Sutton Hoo: Warum das prunkvolle Schiffsgrab das letzte seiner Art war

Das prächtige angelsächsische Schiffsgrab von Sutton Hoo könnte das letzte Aufbäumen einer alten Ära darstellen, die durch einen kulturellen Wandel endete.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 2. Feb. 2021, 16:37 MEZ
Dieser außergewöhnliche Helm wurde im frühen 7. Jahrhundert n. Chr. mit seinem angelsächsischen Besitzer – einem ...

Dieser außergewöhnliche Helm wurde im frühen 7. Jahrhundert n. Chr. mit seinem angelsächsischen Besitzer – einem Elitekrieger oder möglicherweise sogar einem König – in Sutton Hoo begraben.

Foto von British Museum

Archäologen sind oft eher von der zurückhaltenden Sorte. Sie gehen auf Nummer sicher, prüfen die Daten auf Herz und Nieren und neigen dazu, über jeden Hauch von Sensationslust die Nase zu rümpfen. Erwähnt man aber die alten Grabhügel von Sutton Hoo im Südosten Englands, entlockt das selbst den vorsichtigsten Forschern ganz andere Töne: Prächtig! Monumental! Unvergleichlich!

Im Jahr 1939 entdeckten Archäologen an dieser Stelle ein 1.400 Jahre altes angelsächsisches Grab, das aus einem ganzen Schiff sowie einer schwindelerregenden Fülle von Grabbeigaben bestand. Der spektakuläre Fund veränderte das Verständnis der Historiker vom frühmittelalterlichen Britannien, sagt Sue Brunning. Die Kuratorin kümmert sich im British Museum um die inzwischen legendären Artefakte. „Es hat alles auf einen Schlag verändert.“

Ein Foto von der ursprünglichen Ausgrabung in Sutton Hoo zeigt die Überreste des hölzernen Schiffes, das vor rund 1.400 Jahren im Südosten Englands aufwendig vergraben wurde.

Foto von British Museum

Zweiundachtzig Jahre später strahlt das Schiffsgrab von Sutton Hoo dank des neuen Netflix-Films „The Dig“ mit Carey Mulligan, Ralph Fiennes und Lily James wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Aber im frühen 7. Jahrhundert n. Chr., als der letzte Spaten Erde über den angelsächsischen Krieger und seine Schätze geworfen wurde, kam es bereits aus der Mode, die Toten mit einem Haufen Klunker zu begraben. Binnen eines Jahrhunderts nach Sutton Hoo waren in den meisten englischen Gräbern kaum mehr als verwesende Leichname zu finden. Weshalb änderten sich diese Bestattungspraktiken?

„Die Menschen wurden seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in Schiffen begraben“, sagt Brunning. Das Gleiche galt für Grabbeigaben: Im frühmittelalterlichen Europa wurden Menschen nur selten ohne wenigstens ein paar Dinge begraben, die ihnen lieb und teuer waren, von Perlen über Münzen bis hin zu Pferdegeschirr und mehr.

Die Grabstätte in Sutton Hoo wurde von Basil Brown freigelegt. Brown war ein ungeschulter Ausgräber, der von der Landbesitzerin Edith Pretty angeheuert wurde, die wissen wollte, was unter den Grabhügeln auf ihrem Grundstück in Suffolk nahe dem Fluss Deben lag. In einer Reihe von Ausgrabungen förderte Brown nach und nach 263 kostbare Objekte zutage, die in dem 27 Meter langen angelsächsischen Schiff vergraben waren. Zu den opulenten Funden aus Materialien wie Eisen, Gold, Knochen, Granat und Federn gehörten ein Helm mit menschlichem Gesicht, fein gearbeitete Schulterspangen, Haushaltsgegenstände und Waffen – viele davon mit Verbindungen zu weit entfernten Orten wie Syrien und Sri Lanka.

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    Als die Artefakte von Sutton Hoo entdeckt wurden, veränderten sie schlagartig das Bild der Historiker von der Ära, die einst als finsteres Mittelalter galt. Die Grabbeigaben zeugten von großer Handwerkskunst und waren aus Materialien aus aller Welt gefertigt. Sie legten nahe, dass die frühmittelalterliche Gesellschaft, die in epischen Gedichten wie „Beowulf“ geschildert wird, mehr Realität als Mythos sein könnte. „Zuvor hielt man diese Dinge weitgehend für Fantasie“, sagt Brunning.

    Aber die Praxis der reichen Grabbeigaben war bereits im Niedergang begriffen, als der namenlose Angelsachse von Sutton Hoo seinen letzten Atemzug tat. Zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert n. Chr. wurden die Gräber in England einfacher und schmuckloser.

    Eine sterbende Tradition

    Um zu verstehen, wie und warum der Brauch ausstarb, befasste sich die Archäologin Emma Brownlee, eine Forschungsstipendiatin am Girton College der University of Cambridge, näher mit dem Thema. Brownlee, die sich auf frühmittelalterliche Bestattungspraktiken spezialisiert hat, durchforstete archäologische Aufzeichnungen, die mehr als 33.000 frühmittelalterliche Gräber dokumentieren. Ihre Analyse, die kürzlich in der Zeitschrift „Antiquity“ veröffentlicht wurde, umfasst 237 Friedhöfe in Nordwesteuropa, die meisten davon in England.

    Anhand von Beschreibungen und Zeichnungen von Zehntausenden Gräbern, die in den letzten 60 Jahren ausgegraben wurden, berechnete Brownlee akribisch die durchschnittliche Anzahl von Objekten pro Grab, bis hin zur letzten Perle. Sie sammelte auch andere wichtige Informationen, beispielsweise wie lange die Friedhöfe genutzt wurden und was die zuverlässigsten Datierungstechniken über ihr Alter vermuten lassen.

    Dann machte sie sich ans Rechnen. Ihre Karte zeigt, dass in England schon in der Mitte des 6. Jahrhunderts auf Grabbeigaben verzichtet wurde. Zu der Zeit, als der angelsächsische Krieger um 625 beigesetzt wurde, waren reich ausgestattete Gräber bereits die Ausnahme.

    „Nach dem 7. Jahrhundert wurde niemand mehr mit Grabbeigaben bestattet“, sagt Brownlee.

    Da sich ihre Daten auf England beziehen, gibt Brownlee zu bedenken, dass die Engländer nicht unbedingt die Vorreiter waren. Nichtsdestotrotz zeigen ihre Daten, dass Englands Trend zu einfacheren Bestattungen in den 720ern abgeschlossen war, während der Rest Nordwesteuropas ein weiteres halbes Jahrhundert brauchte, um diesem Beispiel zu folgen.

    Die Geburt Englands war der Tod der Grabbeigaben

    Die sich verändernden Bestattungspraktiken fielen mit einer Zeit tiefgreifender Veränderungen in England zusammen. Einst unter römischer Herrschaft, wurde England um 410 unabhängig und wurde mit einer Welle von Eroberern nach der nächsten konfrontiert, darunter die germanischen Angeln und Sachsen.

    Zwischen 400 und 600 schlossen sich diese heidnischen Mächte zu Königreichen zusammen, die im 7. Jahrhundert zum Christentum konvertierten. Die mächtigsten angelsächsischen Königreiche überlebten die Wikingerinvasion, die im 9. Jahrhundert begann. Sie schlossen sich 927 zum Königreich England zusammen und bildeten die Grundlage der modernen britischen Monarchie.

    Man vermutet, dass es sich bei dem Krieger im Schiffsgrab um einen angelsächsischen König handelte, womöglich Rædwald von East Anglia, der zwischen ca. 599 und 624 ein Königreich regierte, zu dem auch Suffolk gehörte. Die Jahreszahlen auf Münzen, die in der Grabstätte gefunden wurden, stimmen mit seiner Regierungszeit überein, und die Qualität und der Wert der Grabbeigaben lassen auf eine Person mit großem Einfluss schließen.

    Das gilt auch für die Existenz des Grabes selbst. „Allein der Akt, ein Schiff aus dem bergab gelegenen Fluss dort raufzuziehen, ein Loch zu graben, das groß genug ist, um das Schiff zu beherbergen, und die Grabkammer zu bauen – das ist fast wie ein Theaterstück“, sagt Brunning. „Wir können uns vorstellen, dass daran riesige Gruppen von Menschen beteiligt waren. Die Bestattung selbst wäre ein gewaltiges Ereignis gewesen, und der [Grabhügel] war so riesig, dass die Leute ihn wahrscheinlich vom Fluss aus sehen konnten, wenn sie vorbeifuhren.“

    Das in Sutton Hoo bestattete Individuum wurde mit seinem Schwert begraben. Jüngste Forschungen der Kuratorin Sue Brunning des British Museum legen nahe, dass der angelsächsische Besitzer der Waffe Linkshänder war.

    Foto von British Museum

    Archäologen glauben, dass Sutton Hoo auch eine Begräbnisstätte für die Verwandten des Adeligen war, die in etwa 17 anderen Grabhügeln in der Nähe des mutmaßlichen Königs beigesetzt wurden. Ein weiteres, kleineres Schiff wurde ebenfalls an diesem Ort gefunden.

    Politische Machtverhältnisse könnten der Schlüssel für die Veränderung bei den Bestattungspraktiken sein, sagt der Archäologe Heinrich Härke. Der Spezialist für frühmittelalterliche Bestattungen und Professor an der HSE-Universität in Moskau war nicht an der Forschung beteiligt. Als die Herrscher in England im 6. Jahrhundert begannen, ihre Macht zu konsolidieren und Königreiche zu gründen, könnte es laut Härke für die Menschen weniger wichtig geworden sein, ihre Macht zur Schau zu stellen und solche prunkvollen Gegenstände zu begraben.

    Ein anderer Frühmittelalter-Archäologe, Andrew Reynolds vom University College London, hat eine eigene Theorie: Der Aufstieg der Könige ließ jeden verarmen, der nicht zur Oberschicht gehörte.

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    „Der wachsende Zugriff der englischen Königshäuser auf Ressourcen und Land versetzte den Freiheiten, die die kleinen Gemeinden zuvor genossen hatten, den ersten Todesstoß“, sagt er. „Der Reichtum wurde polarisiert.“

    Und dann ist da noch der Aufstieg des Christentums. Als sich die neue Religion in ganz Europa durchsetzte, kamen Grabhügel aus der Mode. Königliche Ruhestätten wurden auf Kirchhöfen oder in Gräbern innerhalb von Kirchen und Kathedralen angelegt. Auch die Zahl der Grabbeigaben nahm ab. Ab dem 8. Jahrhundert wurden Eliten ebenso wie normale Bürger meist nur noch mit Leichentüchern, persönlichen Schmuckstücken oder christlichen Ornamenten wie Kreuzen bestattet.

    Reynolds betrachtet die Bestattung in Sutton Hoo als Teil dieses Wandels, zumal es sich um die Grabstätte einer einzigen angelsächsischen Familie zu handeln scheint und nicht um einen Teil eines größeren Friedhofs.

    Ein Blick über die frostbedeckten Grabhügel bei Sutton Hoo in der Morgendämmerung. Ein Teil des Gräberfeldes, das in der Nähe des berühmten Schiffes entdeckt wurde, wurde für zukünftige Generationen von Archäologen unberührt gelassen, um es irgendwann mit neuen Fragestellungen und neuen Technologien zu erforschen.

    Foto von NATIONAL TRUST PHOTOLIBRARY, ALAMY

    „Alle hochrangigen Gräber aus dieser Zeit befinden sich abseits der Grabstätten von Menschen mit geringerem Status“, sagt er. „Was wir hier sehen, ist ein Versuch jener Menschen, die den Zugang zu hochrangigen Gütern kontrollierten und mit ziemlicher Sicherheit lokal das Sagen hatten, sich von anderen zu unterscheiden – nicht nur durch den Erwerb von protzigen Gegenständen, sondern auch räumlich, um sich abzuheben.“

    Brownlee hingegen glaubt, dass nicht etwa monarchisches Machtstreben, sondern zunehmender Handel und Verbindungen in ganz Westeuropa den Trend zu schmucklosen Bestattungen erklären. „Die Veränderung der meisten Bestattungspraktiken geschah durch die Kommunikation mit Menschen von ähnlichem sozialen Status“, theoretisiert sie. Sie verweist auf soziologische und linguistische Modelle, die zeigen, dass sich kulturelle Veränderungen am schnellsten verbreiten, wenn sie von sozial Gleichgestellten ausgehen.

    Vielleicht wurzelte die Bestattung in Sutton Hoo auch in Angstgefühlen des Adels, sagt Brunning. „Es gibt viele Theorien darüber, ob das eine Reaktion auf die Ankunft des Christentums ist – ein letztes Hurra auf die gute alte vorchristliche Art, Dinge zu tun“, sagt sie. „Es könnte eher ein Zeichen von Unsicherheit als von Stärke sein. Eine symbolische Geste, die Gefühle der Verunsicherung überspielt.“

    Arbeit für künftige Generationen

    In Ermangelung von eindeutigen Beweisen bleibt es für Wissenschaftler schwierig, genau herauszufinden, wie sich die Bestattungspraktiken der Vergangenheit in den breiteren gesellschaftlichen Wandel einfügen. Aber ein noch nicht ausgegrabener Teil der Stätte von Sutton Hoo bietet einen Hoffnungsschimmer für die Beantwortung dieser Frage – zumindest für das mittelalterliche England.
    Nach Browns erster Ausgrabung setzten zwei weitere Ausgrabungsprojekte die Erkundung der Stätte bis in die frühen Neunziger fort. Aber ein Teil des Gräberfeldes in der Nähe des berühmten Schiffes wurde „zukünftigen Generationen mit neuen Fragen und neuen Techniken überlassen“, so ein Sprecher des National Trust gegenüber der „East Anglian Daily Times“ im Jahr 2019.

    Vorerst müssen sich die Forscher mit dem begnügen, was bereits von Brown und seinen Nachfolgern ausgegraben wurde – oder wie Brownlee versuchen, neue Erkenntnisse aus alten Daten zu gewinnen. In der Zwischenzeit werden Brunning und ihre Kuratoren-Kollegen die im Grabhügel gefundenen Artefakte akribisch konservieren. Die Fundstücke erzählen von einer Ära des Königtums und des Prunks, die Historiker vor Browns Entdeckung als mythisch abgetan hatten.

    Unabhängig davon, was der Grund für die prunkvolle Bestattung in Sutton Hoo und für das Verschwinden dieser Praktik ist: Es lohnt sich immer, darüber nachzudenken, wie und warum die Menschen der Vergangenheit ihre Toten begruben und was sie dabei (nicht) beigesetzt haben.

    „Gräber sind einer der wenigen Teile des archäologischen Befunds, die absichtlich in den Boden gelegt wurden“, sagt Brownlee. „Fast alles andere sind Zufallsfunde.“ Jeder Gegenstand „wurde mit einem bestimmten Zweck dort hingelegt. Diesen Zweck wiederzuentdecken, ist Teil der Herausforderung.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Geschichte und Kultur

    Radiokarbonmethode: Wie datiert man archäologische Funde?

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