Mysteriöse Nachtkatze ist der 10.000. Passagier auf der Photo Ark

Kaum jemand kennt Amerikas kleine Wildkatze: die Chilenische Waldkatze. Joel Sartore liefert nun einzigartige Fotos der Art – und die vermutlich ersten Tonaufnahmen der Welt.

Von Christine Dell'Amore
Veröffentlicht am 15. Mai 2020, 15:11 MESZ

Pikumche, ein Männchen der Art Leopardus guigna guigna, wurde als verwaistes Kitten von Menschen aufgezogen. Fotograf Joel Sartore erzählt, die Katze hätte sich während des Photoshoots ganz brav verhalten und sich sogar an seine Beine geschmiegt. 

Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

In den lichten Regenwäldern von Chile und einem schmalen Streifen Argentiniens schleicht eine kleine Katze mit vielen Namen durch die Schatten der grünen Farne: Kodkot, Güiña oder Nachtkatze wird sie genannt. Aber der offizielle Name von Leopardus guigna lautet Chilenische Waldkatze.

Sie ist nur halb so groß wie eine Hauskatze, hat einen dicken Flaschenbürstenschwanz und ein fast schon cartoonhaftes Gesicht mit dicken schwarzen Streifen unter den Augen. Und sie ist die kleinste Wildkatze Amerikas. Die nur zwei bis drei Kilogramm schweren Tiere sind enorm scheu und kaum erforscht. Die meisten Menschen haben vermutlich noch nie von ihnen gehört.

Bis jetzt zumindest.

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Eine Chilenische Waldkatze namens Pikumche ist das 10.000. Tier auf der National Geographic Photo Ark – ein Projekt des Fotografen Joel Sartore, der jede einzelne Tierart in menschlicher Obhut ablichten will.

Wie fast alle der 33 kleinsten Wildkatzenarten der Welt ist auch die Chilenische Waldkatze mit ihrem gefleckten Fell, dessen Farbtöne von Silber bis Rostbraun reichen, „eine äußerst mysteriöse Katze. Sie lebt in den Schatten“, sagt Sartore.

Für seine Foto-Arche hat Sartore bereits zahlreiche Tiere – von Muscheln und Käfern bis zu Robben und Elefanten – in mehr als 50 Ländern digital verewigt. Und er wird nicht aufhören, bis er jede einzelne der 15.000 Tierarten in den Zoos, Reservaten und Wildtierparks der Welt fotografiert hat.

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    „10.000 ist eine große Zahl. Sie ist für uns ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Wir haben 10 bis 15 Jahre für dieses Projekt angesetzt“, sagt Sartore. Er hofft, dass seine Fotos die Menschen dazu bewegen können, dem Artensterben mehr Aufmerksamkeit zu schenken, bevor es zu spät. „Ich habe schon den Eindruck, dass die Leute jetzt aufhorchen.“

    Wie viele Passagiere der Photo Ark gilt die Chilenische Waldkatze, von der es zwei Unterarten gibt, als gefährdet. Größtenteils liegt das am Zerfall ihres Verbreitungsgebietes, das mit einer Fläche von 300.000 Quadratkilometern das kleinste aller lateinamerikanischen Katzenarten ist. Die südliche Unterart Leopardus guigna tigrillo lebt in den dichten, bemoosten Wäldern Südchiles. Sie ist kleiner und hat leuchtendere Fellfarben als Leopardus guigna guigna, die im Matorral-Buschland in Zentralchile lebt.

    Für sein bahnbrechendes Foto reiste Sartore an den wahrscheinlich einzigen Ort der Welt, in dem Chilenische Waldkatzen in menschlicher Obhut leben: Fauna Andina, ein lizenziertes Wildtierreservat und Rehabilitationszentrum in Chile. Hier kümmert sich der Gründer der Einrichtung, Fernando Vidal Mugica, um verletzte Chilenische Waldkatzen. Manchmal kann er sie danach wieder im Wald auswildern.

    Sartores Motiv Pikumche, ein Männchen der nördlichen Unterart Leopardus guigna guigna, ist ein Sonderfall. Seine Mutter wurde von einem Raubtier getötet, als er gerade zehn Tage alt war. Im Zentrum wurde er dann von Hand mit der Flasche aufgezogen. Mittlerweile ist er zweieinhalb Jahre alt und so sehr an Menschen gewöhnt, dass er nicht in die Wildnis zurückkehren kann. Nach seinem schwierigen Start ins Leben ist er nun „eine sehr selbstbewusste Katze“, schreibt Vidal Mugica in einer Textnachricht. Seinen Namen erhielt er zu Ehren der Pikumche, einer präkolumbianischen Kultur auf dem Gebiet des heutigen Nordchiles, erklärt er.

    Sartore filmte außerdem ein Video von Pikumches Lautäußerungen – und liefert damit vermutlich die weltweit erste Tonaufnahme einer Chilenischen Waldkatze. Die tiefen, sich wiederholenden Laute sind laut Vidal Mugicas Beobachtungen vermutlich Ausdruck von Zufriedenheit oder Aufregung. Mit dem Miau kündigt Pikumche seinen Auftritt den anderen sieben Chilenischen Waldkatzen von Fauna Andina an.

    „Diese Katze ist für ihre Art sowas wie der Stein von Rosette“, sagt Sartore über Pikumche. Dessen Lautäußerungen sind ein wertvoller Beitrag für das sehr begrenzte Wissen um diese Art. Ihre Bestandszahl, grundlegende biologische Eigenarten wie Paarung und Fortpflanzung – all das bleibt vorerst ein Mysterium.

    Geschickte Jäger

    Chilenische Waldkatzen gehören zu den acht Arten kleiner lateinamerikanischer Wildkatzen. Sie sind am nächsten mit den Ozelots verwandt, einer besser bekannten Art mit einem deutlich größeren Verbreitungsgebiet, zu dem auch Teile der südlichen USA gehören.

    Sie fressen so ziemlich alles, was sie erbeuten können – von Beuteltieren über Insekten und Frösche bis hin zu Vögeln. Besonders haben sie es aber auf Nagetiere abgesehen, die es im dichten Unterholz in großer Zahl gibt. Als gewandte Kletterer erklimmen die Katzen auch problemlos Bäume, um Spechte und Hörnchen aus ihren Baumhöhlen zu zerren.

    Chilenische Waldkatzen reißen allerdings auch Geflügel, wenn sie die Chance bekommen. Durch ihre Übergriffe auf Hühnerställe ziehen sie den Zorn der Bauern auf sich, die die Katzen mitunter töten, sagte James Sanderson, der 1997 seine Doktorarbeit über L. guigna schrieb.

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    Damals war die Art der modernen Wissenschaft „praktisch unbekannt“, sagt Sanderson. Er arbeitet mittlerweile als Programmmanager der Global Wildlife Conservation, einer gemeinnützigen Tierschutzorganisation mit Sitz in Texas. „Wir hatten ein einzelnes Foto einer Katze und Museumsexemplare von 1919 – das war die Gesamtheit unseres Wissens“, sagt er.

    Während seiner Forschung auf Chiloe, einer Insel vor der chilenischen Küste, entdeckte Sanderson, dass sich die Katzen sehr leicht aus den Hühnerställen aussperren ließen: Man musste einfach nur die Löcher verschließen. Das sei ein gutes Beispiel dafür, wie eine enge Zusammenarbeit mit den Einheimischen zum Schutz einer bedrohten Art beitragen kann, sagt er.

    Die Bauern sollten sich über die Chilenischen Waldkatzen eigentlich freuen, die für Menschen „absolut harmlos“ sind, sagt Luke Hunter, der leitende Direktor des Großkatzenprogramms der Wildlife Conservation Society. Eine einzige dieser Katzen kann wahrscheinlich mehrere tausend Nagetiere pro Jahr erbeuten, die sich über Vorräte und Feldpflanzen hermachen. „Sie bieten jedem, der Probleme mit Nagetieren hat, einen Vorteil, der bisher nur nie dokumentiert wurde“, sagt er.

    Schrumpfender Lebensraum

    Heutzutage kommt es seltener vor, dass die Waldkatzen aus Rache getötet werden. Trotzdem sterben sie immer noch durch Angriffe von freilaufenden Hunden, Rattengift und Zusammenstöße mit Autos.

    Die größte Bedrohung ist laut Sanderson aber mit Abstand der Verlust von Lebensraum und die Entwaldung, insbesondere in Zentralchile.

    Vielerorts wird Wald gerodet, um Platz für kommerzielle Baumkulturen, Weinbau und Weideflächen zu schaffen. Die scheuen Katzen, die keine freien Flächen überqueren, um in andere naheliegende Waldgebiete zu gelangen, werden deshalb zunehmend voneinander isoliert.

    „Sie brauchen ihren heimischen Wald, um zu überleben“, sagt Vidal Mugica. „Sein Schutz ist deshalb das Hauptziel.“

    Chilenische Waldkatze: Der 10.000 Passagier auf der National Geographic Photo Ark
    Eine Chilenische Waldkatze (Leopardus guigna), auch Kodkod genannt, in Fauna Andina, Chile. Diese kleine und kaum bekannte Katze ist die 10.000. Tierart auf der National Geographic Photo Arc. Wissenschaftler und Artenschützer glauben, dass es sich hierbei wahrscheinlich um die ersten je veröffentlichten Audioaufnahmen dieser Art handelt. Video mit Genehmigung von Joel Sartore, National Geographic Photo Ark.

    Zu diesem Zweck arbeitet die Ökologin und National Geographic Explorer Constanza Napolitano von der Universidad de Los Lagos in Osorno daran, den artenreichen Valdivian-Regenwald in Südchile für die Waldkatzen sicherer zu machen.

    Zusammen mit der Regierung entwirft sie Wildtierkorridore, damit die Tiere zwischen den Waldbereichen wechseln können. Außerdem steht sie mit lokalen Unternehmen in Kontakt, um katzenfreundliche Landnutzungsstrategien zu entwickeln. Darüber hinaus führt sie ökologische Bildungsprogramme für einheimische Kinder durch, damit sie mehr über diese seltene Katze in ihrem Land lernen können.

    „Ein kleines Sinnbild der Wildnis“

    Sowohl Hunter als auch Sanderson glauben, dass die Präsenz der Chilenischen Waldkatze auf der Photo Ark ein Gewinn für das Image der Tiere sein wird.

    Sanderson lobte Sartores Engagement bei der Ablichtung so vieler kleiner, seltener Wildkatzen – vom Pardelluchs bis zur Afrikanischen Goldkatze. „Er liebt seine Katzen“, sagt Sanderson. „Und er hat bis zur 10.000 gewartet, um die Chilenische Waldkatze an die Spitze zu setzen.“

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    „Es ist großartig, dass das Projekt diese kleinen Arten, die kaum gewürdigt werden, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hat“, findet auch Hunter.

    Allerdings sei es auch ironisch und traurig, dass so viele Menschen ihre Hauskatzen vergöttern, gleichzeitig aber kaum etwas über ihre wilden Verwandten auf allen Kontinenten außer der Antarktis wissen.

    „Wenn man das Glück hätte, diese wunderschönen Tiere in der Wildnis zu sehen, würden einem sofort die Parallelen zur eigenen Hauskatze auffallen“, sagt er. „Sie sind ein kleines Sinnbild der Wildnis.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

    Photo Ark


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