord eines Forschungsschiffes auf dem Titicacasee zeigen der Projektleiter Christophe Delaere und andere Teammitglieder ihre Entdeckung dem Archäologen Johan Reinhard.
Die Inka waren in ihrer Verehrung für den See wahrscheinlich von den Traditionen jener Menschen beeinflusst, die vor ihnen dort lebten – den Tihuanaco. Die Prä-Inka-Kultur existierte vermutlich zwischen 200 v. Chr. und 1.000 n. Chr. im heutigen Bolivien, Peru und Chile.
„Ich vermute, dass es eine begrenzte Anzahl von Orten gab, an denen die Inkas opferten – und zwar aus Gründen, die aus einer Zeit vor ihrer Herrschaft stammten“, sagt der National Geographic Explorer Johan Reinhard in einer E-Mail. Der Archäologe ist auf vorspanische Sakrallandschaften spezialisiert. „Die Inka brachten Opfergaben an Orten dar, die bereits vor ihrer Ankunft am Titicacasee eine Rolle im Glauben der Menschen spielten.“
Die Opfergaben standen möglicherweise in Verbindung mit einem Kult der Vorfahren der Inka und mit Pilgerzeremonien, die auf der Sonneninsel stattfanden. Indem sie die Isle Del Sol zum Zentrum des Mythos über ihren eigenen Ursprung machten und dort Rituale abhielten, trafen die Inka eine Aussage über ihr Reich.
„Die feierlichen Opfergaben, die dem See dargebracht wurden, waren sowohl symbolische als auch politische Handlungen, mit denen die Macht der Inka-Besetzer auf diesem heiligen Raum rituell legitimiert werden sollte“, erklären Delaere und sein Co-Autor, der Archäologe José M. Capriles von der Pennsylvania State University, in ihrem Beitrag.
Blut und Gold für die Götter
Den Archäologen zufolge sei es auch möglich, dass der Zylinder aus Gold am Lama befestigt gewesen war. Die Symbolik könnte sich auf die Ausdehnung des Inkareichs in diese goldreiche Region beziehen, die im 5. Jahrhundert erfolgte. „Die Inka pflegten religiöse Traditionen, die nie getrennt von politischen und wirtschaftlichen Traditionen betrachtet wurden“, sagt Reinhard, der nicht zum Entdeckerteam gehörte. „Sie waren alle untrennbar miteinander verbunden.“
Ebenso wahrscheinlich sei es, dass die Opfergabe eine Bitte um Fruchtbarkeit für die Lama- und Alpakaherden war. Der Mythologie der Inka zufolge stammen diese Tiere aus dem See. Möglicherweise beteten die Inka auch für die Fruchtbarkeit des Landes und reiche Ernten. Stachelausterschalen, die aus den knapp 2.000 Kilometern entfernten Küstengewässern Ecuadors stammten, hatten eine religiöse Bedeutung: Sie wurden bei Ritualen verwendet, in denen um Regen gebeten wurde, denn sie standen sowohl mit dem Ozean als auch mit der Mutter der Wassergöttin, Mama Cocha, in Verbindung. Beide Elemente hingen dem Glauben der Inka nach auch mit dem Titicacasee zusammen.
Galerie: Die letzte Hängebrücke der Inka
Der spanische Geistliche Alonso Ramos Gavilán verfasste im 17. Jahrhundert eine Monografie über die Inka-Rituale an jenem See. Seinen Beschreibungen nach waren die dortigen Opferzeremonien eine blutige Angelegenheit. Manchmal wurde ein Kind oder ein Tier geopfert, um die Götter zu besänftigen. Das Blut des Opfers wurde in den Hohlraum der Kiste gegossen, die dann versiegelt und in den See gelassen wurde. Dort sickerte Wasser in den Hohlraum und vermischte sich mit dem Blut. Das Gemisch strömte hinaus und färbte das Wasser des Titicaca rot.
Die kürzlich entdeckte Schatulle verfügt über Öffnungen, die nach Ansicht von Archäologen womöglich für Seile gedacht waren, an denen das Artefakt von einem Boot aus in den See hinabgelassen wurde. Enthielt auch sie einst Blut? Heute lässt sich das nicht mehr sagen, da jede Spur der Körperflüssigkeit längst fortgespült ist. Aber es ist durchaus möglich, dass Blut tatsächlich Teil des Rituals gewesen ist.
Da weiterhin Wissenschaftler die ausgedehnten Tiefen des Titicacasees durchkämmen – der sich über eine Fläche von 8.288 Quadratkilometern erstreckt –, werden sie sicherlich weitere Hinweise auf die seltsamen und geheimnisvollen Rituale der Inka entdecken.
„Man glaubt heutzutage gern, dass der gesamte Planet bereits erforscht ist. Aber 70 Prozent sind von Wasser bedeckt“, sagt Delaere. „Die Unterwasserwelt ist noch kaum erkundet und bietet schier unendliche Möglichkeiten für Forschungen und Entdeckungen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
Peru
Peru: Die antiken Palastwächter aus Termitenkot
Hölzerne Statuen in einem Palast der Chimú-Kultur wurden über Jahrhunderte von Termiten ausgehöhlt. Ihre ursprüngliche Form blieb dank dem Insektenkot erhalten.
Peru: Alte Ruinen helfen beim Kampf gegen Wassermangel
Die Aufarbeitung eines 1.400 Jahre alten, genialen Kanalsystems in den Anden über Lima könnte in der Trockenzeit für mehr Wasser sorgen.
Artefakte enthüllen ‚Bier-Diplomatie‘ im peruanischen Altertum
Eine neue wissenschaftliche Untersuchung beschäftigt sich mit Trinkgefäßen, die nach einem Gelage vor beinahe 1.000 Jahren zerbrochen wurden. Sie zeigt, wie das peruanische Wari-Reich kurz vor seinem Niedergang ausufernde Festivitäten veranstaltete.