Überlebenswichtig: Viele wilde Tiere können „zählen“

Von Insekten über Amphibien und Vögel bis zu Säugern haben etliche Tiere ein grundlegendes Verständnis für Zahlen und Mengenverhältnisse.

Von Virginia Morell
Veröffentlicht am 31. März 2020, 15:34 MESZ
Im Pelican Valley im Yellowstone-Nationalpark untersucht ein Wolfsrudel die Spuren eines Grizzlybären.
Im Pelican Valley im Yellowstone-Nationalpark untersucht ein Wolfsrudel die Spuren eines Grizzlybären.
Foto von Ronan Donovan, Nat Geo Image Collection

Man stelle sich einmal vor, man wäre ein kleines Säugetier, beispielsweise ein Erdhörnchen. Dauernd würde man Gefahr laufen, als Mahlzeit eines größeren Tieres zu enden. Dann entdeckt man eine geräumige Höhle in der Ferne – aber gerade laufen zwei große Bären hinein. Ein paar Minuten später kommt einer wieder heraus. Ist die Höhle nun ein sicheres Versteck? Mit solchen mathematischen Problemen müssen sich viele Tiere tagtäglich befassen.

Die Fähigkeit, Konzepte wie Menge oder Anzahl zu begreifen, kann bei einer ganzen Reihe von Problemen hilfreich sein. So lassen sich nicht nur Fressfeinde vermeiden, sondern auch Partner, Nahrung und Wege finden.

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In einer der bislang umfangreichsten Analysen hat ein Wissenschaftler alle verfügbaren Forschungsarbeiten zu diesem Thema zusammengetragen und herausgefunden, dass zahlreiche Tiere – von Bienen über Vögel bis zu Wölfen – die Fähigkeit besitzen, Zahlen zu verarbeiten und abzubilden. Mit anderen Worten: Sie können zählen.

Die neue Studie deutet auch darauf hin, dass ihre mathematischen Fähigkeiten den Tieren beim Überleben helfen. Die Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis tierischer Kognition – ein Forschungsfeld, das in den letzten Jahren exponentiell gewachsen ist.

BELIEBT

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    „Früher dachte man, dass die Fähigkeit zum Zählen eine rein menschliche sei – vermutlich, weil sie gern mit Kenntnissen der höheren Mathematik und großer Intelligenz assoziiert wird“, sagt Lars Chittka. Der Verhaltensökologe an der Queen Mary University of London war an der Forschung nicht beteiligt.

    Die Studie, die in „Trends in Ecology and Evolution“ erschien, „zeigt, dass grundlegende numerische Fähigkeiten im Tierreich weit verbreitet sind und im Überlebenskampf von Vorteil sein können.“

    Zahlenkönner

    Für seine Studie untersuchte der Neurobiologe Andreas Nieder von der Universität Tübingen aktuelle Literatur, die sich damit befasst, wie verschiedene Tierarten Zahlen erfassen und begreifen.

    Nachdem er fast 150 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema geprüft hatte, schlussfolgerte er, dass „numerische Kompetenz in fast jedem Ast des tierischen Stammbaums vorhanden ist.“

    Honigbienen zählen die Orientierungspunkte zwischen ihrem Bienenstock und einer Nahrungsquelle, um ihren Rückweg zu finden.
    Foto von Joe Petersburger, Nat Geo Image Collection

    Weniger überraschend ist, dass laut seiner Auswertung viele Arten bei der Nahrungssuche auf Zahlen setzen.

    In Laborversuchen wandten Chinesische Rotbauchunken das sogenannte approximate number system (ANS; dt.: System ungefährer Zahlen) an, um sich zwischen verschiedenen Haufen mit Nahrung zu entscheiden. Für die Unken war ein Haufen mit drei essbaren Objekten eine ebenso gute Wahl wie ein Haufen mit vier. Wenn die Diskrepanz jedoch größer war, die Unken sich also beispielsweise zwischen drei oder sechs bzw. vier oder acht Objekten entscheiden mussten, wählten sie immer den Haufen mit der größeren Zahl an Objekten.

    Honigbienen erinnern sich an die Zahl der Orientierungspunkte zwischen ihrem Bienenstock und einer Blumenwiese. Das hilft ihnen dabei, ihren Weg zurück nach Hause zu finden. Und die Wüstenameise Cataglyphis fortis zählt, wie viele Schritte sie sich auf der Nahrungssuche von ihrem Bau entfernt.

    Voyageurs-Wölfe in den USA suchen sich ungewöhnliche Beute
    Zum ersten Mal haben Forscher beobachtet, wie Wölfe Jagd auf Süßwasserfische machen.

    Andere Arten wie zum Beispiel Wölfe müssen wissen, wie viele Mitglieder ihr Rudel hat, um bestimmte Beutetiere zu jagen. Für die Jagd auf Elche und Wapitis sind 6 bis 8 Wölfe nötig, während es für eine Bisonjagd 9 bis 13 sind.

    Aber auch die Beutetiere nutzen Zahlen zu ihrem Vorteil: Wapitis teilen sich in kleinere Herden auf, um eine Begegnung mit Wölfen zu vermeiden. Alternativ finden sie sich in großen Herden zusammen, damit für jedes Individuum die Wahrscheinlichkeit sinkt, einem Wolfsangriff zum Opfer zu fallen.

    Kampf oder Flucht

    Viele Tiere müssen die Stärke und relative Zahl der Gegner abschätzen, bevor sie sich auf einen Kampf um einen Partner oder Territorium einlassen.

    Ein Beispiel dafür sind Löwenrudel in Afrika. Die Weibchen hören sich das Brüllen fremder Rudel in der Nähe genau an, bevor sie beschließen, ob sie angreifen oder nicht. In einem berühmten Experiment, das im Serengeti-Nationalpark in Tansania durchgeführt wurde, hörte ein Rudel Aufnahmen vom Brüllen einer einzelnen, unbekannten Löwin in ihrem Territorium. Das Rudel ging sofort zum Angriff über.

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    Wurden aber Aufzeichnungen von drei oder mehr fremden Löwen abgespielt, zögerte das Rudel. Das Verhältnis von ausgewachsenen Rudelmitgliedern zu der Zahl von Eindringlingen war die beste Möglichkeit, um vorherzusagen, wie sich das Rudelverhalten wird.

    „Es ist offensichtlich, dass sie die Zahl der Individuen in ihrer Gruppe in vielen täglichen Situationen abschätzen“, sagt Nieder. „Die Fähigkeit, zwischen Zahlen zu unterscheiden, muss also einen großen Vorteil für ihr Überleben und ihre Fortpflanzung darstellen.“

    Faszinierend – aber rätselhaft

    Karl Berg ist ein Ornithologe an der University of Texas Rio Grande Valley in Brownsville. Auch er kann bestätigen, dass viele Tiere „auf komplexe Weise große Mengen messen oder abschätzen“.

    In Venezuela hat er beispielsweise beobachtet, dass junge weibliche Grünbürzel-Sperlingspapageien das Gebiet verlassen, in dem sie geschlüpft sind, während die Männchen dortbleiben. Ein paar Jahre später geschieht das Gegenteil.

    Trainierte Krähen sammeln Müll
    Diese Vögel machen einen Job. Die sechs Saatkrähen sammeln Müll in einem Vergnügungspark im französischen Les Epesses auf.

    „Ihre Entscheidung darüber, ob sie bleiben oder gehen, hängt von der Menge der verfügbaren Nahrung und dem Geschlechterverhältnis ab“, sagt Berg – also davon, wie viele Männchen es im Vergleich zu Weibchen gibt. „Es ist absolut faszinierend, dass sie so etwas abschätzen können. Wir wissen nicht, wie sie das tun.“

    „Bei all diesen Studien ist es vor allem wichtig, herauszufinden, wie sich die numerische Kompetenz auf die Fitness auswirkt – also auf den Fortpflanzungserfolg eines Tieres im Laufe seines Lebens“, betont er.

    In seiner Arbeit ruft Nieder dazu auf, mehr solcher Studien durchzuführen. Die Umsetzung ist jedoch schwierig und zeitaufwendig, sagt Berg. „Wenn man wirklich brauchbare Ergebnisse haben will, kann man die nur in der Wildnis durchführen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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