Mord im Amazonas: Der Sturm auf die Ressourcen beginnt

Menschenrechtsaktivisten und Umweltschützer versuchen, dem Ansturm illegaler Goldgräber und Holzfäller standzuhalten.

Von Scott Wallace
Veröffentlicht am 30. Sept. 2019, 16:48 MESZ
Offiziere der Special Inspections Group der brasilianischen Umweltschutzbehörde IBAMA zerlegen einen Bulldozer, der im Roosevelt Indigenous ...
Offiziere der Special Inspections Group der brasilianischen Umweltschutzbehörde IBAMA zerlegen einen Bulldozer, der im Roosevelt Indigenous Territory im Bundesstaat Rondônia bei illegalen Bergbauaktivitäten zum Einsatz kam. Der Präsident Jair Bolsonaro hat versprochen, den Bergbau auf dem Gebiet der indigenen Bevölkerung zu legalisieren. Umweltschützer und Ureinwohner fürchten, dass ein solcher Schritt verheerende Folgen für die Umwelt haben könnte.
Foto von Felipe Fittipaldi, National Geographic

In Brasilien wurde ein Aktivist ermordet, der für den Schutz der isolierten Stämme im äußersten Westen des Landes verantwortlich war. Der Vorfall ließ erneut Ängste um die Sicherheit der indigenen Stämme des Amazonas und ihrer Beschützer aufflammen.

Der Angestellte, Maxciel Pareira dos Santos, wurde am 6. September von einem Unbekannten erschossen, der auf der Hauptstraße der Grenzstadt Tabatinga auf einem Motorrad unterwegs war. Tabatinga liegt in der Nähe des Javari Valley Indigenous Territory. Das Schutzgebiet weist die weltweit höchste Dichte an bislang unkontaktierten, isolierten Stämmen auf.

Zwölf Jahre lang hatte Santos für die brasilianische Fundação Nacional do Índio (FUNAI) gearbeitet, jene staatliche Behörde, die mit den Anliegen der indigenen Bevölkerung Brasiliens betraut ist. Er war an einem strategischen Außenposten stationiert, an dem zwei Flüsse in das 85.500 Quadratkilometer große Reservat fließen, das schätzungsweise 5.000 Ureinwohner beheimatet. Dieser Außenposten und sein Personal sind alles, was zwischen Javaris Artenreichtum und einer regelrechten Flutwelle von Holzfällern und Wilderern steht.

Seit Anfang des Jahres gab es bereits fünf bewaffnete Angriffe von potenziellen Eindringlingen auf den Checkpunkt, zuletzt am 21. September. Nur wenige Tage nach dem vorletzten Angriff Mitte Juli erwischten FUNAI-Angestellte mit einer militärischen Eskorte mitten im Reservat Wilderer. Sie hatten bereits 300 gefährdete Schildkröte und 40.000 Schildkröten-Eier erbeutet.

Im gesamten brasilianischen Amazonas dringen alle möglichen Kriminellen – Wilderer, Goldsucher, Drogenschmuggler und Siedler auf der Suche nach neuem Land – in die Gebiete der Ureinwohner ein. Der Schutz dieser Bereiche, der von Experten auch als kritische Maßnahme gegen die Waldrodung angesehen wird, bröckelt zusehends. Laut Schätzungen des nationalen Raumforschungsinstituts in Brasilien tobten Ende August etwa 3.500 Waldbrände innerhalb der Grenzen von fast 150 indigenen Territorien. In mindestens 13 davon leben isolierte Stämme.

BELIEBT

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    Eine Gruppe Forest Guardians vom Stamm der Guajajara auf Patrouille im Arariboia Indigenous Territory im östlichen Bundesstaat Maranhão. Sie erhalten kaum Unterstützung vom Staat, kämpfen aber dennoch gegen die anhaltende Invasion krimineller Holzfäller an, um ihr Land und einige unkontaktierte Awá-Nomaden zu schützen.
    Foto von Charlie Hamilton James, National Geographic

    „All das bringt die isolierten Stämme zunehmend in Gefahr und zwingt sie dazu, fortwährend vor diesen Gruppen zu fliehen“, sagt Roque Paloschi, der Erzbischof von Porto Velho in Rondônia und Präsident des Indigenist Missionary Council. In dieser Woche berichtete die Vereinigung, dass Vorfälle dieser Art zugenommen haben: 2018 drangen Personen 111 Mal unbefugt in insgesamt 76 indigene Gebiete ein. Allein in den ersten acht Monaten 2019 stiegt diese Zahl bereits auf 160 Vorfälle in 153 indigenen Gebieten.

    „Welches Schicksal wird sie erwarten?“, fragte Antenor Vaz letzten Monat in einem Online-Post. Vaz hat sein Leben lang für FUNAI gearbeitet und ist nun als Berater für die Probleme der indigenen Stämme tätig.

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    Kritiker sehen den Präsidenten Jair Bolsonaro als einen ausschlaggebenden Faktor für die aktuelle Entwicklung. Seine abwertende Haltung zu Umweltbelangen und seine Verachtung für die Ureinwohner seines Landes würden Gesetzesbrecher zu immer kühneren Taten und zum Einsatz von Gewalt ermutigen. „Er autorisiert diesen Einsatz von Gewalt nicht“, sagt der indigene Aktivist Beto Marubo, der brasilianische Verbindungsmann für die Union of Indigenous Peoples of the Javari Valley. „Aber so, wie er redet, macht das im Grunde auch keinen Unterschied mehr.“

    Santos, der von den indigenen Bewohnern Javaris nur Maxi genannt wurde, galt als ein geschätzter Freund mit einer beispielhaften Arbeitsmoral, der selbst im Angesicht der Gefahr standhaft blieb, wie Marubo sagte. Seine Kollegen und indigene Anführer bezeichnen seine Ermordung als ein Attentat, das mit seinem Einsatz für den Schutz indigener Menschen und ihrer Ländereien in direktem Zusammenhang steht.

    Naturgemäß löste der Vorfall große Besorgnis aus. „Er hat eine Atmosphäre der Angst erzeugt“, sagte Marubo. „Angst davor, dass einem das gleiche passieren könnte, wenn man sich für die Rechte von Ureinwohnern, Menschenrechte oder die Umwelt einsetzt.“

    Brandschäden im Kerngebiet des Arariboia Indigenous Territory, in dem schätzungsweise 60 bis 80 Awá-Nomaden leben. Ihr Lebensraum wird von Holzfällern bedroht, die es auf das wertvolle Hartholz der Region abgesehen haben.
    Foto von Charlie Hamilton James, National Geographic

    Illegale Aktivitäten im Amazonas nehmen zu

    „Die Lage ist kritisch“, sagte Carlos Travassos, der ehemalige Leiter der FUNAI-Abteilung, die sich mit den unkontaktierten oder kürzlich kontaktieren Stämmen des Amazonas befasst. Derzeit berät er die Guajajara Forest Guardians, eine Gruppe einheimischer Freiwilliger, die gegen die illegale Abholzung in ihrer Heimat im Osten des Amazonas kämpft. Im Arariboia Indigenous Territory, das sich die Guajajara mit 60 bis 80 unkontaktierten Nomaden der Awá teilen, nahmen die illegalen Holzfällarbeiten in den letzten Monaten stark zu.

    Auffällig ist, dass die Holzdiebe in diesem Jahr sogar während der Regenzeit in Arariboia weiter Holz fällten, anstatt bis zur Trockenzeit zu warten. Bezeichnend ist zudem, dass die Forest Guardians laut Travasso mit ihrem Kampf gegen die Holzfäller, Todesdrohungen und Waldbrände völlig allein gelassen wurden. Sie erhielten keinerlei Unterstützung von den Behörden, die sich eigentlich um die Einhaltung der Gesetze kümmern müssten. „Es gibt überhaupt gar keine Kontrollen in diesem Gebiet, die eventuell zur Abschreckung beitragen können“, erzählte er.

    Noch alarmierender ist, dass die Holzfäller mittlerweile auch in das Kerngebiet des Reservats vordringen. Dort stehlen sie die wertvollen Hartholzbäume, die die Grundlage für das empfindliche Ökosystem bilden, in dem die Awá zu Hause sind. „Sie machen sich über das Holz in genau den Bereichen her, in dem die isolierten Awá-Guajá leben“, so Travassos.

    Derweil hat sich Präsident Bolsnoaro aufgrund des internationalen Protests ob seiner Gleichgültigkeit doch noch zum Eingreifen entschieden. Ende August beorderte er militärische Truppen und Polizeieinsatzkräfte in die Brandgebiete, um der Zerstörung Einhalt zu gebieten. Für die Umweltschützer boten die Einsatzkräfte lang ersehnten Schutz bei ihrem Kampf gegen die illegale Abholzung, Brandrodung und die Prospektion für den Bergbau in den Schutzgebieten.

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    Trotzdem wurden Mitarbeiter von Brasiliens Umweltschutzbehörde (IBAMA) samt ihrer Polizeieskorte am 30. August angegriffen. Der Vorfall ereignete sich in der Nähe des Ituna-Itatá Indigenous Territory im Bundesstaat Pará, als die Beamten versuchten, eine illegale Bergbauoperation aufzulösen. In dem Reservat ist vermutlich ein unkontaktierter Stamm heimisch. Bei der Auseinandersetzung gab es keine Todesopfer.

    Politiker auf Seiten Bolsonaros nutzten den Zwischenfall, um das IBAMA für die Zerstörung von Schwermaschinen vor Ort zu kritisieren. Sie drängten den Präsidenten dazu, sein Versprechen umzusetzen, Regierungsbeamten die Zerstörung von Equipment in Zukunft zu verbieten und den Bergbau auf indigenen Gebieten zu legalisieren.

    Offiziere der Special Inspections Group der brasilianischen Umweltschutzbehörde IBAMA zerlegen einen Bulldozer, der im Roosevelt Indigenous Territory im Bundesstaat Rondônia bei illegalen Bergbauaktivitäten zum Einsatz kam. Der Präsident Jair Bolsonaro hat versprochen, den Bergbau auf dem Gebiet der indigenen Bevölkerung zu legalisieren. Umweltschützer und Ureinwohner fürchten, dass ein solcher Schritt verheerende Folgen für die Umwelt haben könnte.
    Foto von Felipe Fittipaldi, National Geographic

    „Das ist wirklich bedauernswert. Es ist traurig. In was für einem Land leben wir?“, empörte sich der Kongressabgeordnete Hilton Aguiar aus dem Bundesstaat Pará, der sich für eine Aufhebung der Umweltschutzmaßnahmen zugunsten von Bergbau und Abholzung ausspricht. „Ich kann die Reden des Präsidenten der Republik nicht nachvollziehen. Erst will er [die Zerstörung von Equipment] untersagen, aber als nächstes ordnet er an, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen unseres Staates, unserer Region zu unterstützen.“

    Das Yanomami Indigenous Territory an der nördlichen Grenze zu Venezuela dürfte in ganz Brasilien das am stärksten von illegalen Eindringlingen betroffene Gebiet sein. Laut der Yanomami Hutukara Association sind dort 20.000 illegale Goldsucher am Werk. Das FUNAI schätzt ihre Zahl deutlich kleiner ein – auf 7.000. Als Armeetruppen Anfang September ein Bergarbeiterlager stürmten, fanden sie eine Siedlung mit 600 Landbesetzer, Häusern, Läden und sogar einem Prostitutionsring vor. Etwa 25.000 Yanomami leben in versprengten Siedlungen im gesamten Schutzgebiet. Da sie nur sporadischen Kontakt zur Außenwelt pflegen, können sie der Invasion nichts entgegensetzen.

    Schon 2016 hatte die Oswaldo Cruz Foundation, ein wissenschaftliches Forschungsinstitut, alarmierende Mengen Quecksilber in den Yanomami nachgewiesen, die in der Nähe der Bergbaulager leben. Das giftige Schwermetall wird genutzt, um Gold von den sandigen Flusssedimenten zu trennen. FUNAI-Beamte berichteten vor drei Jahren, dass eine der Dutzenden illegalen Goldschürfstellen in dem Gebiet nur ein paar Tagesmärsche von einer unkontaktierten Siedlung der Yanomami entfernt ist. Sie fürchten, dass die Dorfbewohner durch eine Krankheit oder eine gewaltsame Begegnung ausgelöscht werden könnten. Aufgrund beträchtlicher Budgetkürzungen und Personalmangel kann das FUNAI nicht angemessen auf den Goldrausch reagieren.

    Im westlichen Bundesstaat Rondônia berichten Mitglieder des Stammes der Uru-Eu-Wau-Wau, dass ihr Territorium von Fremden überrannt wird. Jahrzehntelang hatte der Stamm ein freundliches Verhältnis zu seinen nicht indigenen Nachbarn gepflegt. Das ist nun vorbei. „Sie sagen zu uns, unser Land sei so groß, dass wir das gar nicht alles brauchen“, erzählt einer der jungen Anführer des Stammes von einer kürzlich erfolgten Unterhaltung mit den Dorfbewohnern aus dem Umkreis. „Früher waren sie unsere Freunde. Jetzt sind sie unsere Feinde.“

    An illegal gold strike in 2016 scars Yanomami Indigenous Territory, in the northern Amazonian state of Roraima. Using pressurized hoses and highly toxic mercury to separate gold from the sandy soils, illegal miners, known as garimpeiros, spread destruction throughout the Amazon. Thousands of miners are now operating illegally within the territory, and dangerously high levels of mercury have been found in Yanomami living near and downriver from gold strikes.

    Foto von Bruno Kelly, Reuters

    Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass das Reservat der Uru-Eu-Wau-Wau, in dem auch drei unkontaktierte indigene Gruppen leben, binnen weniger Jahre von Erzsuchern und Siedlern überrannt sein könnte, wenn die Regierung nicht eingreift. Besonders die isolierten Nomaden, die durch die Tiefen des Reservats streifen, könnten sterben, ohne dass die Welt davon erfährt, sagte Fiona Watson von der NGO Survival International in einem Telefoninterview. Ein Mitglied der Uru-Eu-Wau-Wau erzählte Watson von einer Begegnung mit ein paar Siedlern, die im Wald ein Mitglied eines unkontaktierten Stammes gesehen hatten. „Wenn wir den das nächste Mal sehen, töten wir ihn“, sollen sie gesagt haben.

    Glücklicherweise gibt es auch einen Hoffnungsschimmer. Das FUNAI plant, Ende des Jahres einen Außenposten wiederzueröffnen, der die Versorgung der illegalen Goldschürfer im Yanomami-Territorium kontrollieren wird. Mitte September zerstörten Einsatzkräfte von FUNAI, IBAMA und der Polizei gemeinsam fast 60 Goldbagger, die illegal im Fluss Jutai im Javari-Reservat betrieben wurden. Einer Quelle zufolge waren die Bagger in einem Gebiet aktiv, das gefährlich nah an der Heimat der Flecheiros liegt, die in extremer Isolation leben.

    Laut Watson reiche es aber nicht, dass die Behörden von Zeit zu Zeit Bergbau- und Holzfällerlager stürmen. „Sie müssen sich die großen Fische schnappen“, sagte sie. „Sie müssen anfangen, Leute vor Gericht zu bringen und zu verurteilen.“

    Ein einzelner Beamter des IBAMA hält Wache an einem Sägewerk in Boa Vista do Pacarana, Rondônia. Im Juli 2019 bemerkten Beamte der Umweltschutzbehörde zahlreiche Unregelmäßigkeiten im Lagerbestand von Sägewerken. Ihnen zufolge stammte ein Großteil des Holzes aus nahegelegenen Reservaten, wo es illegal entnommen worden war.
    Foto von Felipe Fittipaldi, National Geographic

    Der Mord an Maxciel Pareira dos Santos in Tabatinga hat die Paranoia unter den FUNAI-Mitarbeitern verstärkt. Schon seit März erbitten sie von der Regierung mehr Schutz für die Angestellten vor Ort, die sich einer wachsenden Gefahrensituation gegenübersehen. Bislang stießen ihre Bitten auf taube Ohren.

    Eine neue Umfrage, die am 24. September von der Menschenrechtsgruppe Instituto Socioambiental veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich eine überwältigende Mehrheit der Brasilianer dafür ausspricht, die Wälder zu schützen, in denen die unkontaktierten Stämme des Landes leben.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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