Endgegner Brokkoli: Warum sich viele Kinder vor Gemüse ekeln

Kindheitserlebnisse prägen die Essgewohnheiten für das ganze Leben. Die Ernährungsforschung entschlüsselt, warum wir das mögen, was wir mögen.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 16. Nov. 2023, 16:36 MEZ
Ein kleines Mädchen stochert missmutig in einem Teller mit Brokkolie

Brokkoli und andere Kohlsorten stehen ganz oben auf der Ekelskala vieler Kinder. 

Foto von Adobe Stock

Die Zunge ist ein Muskel mit Superkräften. Ohne sie könnten wir weder sprechen noch schlucken oder schmecken. Auf ihrer Oberfläche liegen gut sichtbare Erhebungen, die sogenannten Papillen. Die mechanischen Papillen sorgen dafür, dass wir Berührungen, Temperatur und Schmerz empfinden können. 

Die Geschmackspapillen dagegen bringen Würze ins Leben: In ihnen befinden sich die Geschmacksknospen. Sie sind die Grundlage dafür, dass wir süß, salzig, sauer, bitter und umami wahrnehmen können. Die fünfte Geschmacksdimension umami wurde erst vor einigen Jahren nachgewiesen. Der Begriff stammt aus dem Japanischen und bedeutet so viel wie herzhaft, würzig, vollmundig. Man findet umami in konzentrierter Form beispielsweise in Sojasoße, Tomatenmark, Pilzen und Parmesankäse. 

Säuglinge und Kleinkinder haben etwa 10.000 Geschmacksknospen. Mit zunehmendem Alter werden es immer weniger. Kinder empfinden Geschmäcker also viel intensiver als Erwachsene. Und tatsächlich scheint es Speisen zu geben, in die wir erst hineinwachsen müssen.

Angeborener Ekel vor Bitterem

Ganz oben auf der Ekelskala vieler Kinder: frisches Gemüse. Dafür gibt es gute Gründe, wie der australische Ernährungsforscher Russell Keast erklärt. Giftige Pflanzen enthalten oft bittere Stoffe, „die unsere tief verwurzelten Schutzmechanismen aktivieren“. Der unangenehme Geschmack diente unseren steinzeitlichen Vorfahren als „Warnsignal für etwas potenziell Gefährliches“, so Keast. 

Erwachsene Jägerinnen und Sammler wussten womöglich, von welchen Pflanzen man besser die Finger lässt. Kindern aber fehlte diese Erfahrung. Ihr besonders stark ausgeprägter Geschmackssinn machte das mangelnde Wissen wett. Schmeckt etwas bitter? Sofort ausspucken! Der Ekel vor Bitterem hat also evolutionsbiologische Ursachen. Kein Wunder, wenn Kinder keinen Blumenkohl, Brokkoli oder Rosenkohl mögen. 

Einer aktuellen Studie zufolge gibt es einen weiteren Grund, warum viele Kinder ausgerechnet Kohlsorten nicht anrühren. Demnach sind es die schwefelhaltigen Verbindungen im Kohl, die dem Nachwuchs übel aufstoßen. Die Geruchs- und Geschmacksnerven vieler Erwachsener gewöhnen sich dagegen über die Zeit an den leicht fauligen Geruch. 

BELIEBT

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    Darum lieben Kinder Süßes

    Anders verhält es sich mit Süßem. Die Lust darauf wurde uns offenbar bereits in die Wiege gelegt. „Neugeborene haben eine angeborene Vorliebe für Süßes“, sagt Ernährungswissenschaftlerin Bianca Müller von der SRH Fernhochschule in Riedlingen. „Das hat die Natur schlau eingerichtet, denn so wird sichergestellt, dass die süße Muttermilch gemocht wird.“ 

    Süßes liefert viel Energie und die brauchen Kinder fürs Wachstum. Deshalb lieben Kinder alles, was Zucker und andere Kohlenhydrate enthält. Auch das hat die Evolution clever eingerichtet. Bittere und saure Lebensmittel könnten ja verdorben sein. Erst mit zunehmender Erfahrung lernen wir einzuschätzen, ob etwas gesund, ungenießbar oder sogar giftig ist.

    Geschmacksschulung im Mutterleib

    Unsere erste Geschmacksschulung beginnt indes viel früher – und zwar im Mutterleib. Die Ernährung der Mutter verändert nämlich den Geschmack des Fruchtwassers und später auch den der Muttermilch. Mit dem ersten Brei öffnen sich dann nochmals neue Welten. „Säuglinge, die eine abwechslungsreiche und vielfältige Beikost erhalten, sind auch im späteren Leben bessere und unkompliziertere Esser“, erklärt Andrea Maier-Nöth, Professorin für Sensorik an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen

    Doch genau hier sieht sie ein Problem. Der erste Babybrei enthält meist Karotte, Pastinake oder Kürbis. Laut Maier-Nöth „alles süßliche Lebensmittel, die die Kinder auf diese Geschmacksrichtung konditionieren“. Das mache es später schwerer, Kinder auch für andere Geschmäcker zu begeistern. „Eltern sollten also auf möglichst viel Abwechslung schon zu Beginn der Beikost achten.“ 

    Aus Sorge vor späteren Allergien füttern manche Eltern ihre Kinder erst spät mit Beikost. Maier-Nöth hält das für falsch: „Monotone Ernährung bietet keinen Schutz vor Allergien.“ Auch „die lange Zeit propagierte Ansicht, nur ein Gemüse pro Woche zu füttern, gilt inzwischen als überholt“.

    Ihr Rat, wenn ein Kind bestimmte Lebensmittel energisch ablehnt: „Vor allem nicht zu früh aufgeben und dem Kind die Mäkeleien nicht vorwerfen. Es ist nämlich ein fundamentaler Überlebensinstinkt, der die Kleinen vor Neuem warnt.“

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    Sinne schärfen: Wie wir unsere Geschmacksnerven austricksen

    Gefragt sind Gelassenheit, Geduld und eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang mit Essen. Statt ständig über gesundes Gemüse zu reden, plädieren Ernährungsfachleute dafür, es einfach auf den Tisch zu bringen. Eltern sind das wichtigste Vorbild. Verbinden Kinder ein bestimmtes Lebensmittel mit Stress oder Streit am Küchentisch, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie es auch später nicht mögen.

    Aber auch Erwachsene können daran arbeiten, ihren Ekel vor Brokkoli oder Blumenkohl zu überwinden. Ernährungsforscher Keast rät, die Geschmacksnerven auszutricksen. Dazu empfiehlt er, mehrere Geschmäcker und Lebensmittel geschickt miteinander zu kombinieren. 

    Der Hintergedanke hierbei: Nicht nur der Geschmack einer Speise entscheidet darüber, ob wir sie mögen. Beim Essen und Trinken kommen alle Sinne zusammen. Wenn Aussehen, Geruch, Geschmack, Geräusche und Mundgefühl harmonisch zusammenwirken, entstehe ein „multisensorisches Erlebnis“. Oder auf gut Deutsch: Genuss mit allen Sinnen. 

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