Día de las Ñatitas: Ein Fest für die Schädel der Ahnen

Jedes Jahr am 8. November feiern die Aymara in Bolivien ein Fest für die Ñatitas – die von Schutzgeistern beseelten Schädel der Toten. Der bunte Brauch geht vermutlich auf einen Schädelkult aus einer Zeit vor den Inka zurück.

Von Christine Bednarz
bilder von Jeff Heimsath
Veröffentlicht am 6. Nov. 2020, 11:36 MEZ
Día de las Ñatitas

Diesen Schädeln sollen Schutzkräfte innewohnen. Sie werden in Bolivien das ganze Jahr über verehrt – aber am 8. November, dem Día de las Ñatitas, wird ein besonderes Fest für sie veranstaltet.

Foto von Jeff Heimsath

Bolivianische Totengräber graben auf dem weitläufigen Generalfriedhof von La Paz menschliche Schädel aus den Gemeinschaftsgräbern aus. Sie bereiten die große Feier vor, die am nächsten Tag stattfinden soll. Schaufeln durchbrechen den sauren Boden, bis das unverkennbare Geräusch von Metall auf Knochen erklingt. Dann heben sie die mit Erde verkrusteten Gesichter auf eine Steinplatte. Im Regen hat sich eine Menge versammelt, die das Treiben beobachtet. Die Menschen bieten jedem Schädel Kokablätter, Softdrinks oder ein paar Spritzer Alkohol an, bevor sie brennende Zigaretten in die verwesten Münder stecken und ihre Häupter mit Blumenkränzen schmücken. Als die Sonne aufgeht, kommt der Priester, um zwischen den Kerzen, die am Boden verteilt sind, einen Segen zu erteilen.

Was ist der Día de los Muertos?
Der Día de los Muertos oder Tag der Toten ist ein Festtag, der den Tod und Leben zelebriert. Die Tradition hat ihren Ursprung in Mexiko, wird aber in ganz Lateinamerika mit jeder Menge Calaveras (Schädeln) und Calacas (Skeletten) gefeiert. Wie genau entstand die Tradition und was macht sie so einzigartig?

Am nächsten Morgen tragen Tausende von Gläubigen ihre Familienschädel aus den Schreinen in ihren Häusern zum Friedhof. Der große Anlass: der Día de las Ñatitas oder Tag der Ñatitas – eine verniedlichende Bezeichnung für die Schädel, die sich mit „Mopsnasen“ übersetzen lässt. Die Menschen beten, singen und tanzen in den Straßen der Stadt. Das große Fest wird jedes Jahr am 8. November von der zweitgrößten indigenen Gruppe des Landes begangen, den Aymara. Dabei mischen sich Bräuche aus dem Katholizismus mit dem vorkolonialen Inka-Glauben, um den Geistern zu danken, die den ñatitas innewohnen – sowohl jenen in den Gräbern als auch denen, die das ganze Jahr über an der Oberfläche verweilen.

BELIEBT

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    „Egal, wo man ist, denkt man an [die Ñatitas] und bittet um alles, was man will und braucht: um gute Leistungen in der Schule, um Gesundheit und Schutz“, erklärt die Teilnehmerin Lais Mejia A. Eine Ñatita im Haus zu haben, wird von vielen als großer Vorteil angesehen: Es heißt, dass die Toten die Macht haben, alle Aspekte des Lebens zu beeinflussen, von Liebe über Geld und Geschäfte bis zur Sicherheit.

    Womöglich beherbergt niemand mehr von diesen Wunscherfüllern in ihrem Haus als Elisabeth „Eli“ Portugal Coronez de Aduviri, die als „Königin“ des nahegelegenen Friedhofs gilt. 73 Ñatitas – mit Strickmützen mit aufgestickten Namen – nehmen einen Ehrenplatz in einem besonderen Raum ihres Hauses ein. Die Strahlen der Bergsonne fallen durch die Zwischenräume des Wellblechdaches. Die Schädel, in Reihen auf Metallregalen gestapelt, starren auf Auszeichnungen der lokalen Medien, einen Schrein des Heiligen Bombori und Blumenvasen, aus denen ein Hund zu trinken versucht, bevor er verscheucht wird. Pastellfarbene Bonbons und Zigarettenschachteln stehen als Opfergaben bereit. Eli kümmert sich um diese Schädel wie um Familienangehörige.

    Mit sieben Jahren, als Eli zu rauchen begann, bemerkte eine Lehrerin, dass sie in der brennenden Asche die Zukunft erkennen konnte. Seither ist ihre Verbindung zum Geisterreich immer stärker geworden.

    Eine Prozession von Tänzerinnen und Tänzern in Feder- und Paillettenkostümen zieht am Día de las Ñatitas durch die Straßen und trägt die knöchernen Familienmitglieder bis spät in die Nacht durch die Stadt.

    Foto von Jeff Heimsath

    Hinter den Anhängern, die Ñatitas tragen, erstrecken sich die Gänge des Generalfriedhofs endlos wie eine kleine Stadt. Straßenschilder helfen bei der Orientierung. Die Gräber sind in vier bis sieben Reihen vertikal gestapelt, je nachdem, wie viel eine Familie für die Pacht des Platzes bezahlt.

    Foto von Jeff Heimsath

    Jeden ersten Montag im Monat behauptet Eli zu träumen, dass die Unsterblichen sie zum Friedhof rufen. Sie geht zu ihnen, sagt sie, und manchmal wacht sie auf und riecht nach Alkohol. „Meine Seele zieht los. Es ist nicht so, dass ich fühle, wie ich sterbe, aber ich bin ein Teil von ihnen.“

    Die 53-Jährige kümmert sich um die verwaisten Schädel der Gemeinde – und um solche, deren Angehörige verreist sind oder sich aus anderen Gründen nicht um sie kümmern können.

    „Das ist sehr wichtig, weil ich diese Verbindung zu ihnen habe“, sagt Eli über den Día de las Ñatitas. „Dieser Tag ist für mich eine Erinnerung daran, dass ich außerkörperliche Erfahrungen habe. Ich bin Gott dankbar, dass ich diese Gabe habe.“

    Schädelverehrung im Andenraum

    Die Verbindung zur Geisterwelt zu pflegen, kann sich auszahlen: 2018 offenbarte einer von Elis 73 Ñatitas in einem Traum den Täter eines Raubüberfalls. Laut der bolivianischen Tageszeitung Página Siete befinden sich außerdem fünf Schädel bei der Ermittlungseinheit der Polizei in El Alto – jenem Viertel über dem Friedhof. Sie halfen 2017 dabei, einen Mordfall aufzuklären.

    Die Feiernden breiten auf dem Friedhof Picknickdecken aus, um sich in Gesellschaft der Verstorbenen am Día de las Ñatitas zu sonnen.

    Foto von Jeff Heimsath

    Der in den Anden verbreitete Glaube, dass Schädel Weisheit und Kraft übertragen können, um Probleme zu bewältigen, könnte seinen Ursprung in Tiwanaku haben. Das legendäre Reich, das schon vor der Zivilisation der Inka bestand, hatte sein Epizentrum in diesem Teil Boliviens. Spuren der alten Traditionen sind überall zu finden. Steingesichter von etwa 300 n. Chr. zieren die Sandsteinwände des halbunterirdischen Tempels nahe den heiligen Ufern des Titicacasees auf dem Altiplano. Von dieser Hochebene in den Anden stammen die Aymara. Skulpturen von pumaköpfigen Kriegern halten ein Messer in der einen Hand und einen abgetrennten menschlichen Kopf in der anderen.

    Laut dem Anthropologen Milton Eyzaguirre, der das spirituelle Konzept des Sterbens in den Anden erforscht, lässt sich dieser Brauch recht einfach erklären: „Wenn man das Haupt seines Feindes hat, hat man seine Macht“, erzählt er am Schreibtisch seines Büros im Nationalen Museum für Ethnographie und Folklore. „Wir können an Stoffen oder Keramiken sehen, dass es früher diese Kopfjäger gab.“ Obwohl Schädel in dieser Region seit langem verehrt werden, ist der genaue Beginn der heutigen Feierlichkeiten noch unklar. „Leider gibt es keine komplexen Informationen über den [Día de las Ñatitas]“, fährt Eyzaguirre fort. Er bringt die vorspanischen Feste mit dem Zyklus der Jahreszeiten in Verbindung.

    Galerie: Der Día de Muertos 

    Um die Zeit der Herbstsaat herum riefen die Aymara – nach dem Fall des Tiwanaku-Reiches unter Inka-Herrschaft – Supay an, den Gott des Todes und Herrscher von Ukhu Pacha, der Inka-Unterwelt. Sie verspritzten Alkohol auf den Feldern, „damit Boden und Menschen fruchtbar sein mögen und der Bergbau produktiver“. Als die Spanier im 16. Jahrhundert auftauchten, versuchten sie, diese Praktiken zu unterbinden, die sie als Teufelsverehrung betrachteten. Insgeheim lebten sie jedoch fort. In den 1970ern zogen Wellen von Bauern aus ländlichen Gebieten nach La Paz, um Arbeit zu finden. So fanden die alten Rituale wieder ein größeres Publikum.

    Jede Ñatita ist ein Schädel, aber nicht jeder Schädel ist eine Ñatita. Die Aymara glauben, dass Geister mit einzigartigen Identitäten die Ñatitas bewohnen, und danken ihnen für ihren Schutz am Día de las Ñatitas.

    Foto von Jeff Heimsath

    Die Feierlichkeiten für diese Rituale beginnen am 1. und 2. November mit dem Día de los Muertos (Tag der Toten), der die Rückkehr der Vorfahren auf die Erde ehrt. Sie werden später in der Woche fortgesetzt, um an vergessene Geister zu erinnern, die am Día de las Ñatitas Schädel mit ihren eigenen Identitäten besetzen. Während der Frühlingserntezeit in Bolivien enden die monatelangen Feiern mit der symbolischen Beerdigung der beliebten schelmischen Figur Pepino, die gute Laune verbreitet. Damit wird auch symbolisch der Winter begraben, in dem die Geister regieren.  

    Leichenteile wieder auszugraben oder Schädel im Wohnzimmer aufzubewahren, mag in einigen Kulturen makaber klingen. Statt Angst begegnen die Aymara der Sterblichkeit jedoch mit fröhlicher Volksmusik und Tänzen am Día de las Ñatitas. Obwohl die Praktiken in den letzten Jahren auch kommerzialisiert wurden, bekräftigt Eyzaguirre: „Für die Aymara bedeutet der Tod Leben.“

    Das Geschäft mit der Geisterwelt

    Nach einer Nahtod-Erfahrung – er wurde im Alter von neun Jahren vom Blitz getroffen – wachte Kevin Juan Siñani Catacora mit einer Narbe auf dem Rücken auf. Und mit der Kraft, die Zukunft vorauszusagen. „Die Leute kennen mich als Hellseher.“ Für eine Schachtel Zigaretten und 20 Bolivianos (etwa drei Dollar) beantwortet Kevin eine Frage: Er wickelt die Zigaretten wie Dynamit zu zwei Bündeln, steckt sie in den Boden und zündet sie an. Dann studiert er den Rauch der glimmenden Bündel mit geübter Konzentration, um seinen Kunden zu helfen, die geschäftlichen oder rechtlichen Rat brauchen. Kevin verlangt happige 300 Bolivianos (43 Dollar, etwa ein Fünftel des durchschnittlichen Monatseinkommens in La Paz) für Opfergaben und Gebete für Verstorbene, die auf dem Generalfriedhof begrabenen sind.

    In einer Kultur, die mit den Toten kommunizieren will, boomen die Geschäftsmöglichkeiten für spirituelle Führer wie Kevin, Eli und die Yatiri oder Aymaran-Hexendoktoren, die versuchen, mit einer anderen Dimension Kontakt aufzunehmen. Doch der Stadtfriedhof steht vor einem echten limitierenden Problem: dem schieren Platzmangel. Die Gänge mit den Gräbern ziehen sich endlos in die Länge, oft sind vier bis sieben Gräber übereinandergereiht – je nachdem, was sich die Familie leisten kann.

    „Jährlich sterben in La Paz etwa 15.000 Menschen. Wir [bestatten] ein Drittel.“ Andere Gräber befinden sich auf privatem oder illegal genutztem Gelände, erklärt der Direktor des Generalfriedhofs, Ariel Conitzer. Sein Büro bietet einen Blick auf die Friedhofsbesucher, die in Gesellschaft der Verstorbenen Gebete singen oder picknicken.

    Grabstätten werden gepachtet, und nach einer festgelegten Zeitspanne werden die Leichen in kleinere Kisten umgelegt. „Sie verbiegen den Leichnam ein bisschen“, sagt Conitzer.

    Wenn zukünftige Generationen nicht mehr zahlen, werden die sterblichen Überreste herausgeholt, eingeäschert und in ein Gemeinschaftsgrab geschüttet – wie eines von mehreren, die für den Día de las Ñatitas ausgegraben wurden. Die Schädel werden während dieses Prozess mitunter von Friedhofsmitarbeitern vermittelt. Andere Ñatitas – wie die im Haus der einheimischen Angela Vargas – werden von einer medizinischen Hochschule gekauft. Nur wenige Menschen behalten den Schädel eines Verwandten. Zu ihnen gehört eine Frau, die es vorzieht, Carmen genannt zu werden – aus Angst davor, ihre (lebenden) Familienmitglieder könnten herausfinden, dass sie die Totengräber abgefangen hat. Der Schädel ihres Bruders sitzt nun auf einem von Elis Regalen und sie besucht ihn regelmäßig.

    Die Ñatitas sind Teil des täglichen Lebens der Aymaran-Familien und erhalten anlässlich des jährlichen Fests den Dank von Tausenden. Andere bleiben skeptisch: „Die Kirche hat mich gebeten, ihre Teilnahme einzuschränken. Ich sagte, tun Sie, was Sie normalerweise tun“, sagt Conitzer. „Schließlich sind es nur Schädel“.

    Leben und Tod und alles dazwischen

    Am Día de las Ñatitas sind die Heiligen in der Kirche des Generalfriedhofs mit blauen Planen bedeckt, die ihre verhärteten Augen vor der Menge abschirmen, die durch die Türen strömt. Die Gläubigen tragen Holz- und Glaskästen mit Schreinen für die Ñatitas, die für diesen besonderen Tag hergerichtet sind: Zigaretten hängen aus ihrem Kiefer, Sonnenbrillen oder Wattebäusche schützen die Augenhöhlen, Blumenkronen zieren die Schädel, über denen in der Mitte der Kirche gebetet wird.

    Kevins Gruppe hängt violette Luftschlangen und Luftballons über die geöffnete Grabstätte. Die Familien breiten Picknickdecken aus, um neben den Toten eine Mahlzeit zu teilen. Mittags fangen Elis Freunde in gefiederten und paillettenbesetzten Kostümen an zu tanzen. Ihre Prozession ergießt sich in die Straßen, tanzt und trinkt zwischen dem Verkehr und trägt die knöchernen Familienmitglieder feiernd bis spät in die Nacht. In der Zwischenzeit bringen die Totengräber die Schädel zurück und schieben sie samt ihren Blumenkronen in das Gemeinschaftsgrab, wo sie bis zum kommenden Jahr bleiben werden.

    Die Totengräber legen die Schädel und ihre Blumenkronen bis zum Día de las Ñatitas im nächsten Jahr in das Gemeinschaftsgrab zurück.

    Foto von Jeff Heimsath

    Der Día de las Ñatitas verbindet im modernen Bolivien Katholizismus und indigenen Glauben, um den Geistern, die Schädel bewohnen, für ihren Schutz zu danken. Dennoch bleibt das Band zwischen Lebenden und Toten das ganze Jahr über unerschütterlich. Kevin schließt mit den Worten: „Zu sterben bedeutet nur, das zu beenden, was man in dieser Welt tun soll.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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