Urgeschichte der Karibik: Erforscht dank alter DNA

Eine Genom-Studie gibt Aufschluss darüber, wer vor tausenden von Jahren in der Karibik lebte und wie sich die Bevölkerung vernetzte. Wie lässt sich das so genau herausfinden?

Von Barbara Buenaventura
bilder von Merald Clark für SIBA
Veröffentlicht am 26. Feb. 2021, 14:43 MEZ
Urbevölkerung der Karibik

Wer lebte vor tausenden von Jahren in der Karibik? Eine Genom-Studie könnte dafür sorgen, dass Geschichtsbücher neu geschrieben werden. 

Foto von Merald Clark für SIBA

Expertise aus Archäologie, Anthropologie, Physik und Genforschung traf auf das Wissen aus Museen und von der indigenen Bevölkerung der Karibik einer besonderen Studie der Uni Wien. Die Kernfrage: Wer waren die ersten Völker der Karibik und welche Geschichten hatten sie zu erzählen - in Bezug auf ihre Herkunft, auf Kontakte und Interaktionen sowie Konflikte des alltäglichen Lebens? Anhand von uralter DNA aus Skeletten, die von archäologischen Stätten auf den karibischen Inseln stammten, erhielten die Forscher erstaunliche Erkenntnisse über die Ursprünge der karibischen Bevölkerung seit der Archaik: So entdeckte das Forscherteam um die Wiener Anthropologen Ron Pinhasi und Daniel Fernandes etwa, dass die karibische Bevölkerung dieses Zeitalters nicht – wie bislang angenommen – von nordamerikanischen Völkern abstammte, sondern von einer einzigen Bevölkerungsgruppe in Mittel- oder Südamerika.

Durch die Analyse von 174 neuen und 89 bereits zuvor sequenzierten Genomen konnte das Forscherteam auch die Größe der karibischen Bevölkerung vor dem Erstkontakt mit den Europäern schätzen. Diese fiel mit einer Zahl zwischen 10.000 und 50.000 Menschen in Hispaniola und Puerto Rico wesentlich geringer aus als in historischen Berichten aufgeführt: Hier war von mehreren hunderttausenden bis Millionen von Menschen ausgegangen worden. 

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Wie lässt sich so ein Mammutprojekt über Ländergrenzen und Disziplinen stemmen, welche Schwierigkeiten können bei der Analyse von aDNA („ancient DNA“) auftreten und welche Chancen bietet das Zusammenspiel von Genetik und Archäologie? Ron Pinhasi, Ko-Erstautor und assoziierter Professor am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien, erklärt im Gespräch die Hintergründe zur Studie, die im Fachmagazin "Nature" publiziert wurde:

Sie haben über 260 Genome aus der Karibik analysiert: Welcher Aufwand entsteht dabei – und inwiefern stellt die Studie einen Präzedenzfall dar?

Unsere Studie ist die bislang größte über historische Bevölkerungsgruppen in Amerika. Am analytischen Teil dieses Projekts saßen zwei Personen ungefähr ein Jahr, die Laborarbeiten zur Verarbeitung all dieser Materialien begannen jedoch schon etwa anderthalb Jahre zuvor. Es ist eine Herausforderung, genetische Daten von uralten Skeletten aus Regionen wie der Karibik, aus Süd- und Südostasien und dem größten Teil Afrikas zu erhalten, da die Laborarbeit sehr anspruchsvoll ist – bei einer gleichzeitig geringen Erfolgsquote. Das heißt nicht, dass es trivial ist, aDNA aus europäischen Proben zu erhalten, aber im Allgemeinen dürfte es aufgrund der viel besseren DNA-Konservierung in den meisten Teilen Europas doch einfacher sein.

Welchen spezifischen Herausforderungen standen Sie gegenüber?

Wir wussten von Anfang an, dass ein komplexes Projekt auf uns zukommt. So war es zum Beispiel nicht ganz einfach, relevante Skelette aus archäologischen Stätten zu finden und die Genehmigungen für eine Probenahme zu erhalten. Die organische Konservierung in der Karibik ist insgesamt eher schlecht – das warme und feuchte Klima ist nicht gut für die Knochenkonservierung. Zudem umfasste die Arbeit die Suche und Koordination mit verschiedenen Museen und Institutionen. Wir konnten letztendlich mit Skeletten von allen relevanten Inseln arbeiten – aber natürlich gibt es dennoch einige Lücken.

Wie lassen sich Interaktionsnetzwerke anhand von aDNA nachvollziehen?

In dieser Studie haben wir große Mengen kleiner Variationen im Genom jedes Individuums verglichen, um zu untersuchen, wie viel von dieser Variation mit anderen Individuen oder Populationen geteilt wird. Ereignisse wie gemeinsame Vorfahren oder Beimischungen unterschiedlicher Gruppen können dann identifiziert und genetische Beziehungen bewertet werden. Das Personengenom jedes Menschen besteht aus bestimmten Segmenten, die von seiner Vorfahren geerbt wurden. Einige davon sind in bestimmten Populationen einzigartig, andere kommen sehr häufig vor. Das Genom ist dann wie ein Buch, das mit einem gemeinsamen Alphabet – zum Beispiel Latein – geschrieben ist, aber aus vielen Wörtern besteht: Einige davon sind wirklich einzigartig - nicht für das gegebene Buch, also die Person, sondern für die Menschen von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Periode. Im Forschungsprozess geht es darum, diese einzigartigen Segmente und Variationen – oder „Wörter“ – zu erkennen. Das bedeutet, dass wir sogar aus wenigen alten Genomen viel über vergangene Populationen herausfinden können.

BELIEBT

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    Welche Erkenntnisse waren am überraschendsten für Sie?

    Wir verstehen jetzt besser, wie die Völker in der Karibik vor dem Erstkontakt mit den Europäern sozial organisiert waren und wie sie miteinander interagierten. Wir haben herausgefunden, dass sich die Menschen, die mit umfangreichen Keramikgebrauch verbunden waren und die Inseln vor etwa 1.700 Jahren erreichten, wahrscheinlich nur in äußerst begrenztem Umfang mit den Menschen vermischten, die sich zuvor dort angesiedelt hatten. Mit am überraschendsten war für uns jedoch die Schätzung der Bevölkerungsgröße: Alles weist darauf hin, dass in der Karibik viel weniger Menschen lebten als bislang angenommen.

    In historischen Berichten war bislang von mehreren hunderttausenden bis Millionen Einwohnern die Rede. Sollten auf Grund Ihrer Erkenntnisse nun Geschichtsbücher neu geschrieben werden?

    Gewissermaßen ja. Unsere Berechnungen der effektiven Populationsgrößen sind sehr klein, aber auch genau: Wir gehen von einer mindestens 500 bis 1.500 und höchstens 1.530 bis 8.150 Einwohnern in Hispaniola aus. Die tatsächliche Bevölkerungszahl zu einem bestimmten Zeitpunkt kann theoretisch das Zehnfache betragen, ist in der Regel aber nie so groß. Wenn wir vom realistischeren Zwei- bis Vierfachen unserer Schätzung ausgehen, würde sich die Bevölkerungszahl zwischen 1.000 und etwa 80.000 Personen bewegen. Höchstwahrscheinlich beträgt die tatsächliche Anzahl jedoch nicht größer als 50.000, wahrscheinlich viel weniger. Wir können nicht genauer sein, unsere Zahlen sind aber durchaus vertrauenswürdig, da sie auf populationsgenetischen Analyseverfahren basieren – und sie stützen die historischen Annahmen von hunderttausenden Einwohnern in keinster Weise.

    Der Experte: Ron Pinhasi, ist Ko-Erstautor der Studie über die Urgeschichte der Karibik und assoziierter Professor am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien. 

    Foto von Pinhasi

    Wie viel der ursprünglichen Bevölkerung steckt in den heutigen Bewohnern der Karibik?

    Unsere Schätzungen variieren von Insel zu Insel. Insgesamt haben wir festgestellt, dass zwischen 3 und 14 Prozent des Erbguts der heutigen karibischen Bevölkerung in Kuba und Puerto Rico auf die ursprüngliche Bevölkerung des Keramikzeitalters zurückgeführt werden kann.

    Was treibt Sie als Wissenschaftler an?

    Als Wissenschaftler bin ich von Neugier, Vorstellungskraft und Faszination getrieben. In einigen Fällen kommt die Anregung durch das Lesen von Geschichts- und Archäologiebüchern oder durch das Nachdenken über einige Fragen. Ich kann den Prozess, der zu diesem speziellen Projekt geführt hat, nicht wirklich rekonstruieren, da in vielen Fällen, einschließlich diesem, die Idee nur in einer einfachen Form "erscheint", zum Beispiel als Frage: Wer waren die ersten Völker der Karibik und was war ihre Vorgeschichte in Bezug auf Migrationen, Kolonialisierung, Interaktionen und Konflikte in Bezug auf bestimmte technologische und wirtschaftliche Innovationen wie Töpferei, Landwirtschaft, Seefahrt und Schifffahrt? Sicherlich können wir nicht alle diese Fragen mit Genomdaten beantworten, aber wenn wir unsere neuen Daten und Erkenntnisse im Rahmen interdisziplinärer Projekte mit Daten und Fachwissen aus anderen Bereichen und insbesondere der Archäologie kombinieren, gewinnen wir oft sehr neue und überraschende Erkenntnisse über die Vergangenheit. Das finde ich an der Paläogenetik am aufregendsten.

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