„Ratten der Lüfte“: Über die traurige Geschichte der Stadttaube

Lange Zeit lebten Mensch und Taube im Einklang. Heute löst das einstige Symbol für Reinheit bei vielen Menschen sogar Ekel aus. Woher rührt das negative Image der Stadttauben? Und wie kann den ehemaligen Haustieren geholfen werden?

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 15. Apr. 2024, 10:34 MESZ
Nahaufnahme zweier Stadttauben die auf einer ausgestreckten Hand sitzen

Strahlend orangefarbene Augen, ein grün bis lila schimmernder Hals und individuell gemusterte Flügel: Wären Stadttauben exotische Papageien, hätten sie aufgrund ihres bunten Erscheinungsbildes vermutlich viele Fans.

Foto von Maslov Dmitry / Adobe Stock

Die Taube gilt als erster Vogel, den die Menschen einst domestizierten. Dennoch sind die Vorurteile gegen Tauben heute so vielfältig wie ihre bunt schimmernden Gefiedermuster: Für viele sind sie lästig, schmutzig, Krankheitsüberträger oder gar Plage. Füttern oder aktive Hilfe beim Nestbau ist vielerorts verboten und wird mit einem Bußgeld geahndet.

Städte wie Limburg wollen sogar an Plänen festhalten, laut denen die Zahl der Tauben per Genickbruch von einem Fachmann dezimiert werden soll. Was grausam klingt, ist nur der traurige Höhepunkt – ein Sinnbild dafür, was mit Tieren passiert, die plötzlich keinen Nutzen mehr haben. Ein Blick in die Vergangenheit der einstigen Symbiose zwischen Mensch und Vogel.

Domestizierung: Wie die Taube zum Haustier wurde

Die Geschichte der heutigen Stadttauben begann vor vielen Tausenden Jahren mit ihren wilden Vorfahren, den Felsentauben (Columba livia). Diese lebten damals wie heute ihrem Namen entsprechend an den Klippen und Bergen Eurasiens und Nordafrikas, wo sie in Felsspalten optimale Nistgelegenheiten fanden.

Wann genau Menschen und Tauben sich erstmals annäherten und gegenseitig voneinander profitierten ist bis dato nicht geklärt. Die bislang frühesten Hinweise für die Domestizierung vom Wild- zum Haustier stammen aus der Zeit um 6.000 bis 5.000 v. Chr. aus Ägypten und Mesopotamien, dem heutigen Irak. Auch auf die Frage des „wie“ konnten Forschende bislang keine eindeutige Antwort finden. Wurden Tauben gezielt gejagt, eingefangen und schließlich gezähmt? Oder waren es die wilden Vögel, die einen Nutzen im Menschen erkannten und sich ihm quasi freiwillig näherten?

Fest steht: Im Laufe der Zeit entstand eine Art Symbiose. Dort, wo Menschen Ackerbau betrieben, lebten auch Tauben. Menschen hielten die Vögel aufgrund ihres Fleisches, düngten ihre Felder mit deren Kot oder nutzten ihr Heimfindevermögen zur Orientierung.

Bunte Vielfalt: Im Laufe der Zeit haben sich durch Züchtung zahlreiche Taubenrassen aus der Felsentaube entwickelt. Die typische Stadttaube stammt zum größten Teil von der Brieftaube ab.

Foto von Roman / Adobe Stock

Die Taube als Sinnbild für positive Eigenschaften

Mit dem zunehmenden Stellenwert der Taube wuchs auch ihre Bedeutung in Kultur, Kunst und Religion. So nutzten die Menschen der Antike den Vogel als Sinnbild für Sanftmut, Reinheit und Unschuld. Zudem glaubten sie, die Taubenvögel besäßen keine Galle und seien damit frei von allem Bitteren und Bösen. Bei den alten Griechen galten sie aufgrund ihres regen Paarungsverhaltens als Gefolgschaft der Liebesgöttin Aphrodite.

Germanische Stämme und Menschen im alten Indien sahen in der Taube hingegen einen Seelenvogel – die Verkörperung der menschlichen Seele, die ihre Hülle verlassen hat. In der Bibel verkündete eine Taube Noah das Ende der Sintflut. Der Vogel gilt bis heute sogar als Symbol für den Heiligen Geist. Über viele Jahrtausende hinweg wurden den Tauben also durchweg positive Eigenschaften zugeschrieben.

Tierische Helden: Brieftauben als Kommunikationsmittel im Krieg

Die Qualitäten der Tauben – ihre Intelligenz, Merkfähigkeit und Ortstreue – wussten die Menschen ebenfalls bereits vor Tausenden von Jahren für sich zu nutzen. Als Boten der Lüfte brachten sie in Notsituationen Nachrichten schneller ans Ziel, als es für Menschen zu Fuß oder auf dem Ross je möglich gewesen wäre. Später, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, konnten mithilfe von Brieftauben beispielsweise Lücken im Telegrafennetz geschlossen werden, die andernfalls deutlich langsamer per Zug oder Postkutsche überbrückt hätten werden müssen.

Selbst im 20. Jahrhundert, während des Ersten und auch während des Zweiten Weltkriegs, war die tierische Flugpost mittels Tauben als nachhaltiger Brieftransport von großem Nutzen. Nicht nur, wenn sämtliche andere Kommunikationsmöglichkeiten erschöpft waren, sondern auch zur Luftaufklärung – ausgestattet mit kleinen Kameras. So wurden allein im Ersten Weltkrieg mehr als 100.000 Tauben von der Front oder von Schiffen aus entsandt. Nebenbei waren die Tiere aber vor allem für Soldaten von hohem emotionalen Wert, weil sie als Brieftauben den Kontakt zur Familie ermöglichten.

BELIEBT

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    Diese Brieftaube wurde vermutlich während des Ersten Weltkrieges zur Luftaufklärung mit einer selbstauslösenden Kamera bestückt.

    Foto von Bundesarchiv, Bild 183-R01996 / CC-BY-SA 3.0
    Rechts: Unten:

    Eine Brieftaube wird in der Nähe von Albert, Frankreich, aus einem britischen Panzer heraus in die Heimat geschickt.

    Foto von Nationaal Archief, the Dutch National Archives

    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wich der militärische Einsatz von Tauben schließlich endgültig den fortschrittlichen technischen Kommunikationsmitteln. Seitdem gilt die Taubenzucht hierzulande lediglich als sehr beliebtes Hobby.

    Plötzlich Stadttaube: Millionenfach verwahrloste Haustiere

    So gingen aus der einstigen Felsentaube mittels gezielter Zucht durch den Menschen über 800 Taubenrassen hervor, deutschlandweit sind etwa 350 bekannt. Zum Vergleich: Weltweit gibt es derzeit circa 350 Hunderassen. Das macht die Taube zur Haustierart mit der größten Rassenvielfalt überhaupt. Ein globaler Erfolg, der seit rund 100 Jahren – mit dem Wegfall des Nutzen für den Menschen – seine wahre Tragik offenbart. Heutzutage leben schätzungsweise bis zu 500 Millionen Tauben auf den Straßen der Welt, deutschlandweit zwischen 380.000 und 620.000.

    Zahlen, die nichts Gutes verheißen. „Den Tauben geht es ganz, ganz schlecht“, sagt Gudrun Stürmer, Gründerin des Stadttaubenprojekt Frankfurt e.V. Vor über 40 Jahren veränderte eine verletzte Stadttaube vor dem Frankfurter Hauptbahnhof ihr Leben für immer – machte sie quasi von jetzt auf gleich zur Tierschützerin. Zwar erlernte der gerettete Tauber namens Peter nie wieder das Fliegen – aber er lehrte dem Ehepaar Stürmer die Liebe zu den missverstandenen Tieren.

    Alltägliches Leid, Vorurteile und Tierquälerei: „Die Taube ist, was sie isst.“

    Dass die Stadttauben an falschen Vorurteilen leiden, wurde Gudrun Stürmer schnell klar. So etwa die weit verbreitete, wissenschaftlich widerlegte Angst, Tauben wären Krankheitsüberträger. Diese gründet vermutlich in der Tatsache, dass Straßentauben nicht selten eher ungepflegt oder gar dreckig daherkommen. „Wenn sie auf den Straßen leben und sich von Essensresten, Putzwasser oder schlimmstenfalls Erbrochenem ernähren müssen, dann fördert das natürlich nicht die Gesundheit. Beim Menschen sagt man, der Mensch ist, was er isst. Das gilt auch für die Taube“, sagt Stürmer. Bei erkrankten Tauben sind die auslösenden Erreger in den meisten Fällen aber wirtsspezifisch – also meist nur bei Tauben zu finden und ungefährlich für Menschen.

    Wenn Gudrun Stürmer und ihre ehrenamtlichen Kolleg*innen gerufen werden, um einer verletzten Taube zu helfen, können sie die Sorgenkinder grob in drei Kategorien einteilen. Erstens leiden die meisten Tiere an massiver Unterernährung. Anstatt 300 Gramm, wie für gesunde Tauben üblich, wiegen viele unter 200 Gramm. Des Weiteren kommt es laut Stürmer zu zahlreichen Unfällen, etwa im Zusammenhang mit Fahrradfahrer*innen oder Autos. „In vielen Fällen werden sie nicht wahrgenommen, oder die Menschen denken, das Tier fliegt rechtzeitig weg.“ Tatsächlich aber sehen Tauben in einer anderen Perspektive und realisieren die Gefahr meist nicht. Ähnlich häufig komme es zu Verletzungen durch Glasscheiben oder sogenannte Spikes, die das Nisten von Tauben an Gebäuden verhindern sollen.

    Viele Stadttauben leiden unter abgeschnürten Zehen oder verstümmelten Füßen. Neben reißfesten Kunststoffschnüren ist die häufigste Ursache hierfür menschliches Haar.

    Foto von Tomas Bazant / Adobe Stock

    Drittens käme es auch zu mutwilliger Tierquälerei. „In die Tiere wird viel Aggression hineinprojiziert“, sagt Stürmer. „Wir hatten Tiere, auf denen Zigaretten ausgedrückt wurden.“ Weiter erzählt sie von einem Fall, bei dem die Tiere zunächst mit Futter zutraulich gemacht wurden, nur um sie schließlich zu misshandeln. „Die Perversion hat keine Grenzen, das gibt es ja auch bei anderen Tieren. Nur bei Hund oder Katze sind die Massen empört. Bei Tauben kommt ein leichtfertiges ‚hach, es gibt ja genug‘.“

    Augsburger Modell: „Das Ziel sollte ein kleiner, gesunder Taubenbestand sein.“

    In den vielen Jahren ihres Ehrenamtes hat Stürmer gemäß ihrem Vorbild, dem Augsburger Modell, Tausende Frankfurter Stadttauben mittels Taubenschlägen ‚von der Straße geholt‘. Den Tauben werden geschützte Unterschlüpfe zur Verfügung gestellt, die sie meist innerhalb kürzester Zeit dankend annehmen. Pro Schlag finden bis zu 250 Tiere ein Zuhause für immer, inklusive Wasser, Futter und Ruhe. Gelegte Eier werden regelmäßig entnommen, aus Tierschutzgründen: „Im Interesse der Stadttaube, deren Küken ein ungewisses, gefährliches Leben erwartet, sollte man es den Tieren ersparen“, sagt Stürmer.

    Aktuell betreut Stürmers Verein drei Schläge – für eine Stadt wie Frankfurt bei weitem nicht ausreichend. Dafür müsste die Zahl der Unterbringungen mit der Taubenpopulation im Verhältnis stehen. Stürmer verweist etwa auf München, das mit 20 Taubenschlägen vergleichsweise deutlich besser aufgestellt ist. Um den Stadttauben deutschlandweit gerecht zu werden und die Populationen auf ein gesundes Maß zu reduzieren, sollte laut ihr bereits bei der Stadtplanung und bei Neubauten mit bedacht werden, wie Tauben – die zwangsläufig kommen werden – integriert werden können.

    Lebenshof für hunderte Tauben: Unermüdliches Engagement zahlt sich aus

    Tiere, denen das Leben in Frankfurts Innenstadt zu sehr zugesetzt hat, dürfen auf den vereinseigenen Lebenshof in Oberrad umziehen. Dieser bietet Platz für etwa 800 Vögel. „Wenn eine Behinderung vorliegt, entscheiden wir gemeinsam mit dem Tierarzt, ob das Tier sein restliches Leben auf dem Lebenshof verbringen sollte“, sagt Stürmer. Kranke Tauben, denen geholfen wird, verändern sich laut der Tierschützerin meist innerhalb kurzer Zeit deutlich zu „ganz anderen Tieren“. „Flugfähige Tiere haben die Freiheit zu gehen – oder zu bleiben.“ Viele, vor allem jüngere Tiere bevorzugen das Leben bei Stürmer auf dem Hof. 

    Sechs Tage die Woche verbringt die Tierschützerin hier, ein Angestellter in Vollzeit hält die Ställe und Volieren sauber, rund zehn Ehrenamtliche unterstützen regelmäßig bei der Arbeit. Dass die unermüdliche Hilfe Früchte trägt, bemerkt der Verein nicht zuletzt an der großen Spendenbereitschaft. Die Bevölkerung in Frankfurt habe ihre Sicht auf die Tiere verändert, sei nun eher ,Pro Taube‘ gestimmt, so Stürmer. Ihr über 40 Jahre andauerndes Engagement wurde 2023 vom Deutschen Tierschutzbund mit dem Deutschen Tierschutzpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

    Tonnenweise Taubenkot – als Dünger?

    Eine Entwicklung in eine tierfreundlichere Richtung also. Dennoch überwiegt für die große Mehrheit der Stadttauben weiterhin das alltägliche Leid. Immerhin: Plänen zur Eindämmung durch Tötung, wie zuletzt von der Stadt Limburg angestrebt, stehen Diskussionen, Petitionen und Demonstrationen gegenüber. Auch in den sozialen Medien erfahren die Tiere immer mehr Liebesbekundungen.

    Gudrun Stürmer wünscht sich vor allem mehr Akzeptanz: „Die Welt, die Straße, gehört nicht uns. Die Tauben versuchen nur zu überleben. Sie sind weder die großen Krankheitsüberträger, für die man sie lange gehalten hat, noch mutwillige oder gar böswillige Zerstörer von Häuserfassaden – für ihren Stoffwechselvorgang können sie nichts.“

    Rund 29 Tonnen Kot fallen jährlich allein in den Schlägen und auf dem Lebenshof des Stadttaubenprojekts Frankfurt an. Würde man diesen deutschlandweit von artgerecht ernährten Tieren sammeln und auf Krankheiten kontrollieren, könnte er in der Theorie als nährstoffreicher und begehrter Pflanzendünger Verwendung finden. „Dann würde die Taube als Nutztier möglicherweise mit anderen Augen gesehen werden“, sagt Stürmer. Letztendlich aber bleibt es beim Taubenschutz bei der grundsätzlichen Frage: Sollte der Nutzen für uns Menschen ausschlaggebend dafür sein, ob ein Tier des Lebens wert ist?

    Felsentaube
    • Name: Felsentaube
    • Wissenschaftlicher Name: Columba livia
    • Klasse: Vögel
    • Größe: Länge 31,75 Zentimeter
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