An diesem Schweizer Berg geht eine Ära zu Ende

Schmelzendes Eis und eine komfortable neue Seilbahn verändern das Erlebnis auf dem Eiger für immer.

Von Mike MacEacheran
Veröffentlicht am 3. Dez. 2020, 12:45 MEZ
Eiger-Express

Der neue Eiger-Express bringt die Besucher vom Dorf Grindelwald zu einer Station auf 2.328 Metern am Eiger, vorbei an der legendären Nordwand des Schweizer Berges.

Foto von Jungfrau Railways

Vom Gipfel des Eigers aus, inmitten der dünnen Bergluft, bietet sich ein monumentaler Blick auf die geschichtsträchtigste Region der Schweiz. Zu allen Seiten erstrecken sich die gewaltigen Berner Alpen mit ihren kolossalen Gletschern und atemberaubenden Gipfeln.

Viele Abenteurer gelangen über die tückische Eigernordwand an die Bergspitze, die 3.967 Meter über dem Meeresspiegel aufragt. Die vertikale Bergwand aus imposantem Kalkstein und Glatteis schießt 1.800 Meter weit in die Höhe. Sie ist die größte nach Norden ausgerichtete Felswand der Alpen, prägte die Klettergeschichte, inspirierte Thriller wie „The Eiger Sanction“ und kostete 64 Menschenleben. Nicht umsonst trägt sie ihren Spitznamen: die Mordwand.

Aber dieser ikonische Berg ist dabei, sich für immer zu verändern. Am 5. Dezember wird eine umstrittene Seilbahn eröffnet, die Besucher ganz ohne Klettern näher an die Nordwand bringt als je zuvor.

Unterhalb des Eigergipfels sind Wanderungen auf dem Aletschgletscher – dem größten Gletscher der Alpen – ein beliebtes Freizeitangebot, das auch Anfängern ein alpines Erlebnis bietet.

Foto von Sinan Cakmak, Anzenberger, Redux

Ein Bauzugang, der für die historische Jungfraubahn gebaut wurde, befindet sich auf einem Drittel der Strecke zum Eigergipfel. An besonderen Tagen hält der Zug an, um unerschrockenen, mit Seilen gesicherten Passagieren den Ausstieg auf einen Felsvorsprung an der Nordwand auf der berühmten Heckmair-Route zu ermöglichen.

Foto von Sinan Cakmak, Anzenberger, Redux

Das wird die jahrhundertealte Beziehung zwischen Bergsteigern und Berg verändern – aber eine zweite, viel besorgniserregendere Bedrohung spiegelt sich ebenfalls schonungslos an der Eigernordwand wider: die Klimaerwärmung. Die schrumpfende Schneedecke und die beispiellose Eisschmelze bedeuten, dass die Kletterrouten der Nordwand nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Hinzu kommt die Gefahr von Lawinen, bröckelndem Gestein und explosiven Felsstürzen.

Obwohl Reisen in die Schweiz aufgrund von COVID-19 für viele Menschen weiterhin keine Option sind, übt der Eiger nach wie vor eine Anziehungskraft wie kein anderer Berg in Europa aus. Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie in diesem Sommer hatte das Eigerdorf Grindelwald sage und schreibe 68.000 Übernachtungsgäste. Mit der Eröffnung der neuen Seilbahn, die täglich 18.000 Personen befördern kann, werden diese Zahlen wohl noch weiter steigen.

Abfahrt mit dem Eiger-Express

In jeder Hinsicht ist das 430 Millionen Euro teure V-Bahnsystem ein Projekt, das eine neue Ära definiert. Es gibt nur wenige andere Orte, an denen der Übergang vom Vorgebirge zu den scharfkantigen Bergen so dramatisch ist wie in den Berner Alpen. Das Projekt wurde als wirtschaftlicher Motor konzipiert, um das Interesse an einem der wichtigsten alpinen Reiseziele der Schweiz neu zu wecken.

BELIEBT

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    In den letzten Jahren stand die Region um den Berg Jungfrau – bestehend aus den Orten Grindelwald, Wengen, Lauterbrunnen und dem verkehrsfreien Mürren – im Schatten angesagterer Wintersportorte wie St. Moritz, Verbier und Zermatt, der Heimat des Matterhorns. Das soll sich nun ändern.

    Der Hauptanziehungspunkt ist der auffällige Eiger-Express. Die schwerste je gebaute 3S-Bahn, die seit Dezember 2012 in Planung ist, soll die Besucher über 6,5 Kilometer überwältigende Alpenwiesen von Grindelwald bis zur auf 2.328 Metern gelegenen Eigergletscher-Station bringen. Diese Fahrt war einst nur mit der langsamen Jungfraubahn möglich, einer historischen Schmalspurbahn, die 1898 eröffnet wurde.

    Die neue Bahn ist fast 50 Minuten schneller als bisher und wird in 15 Minuten mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks an der Landschaft vorbeiziehen. Tagesausflüge von Zürich, Basel und Genf aus sind damit nun bequem zu schaffen.

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    „Der Reiseverkehr entwickelt sich weiter, und das wird den Zeitplan für die Besucher modernisieren“, sagt Kathrin Naegeli, die Sprecherin des Projektentwicklers Jungfraubahnen. „Die Touristen wünschen sich einen schnelleren Zugang zu den Bergen – um in kürzerer Zeit mehr zu sehen. Die Seilbahn wird dazu beitragen, dem Tourismus in der Region langfristig eine erfolgreiche Zukunft zu sichern. Sie ist schneller, schlanker und auch komfortabler.“

    Neben der allmächtigen Anziehungskraft des Eigers ist der andere Anziehungspunkt für Besucher das Jungfraujoch, der höchstgelegene Bahnhof Europas. Er befindet sich in fast schon märchenhafter Lage zwischen den Gipfeln Jungfrau und Mönch, die jedes Jahr mehr als eine Million Tagestouristen anlocken. Fantastische Gletscher und gewaltige Schneeausläufer rücken dank ihm in greifbare Nähe für Reisende aller Altersklassen und Erfahrungsstufen.

    Das neue Terminal des Eigers-Expresses in Grindelwald bietet Geschäfte, Bars und ein Skidepot.

    Foto von Jungfrau Railways

    Um das Besuchererlebnis weiter zu optimieren, wird der Eiger-Express als Abkürzung direkt vom Bahnhof Eigergletscher zum letzten Abschnitt der Jungfraubahn führen. Was dann folgt, ist eine bemerkenswerte Zugfahrt, die sich tief in die zerfurchte Außenseite der Nordwand gräbt, während die historische Bahn die Besucher gen Himmel zum Jungfraujoch trägt. Höchste, kälteste, steilste, extremste: Es ist eine Reise der Superlative.

    Bergsteigen auf dem Eiger bald undenkbar?

    Aber der Weg bis dahin war nicht unumstritten. Die gespenstische Bergwelt des Eigers zu erleben, erinnert daran, wie fragil das Bündnis zwischen Mensch und Gebirge tatsächlich ist. Ein Drittel der Einwohner von Grindelwald hatte sich gegen das Bauprojekt ausgesprochen. Auch Umweltschützer haben versucht, das Projekt in seiner jetzigen Form zu verhindern.

    „Die Geschichte des Eigers entwickelt sich wohl oder übel weiter“, sagt der 47-jährige Schweizer Stephan Siegrist. Er selbst hat den ehrwürdigen Kalkstein des Berges 42 Mal bestiegen, darunter bei drei bahnbrechenden Erstbesteigungen. „Das könnte das Gebiet in einen Themenpark verwandeln und der Umwelt unermesslichen Schaden zufügen. Ist es wirklich notwendig, noch mehr Menschen auf den Eiger und das Jungfraujoch zu bringen? Das glaube ich nicht.“

    Auch für den Schweizer Alpinisten Roger Schäli, 41, der den Eiger bereits 53 Mal bestiegen hat, ist das ein umstrittener Punkt. „Diese Seilbahn hat nur ein Ziel: Massentourismus und Menschen aus aller Welt anzulocken“, sagt er. „Aber das ist vielleicht langfristig nicht die beste Lösung für den Eiger.“

    Bahnbrechende Besteigungen wie die von Siegrist und Schäli gehören seit Langem zum Eiger, obwohl sie für die meisten Reisenden unerreichbar sind. Was aber alle eint, ist die Sorge darum, dass die Klimakrise die Topographie des Berges irreversibel beeinträchtigt.

    Bei einer bemerkenswerten Besteigung der Nordwand schafften es 1959 die Schweizer Bergsteiger Adolf Derungs und Lukas Albrecht nur mit dünnen Hemden und Jacken sowie einer Grundausrüstung an die Spitze. Drei Jahre später kam Derungs bei der Solobesteigung der gleichen Wand ums Leben.

    Foto von ullstein bild/Getty Images

    In den letzten Jahren berichteten Glaziologen von jährlichen Schmelzverlusten von bis zu zwei Prozent der gesamten Gletschermasse der Schweiz. Ebenso schnell ziehen sich die Eisschürzen des Eigers zurück.

    „Der Eiger war schon immer ein gefährlicher Berg, aber er wird nun immer mehr dazu“, sagt der Glaziologe Matthias Huss, der Direktor des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS. „Die Schürzen der Nordwand aus steilen Schnee- und Eismassen reagieren sehr empfindlich auf wärmere Temperaturen, und sie verschwinden schnell. Wenn die Nordwand schneefrei wird, dann ist sie anfälliger für Felsstürze, was den Berg viel unberechenbarer macht.“

    Der Eiger (links) mit 3.967 Metern ü. M. und der Mönch mit 4.107 Metern sind zwei der imposantesten Gipfel der Berner Alpen.

    Foto von Christian Heeb, Laif, Redux

    Das wirft die Frage auf: Sind die abenteuerlustigen Tage des Bergsteigens auf dem Eiger vorbei? Für Schäli kommt es wegen der Klimakrise heute ohnehin schon nicht mehr infrage, im Sommer zu klettern. Und Huss glaubt, dass das Eisklettern der Geschichte angehören könnte. „Problematisch ist der Permafrost, der die Felsstücke des Eigers wie Leim zusammenhält“, sagt er. „Wenn der verschwindet, schießen die Gefahren und Risiken in die Höhe.“

    Ungeachtet der Gefahren und inmitten der Pandemie herrscht in Grindelwald ein Gefühl der Vorfreude. Für Rucksacktouristen bleiben die Berge eine Wanderutopie, während der Eiger für Bergsteiger immer noch ein Ort ist, an dem sie auf den Routen der Pioniere des Alpinismus an ihre Grenzen stoßen und ihr Können verfeinern können. Die körnigen Fotografien von Draufgängern, die über verschneite Abhänge stapfen und über stillen Abgründen baumeln, bieten im Grindelwald Museum ein Fenster in die Historie des Berges und seiner Besucher.

    Aber so, wie sich der Eiger entscheidend verändert, tut es auch die Welt um uns herum. Im Zeitalter von COVID-19 scheint die Anziehungskraft der Berge daher so stark wie nie. Sie bieten Reisenden jeder Couleur die Chance auf Eskapismus und Erkenntnis, beflügeln die Fantasie und haben sich als Sinnbild der unendlichen Freiheit tief in unser kulturelles Gedächtnis gebrannt.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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