Ferndiagnose: Was verrät die DNA eines ermordeten französischen Revolutionärs?

Jean Paul Marat wurde 1793 in seiner Badewanne erstochen. Seine Schwester bewahrte eine Zeitung auf, auf die sein Blut spritzte – und moderne Wissenschaftler untersuchten das Beweisstück.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 18. Feb. 2021, 09:06 MEZ, Aktualisiert am 18. Feb. 2021, 10:31 MEZ
Diese Darstellung aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Moment, nachdem der französische Revolutionär Jean-Paul Marat in ...

Diese Darstellung aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Moment, nachdem der französische Revolutionär Jean-Paul Marat in seiner Badewanne von Charlotte Corday ermordet wurde.

Foto von Ullstein Picture, Getty

Was haben Emily Dickinson, Karl Marx und Jesus von Nazareth gemeinsam? Sie alle haben eine Rolle in einem kleinen Detektivspiel gespielt: Rückwirkende Diagnosen sind Gedankenexperimente, bei denen moderne Wissenschaftler heutige Diagnosemethoden verwenden, um mögliche Ursachen für historische Krankheiten und Todesfälle herauszufinden. Sie sind ein beliebter Zeitvertreib von Geschichtsfans und ein fester Bestandteil von medizinischen Konferenzen. Die Theorien reichen von plausibel bis verrückt (Julius Caesar hatte Epilepsie! Oder nein – einen Mini-Schlaganfall!). Aber bis 2019 hat sich dabei noch niemand auf die DNA der historischen Figuren gestützt, die sie zu diagnostizieren versuchten.

Dank eines besonders brutalen Mordes glauben Forscher jedoch, ein medizinisches Rätsel um einen berüchtigten französischen Revolutionär gelöst zu haben. Dafür analysierten sie DNA von dem 200 Jahre alten Tatort, wie in einer Studie nachzulesen ist, die auf „bioRxiv“ veröffentlicht wurde. Die Forscher schreiben, dass die Studie die erste retrospektive medizinische Diagnose ist, die die genetische Analyse einer historischen Figur beinhaltet. Eine weitere Premiere: die älteste erfolgreiche Gewinnung von genetischem Material aus Zellulosepapier.

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Im Zentrum steht das Blut einer der bedeutendsten Figuren der Französischen Revolution: Jean Paul Marat. In den 1780ern gewann Marat durch seine revolutionäre Publizistik und seine Zeitung „Ami du Peuple“ die leidenschaftliche Unterstützung der armen Pariser - und viele Feinde in der Monarchie.

Marats körperliche Erscheinung war ebenso polarisierend wie seine radikalen politischen Positionen. Er trug auffällige Kleidung – dramatische Gewänder, Kopftücher und offene Hemden, die er von Pariser Arbeitern übernahm – und hatte eine sichtbare Hautkrankheit. Die Menschen schreckten vor seinen Blasen und nässenden Wunden zurück und führten Marats schmerzhaften Zustand auf alles Mögliche zurück, von Syphilis bis hin zu einem gefährlichen Temperament.

Wegen seiner aufrührerischen Ansichten befand sich der Journalist oft auf der Flucht. Er verbrachte Jahre damit, sich auf Dachböden und sogar in der Pariser Kanalisation zu verstecken, um seinen Feinden zu entkommen. Doch 1793 hatte Marat endlich ein festes Zuhause und die Möglichkeit, sein zunehmend schmerzhaftes Hautleiden zu behandeln. Nun machte ihn seine Erkrankung praktisch zu einem Einsiedler. Er verbrachte seine letzten Monate mit Schreiben und suchte mit langen Bädern Linderung für seine juckende, blasige Haut. Tatsächlich arbeitete er sogar in der Wanne und empfing von dort aus Freunde und Gäste. 

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    Am 13. Juli 1793 saß der Revolutionär wieder einmal in der Badewanne und kommentierte Zeitungsentwürfe. Dann platzte Charlotte Corday herein. Sie war ein Mitglied der gemäßigten republikanischen Fraktion der Girondisten, die sich gegen jene Volksgewalt wandte, die Marat mit angefacht hatte. Corday stach mit einem Küchenmesser in seinen Hals und seine Brust. Marat verblutete innerhalb von Sekunden.

    Der dramatische Mord machte Marat augenblicklich zu einem Märtyrer der Revolution. Seine Schwester bewahrte sorgfältig die mit seinem Blut befleckten Zeitungen auf, die bis heute erhalten sind. Könnten die Blutflecken genetische Hinweise auf den Hautzustand Marats enthalten? Diese Frage faszinierte den französischen Forensiker Philippe Charlier, der historischen Rätseln wie zum Beispiel der Frage nachgeht, ob Adolf Hitler wirklich tot ist oder woran Richard Löwenherz tatsächlich starb. Also setzte er sich mit dem spanischen Paläogenetiker Carles Lalueza-Fox in Verbindung und fragte ihn, ob es möglich wäre, die in Marats blutbespritzten Zeitungen erhaltene DNA zu analysieren.

    Um eine Probe zu entnehmen, ohne Marats kostbares Zeitungen zu beschädigen, orientierten sich Lalueza-Fox und ihre Kollegen an der modernen Forensik. Sie verwendeten dieselben Tupfer, die an Tatorten genutzt werden, um Proben von blutigem Papier zu gewinnen.

    “Selbst ausgebildete Dermatologen hätten ein solches Extrembeispiel nie gesehen.”

    von Carles Lalueza-Fox, Universitat Pompeu Fabra

    Eine Abstammungsanalyse bestätigte Marats wahrscheinliche französische und italienische Wurzeln. Aber die DNA, die nicht zu Menschen gehörte, war sogar noch faszinierender. Das Team entdeckte DNA von mehreren Krankheitserregern auf dem blutbefleckten Teil des Papiers. Mit dem indirekten Fund dieser Mikroben konnten sie frühere Diagnosen ausschließen, die als Quelle von Marats Leiden vermutet wurden.

    Hatte Marat Syphilis, wie es seine Feinde behaupteten? Nein, und er hatte auch keine Lepra, Candida-Pilzerkrankung oder Krätze. Stattdessen ist der Hauptverdächtige für Marats Elend Malassezia restricta, ein Pilz, der Hautinfektionen verursachen kann.

    Die Studie hatte aber auch ihre Einschränkungen: Die DNA wurde offensichtlich nicht zu Lebzeiten Marats gewonnen, und es lässt sich nicht sagen, wie viele andere Hände das Papier im Laufe der Jahre berührt und kontaminiert haben. Und selbst wenn Marats Zeitgenossen gewusst hätten, dass er eine Pilzinfektion hatte (oder über die Keimtheorie Bescheid gewusst hätten), hätten sie keine Ahnung gehabt, wie sie diese behandeln sollten.

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    Selbst moderne Dermatologen hätten damit vielleicht ihre Probleme, sagt Lalueza-Fox: Historische Berichte deuten darauf hin, dass die Pilzinfektion – oder eine mögliche Sekundärinfektion, die sich Marat zuzog, als sein Immunsystem durch Malassezia geschwächt war – ein Extrem erreicht hatte, das unter moderner medizinischer Aufsicht selten vorkommen würde. „Selbst ausgebildete Dermatologen hätten ein solches Extrembeispiel nie gesehen“, sagt er.

    Die Forschung wirft eine weitere kritische Frage auf: Ist es überhaupt möglich, jemanden mit einer Hauterkrankung anhand der DNA zu diagnostizieren? „Das ist eine knifflige Frage“, sagt Lalueza-Fox. DNA kann genetische Krankheiten und Marker offenbaren, die auf das Vorhandensein anderer Krankheiten hinweisen. Aber wenn es darum geht, das Vorhandensein von Infektionskrankheiten zu erkennen, steckt die DNA-Diagnose noch in den Kinderschuhen. Lalueza-Fox vermutet, dass eine Pilzinfektion Marats Hauterkrankung verursacht hat. Aber ohne einen tatsächlichen Blick auf seinen Körper und Hauttests lässt sich unmöglich sichergehen.

    Selbst mit DNA wird die vollständige Diagnose des längst verstorbenen Revolutionärs also vielleicht nie wirklich möglich sein. Warum befasst man sich dann überhaupt mit der Frage?

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    Der Arztberuf war vor der Entdeckung der Keime im 19. Jahrhundert weitgehend unreguliert und gefährlich. Die sanitären Verhältnisse waren schlecht, Leichen wurden in der Nähe lebender Patienten untersucht und einige Ärzte trugen voller Stolz blutige Schürzen als Zeichen ihres Könnens. Die Keimtheorie revolutionierte die Medizin und machte daraus die angesehene Praxis und das Studiengebiet, das wir heute kennen.

    Eine Antwort ist, dass gesundheitliche Probleme den Verlauf der Geschichte beeinflussen können. Marats Hauterkrankung zwang ihn, sich auf dem Höhepunkt seiner Kräfte aus der revolutionären Bewegung im Frankreich des 18. Jahrhunderts zurückzuziehen. Niemand kann sagen, wie er die Geschichte noch zu formen vermocht hätte, wenn er nicht aufgrund seines Hautleidens in die Isolation gezwungen worden wäre. So aber drängte ihn seine Erkrankung ins Abseits – und sie war so schmerzhaft, dass sie womöglich auch seine Persönlichkeit beeinflusste. „[Sein Zustand] könnte seine Entscheidungen und sein Wirken in der Geschichte beeinflusst haben“, sagt Lalueza-Fox. „Er war sehr, sehr krank.“

    Für Miguel Vilar, einen genetischen Anthropologen und Senior Program Officer der National Geographic Society, ist die Analyse verlockend. „Ich denke, das zeigt die Macht der Technologie, die wir jetzt haben“, sagt Vilar, der nicht an der Studie beteiligt war. „Wir können die Paläogenomik nutzen, um die Vergangenheit besser zu verstehen.“

    Die Analyse ist der erste Fall, bei dem Wissenschaftler erfolgreich DNA verwendet haben, um eine rückwirkende Diagnose zu erstellen. Es gab schon früher solche Versuche, aber heikle Fragen der Konservierung historische Objekte und der wissenschaftlichen Ethik haben sie zurückgehalten. Vor einem Jahrzehnt baten Forscher zum Beispiel um die Erlaubnis, die DNA des konservierten Herzens des Komponisten Frédéric Chopin zu analysieren – und scheiterten. (Sie analysierten es stattdessen visuell und glauben nun, dass er an Tuberkulose litt.)

    Vielleicht wird die vorliegende Studie andere Versuche inspirieren, historische Persönlichkeiten anhand ihrer DNA neu zu betrachten. Aber ist es wirklich möglich, jemanden über die Jahrhunderte hinweg zu diagnostizieren?

    Das sei unklar, sagt Sam Muramoto, ein Neurologe und leitender Wissenschaftler am Zentrum für Bioethik an der Oregon Health Sciences University, der nicht an der Studie beteiligt war. Es sei nicht unethisch, DNA oder andere Methoden zu verwenden, um auf die Gesundheit einer historischen Figur zurückzublicken, solange die Wissenschaftler auch die lebenden Verwandten berücksichtigen, sagt er. Allerdings sieht er diese rückwirkenden Diagnosen lediglich als Spekulation, so sehr sie auch auf wissenschaftlichem Know-how fußen mögen.

    „Das ist eine Art Berufskrankheit“, sagt Muramoto. „Wenn man einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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