Paläontologie: Kolonialismus in der Forschung

Eine neue Studie aus Deutschland verweist auf ein schwieriges Machtgefälle in der globalen Wissenschaft, das seine Wurzeln in der Kolonialisierung hat. Sie soll auch aufzeigen, welche Probleme das mit sich bringt.

Kolonialismus in der Paläontologie: Eine neue Studie fordert mehr Zusammenarbeit, vor allem zwischen westlichen Ländern und dem globalen Süden.

Foto von AdobeStock
Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 15. Jan. 2022, 09:04 MEZ, Aktualisiert am 27. Jan. 2022, 14:54 MEZ

1996 fanden Arbeiter in einem Kalksteinbruch versteinerte Überreste eines etwa hühnergroßen Dinosauriers aus der Kreidezeit. Die Fossilien befinden sich mittlerweile in der Sammlung des Naturkundemuseums in Karlsruhe. In einer Studie wurde das Fossil Ubirajara jubatus genannt. 

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Fund folgte Aufregung: Im vergangenen Herbst verlangten brasilianische Paläontologen das Fossil zurück – es gehöre dem brasilianischen Staat.

Das Phänomen Wissenschaftskolonialismus

Dass Funde aus dem globalen Süden in westlichen Museen ausgestellt und erforscht werden, ist mehr Regel als Ausnahme: Das Phänomen wird auch Wissenschschaftskolonialismus genannt. Eine neue Studie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) hat dieses Phänomen und seine ethischen und wissenschaftlichen Implikationen genau untersucht.

Als wissenschaftliche Disziplin ist die Geologie – und mit ihr die Paläontologie – eng mit der europäischen Kolonialzeit verbunden. Die Besetzung und Kolonialisierung neuer Gebiete und die Entdeckung und Erforschung regionaler Pflanzen, Tiere und Fossilien innerhalb dieser Regionen geschah quasi wechselseitig. An der Praxis, die sich damals in den Naturwissenschaften etablierte, hat sich bis heute wenig geändert: Westliche Wissenschaftler unternehmen Forschungsreisen in Länder des globalen Südens und leiten dort Ausgrabungen. Die Fossilien würden oft mit ins eigene Land genommen, um weitere Forschungen zu betreiben, so die Autoren der Studie. „Diese Praxis ist Routine in der Paläontologie – das ist einfach die Kultur innerhalb der Disziplin”, erklärt Nussaïbah Raja-Schoob von der FAU, die die Studie zusammen mit Dr. Emma Dunne von der Universität Birmingham geleitet hat und selbst Paläontologin ist.

Bemühungen, naturwissenschaftliche Disziplinen zu dekolonisieren, fallen bis heute schwer. Denn: Westliche Länder genießen in Bezug auf Forschungsmittel und -daten noch immer eine Monopolstellung. Die Studie, die in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht wurde, zeigt auf, dass 97 Prozent der in den vergangenen 30 Jahren gesammelten Daten der Paleobiology Database (PBDB) – einer Datenbank zur systematischen Erfassung aller wissenschaftlich dokumentierten Fossilienfunde – von Forschenden aus Nordamerika und Westeuropa stammen. „In der Paläontologie besteht bis heute ein globales Machtgefälle“, sagt Raja-Schoob.

Und das habe Folgen: „Entscheidungen darüber, was wo untersucht wird, werden fast ausschließlich von westlichen Institutionen getroffen. So entsteht eine voreingenommene und einseitige Sicht auf Forschungsdaten und die Frage kommt auf, wie genau unsere Datensammlungen die tatsächliche Biodiversität der Erdgeschichte widerspiegeln.“

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Ethische und wissenschaftliche Folgen

Doch nicht erst die Ausfuhr der Funde in andere Länder ist nach Ansicht von Raja-Schoob und ihren Kollegen problematisch, sondern vor allem der Fakt, dass einheimische Forschende oft außen vor blieben. „Das Wissenszentrum eines Landes befindet sich so außerhalb dieses Landes“, heißt es in der Studie. 

Für lokale Wissenschaftler aus den Fundländern ist es so schwierig, auf die Forschungsergebnisse zuzugreifen und selber Studien zu veröffentlichen. „Westliche Länder bleiben die Hauptverantwortlichen für die Produktion von Forschungsdaten und -ergebnissen”, erklärt Raja-Schoob. Lokalen Wissenschaftlern würden Chancen genommen, eigenes Wissen beizutragen  – und das sei auch ein ethisches Problem.

Die Folgen sind in den Augen der Studie dramatisch: Die westlichen Länder behalten die Monopolstellung in Bezug auf paläontologische Daten – sowohl in den eigenen Ländern als auch im Ausland. Es entsteht ein Teufelskreis, der bereits bestehende ungleiche sozioökonomische Faktoren wie die Verteilung von Reichtum und wissenschaftlichen Mitteln nur vertieft. 

Neben den ethischen Bedenken gibt es aber auch ganz praktische Folgen: „Beispielsweise basiert fast alles, was wir über Dinosaurier aus der späten Kreidezeit wissen, auf Ausgrabungen in Nordamerika, einer Region, die über ein Drittel der Daten der PBDB beiträgt”, so Raja-Schoob. Dadurch entstehe eine Datenverzerrung, weil nicht eindeutig sei, ob man die Informationen einer Region auf die gesamte Erdgeschichte übertragen könne. „So haben wir keine Informationen dazu, was mit den Dinosauriern an anderen Orten zu dieser Zeit passiert ist.”

Wissenschaftskolonialismus in Deutschland

Nach den USA liefert laut der Studie Deutschland die zweitmeisten Daten für die PBDB – ungefähr 12 Prozent. Hier fällt besonders auf, dass über die Hälfte der Auslandsforschung Deutschlands ohne Zusammenarbeit mit lokalen Wissenschaftlern betrieben wird.

Auch im Fall Karlsruhe wurde die Studie, die dem Dinosaurier den Namen gab, ohne die Zusammenarbeit mit brasilianischen Forschenden veröffentlicht. Laut Prof. Dr. Eberhard Frey, Co-Autor der Studie und Mitglied des Referats für Paläontologie und Evolutionsforschung am Naturkundemuseum in Karlsruhe, ist die Lage dennoch kompliziert. Denn der Kauf sei nach bestem Wissen und Gewissen verlaufen: Der Import des Ubirajara jubatus sei nach seinem Kauf durch das Museum 2006 mit Hilfe einer Spedition und brasilianischen Mittelsleuten geschehen, die auch die Zolldokumentation übernahmen. 

Er verteidigt die Praxis: „Brasilianische Fossilien überschwemmten 20 Jahre lang den Weltmarkt”, sagt er. Die wenigsten davon seien in Museen gelandet, „wo sie nach oft aufwendiger Präparation für die wissenschaftliche Bearbeitung frei und für alle Wissenschaftler:innen zur Verfügung stehen.” Frey betont, dass dem Museum die Zusammenarbeit mit brasilianischen Forschenden wichtig sei: „Betroffene Paläontolog:innen von verschiedenen deutschen und internationalen Museen haben sich zusammengefunden, um konstruktive Lösungen zu erarbeiten, [...] auch zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Brasilien.” Wege aus der Situation, die allen Beteiligten dienlich wären, finde er wünschenswert, „allein schon, um die faszinierende Wissenschaft der Paläontologie zu bewahren und gemeinsam weiterzuentwickeln.”

Laut Raja-Schoob zeigt das Beispiel in jedem Fall, dass die Praxis des Exportierens von Fossilien – legal oder illegal – dazu führe, dass die Forschung zu diesen Fossilien hauptsächlich im Westen stattfinde. Der Fall sei ein gutes Beispiel dafür, dass Wissenschaftlern aus dem Fundland Möglichkeiten genommen würden, eigene Forschung anzustellen und eigene Studien zu veröffentlichen. Das sei vor allem auch ethisch zu hinterfragen.

Im Zuge der Streitigkeiten wurde die Studie, die dem Dinosaurier den Namen gab, zurückgezogen. Laut eines Papers, das in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution erschien, ist Ubirajara jubatus somit auch kein gültiger Name für das Fossil.

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Ein Blick in die Zukunft

Daten von Fossilienfunden sind ein wichtiges Werkzeug, um die Biodiversität der Erdgeschichte zu verstehen. „Mit einem allumfassenden Verständnis kann man Schlüsse aus vergangenen Klimaeregnissen und Massenaussterben auf die Zukunft übertragen und Überlegungen anstellen, wie diese aussieht”, so Raja-Schoob. Dazu sei es wichtig, dass in der Paläontologie besser zusammengearbeitet würde.

Um die Monopolstellung westlicher Länder anzugehen und die Paläntologie zu dekolonisieren, wünscht sich Raja-Schoob vor allem eines: weniger Wettkampf. Die Wissenschaft müsse einen Wandel hin zur Zusammenarbeit vollziehen – vor allem mit den Wissenschaftlern, deren Stimmen aktuell noch ausgegrenzt werden. „Es sollte nicht darum gehen, wer zuerst eine Studie veröffentlicht. Wir sollten lieber die Beziehungen zwischen Wissenschaftlern der westlichen Länder zu Wissenschaftlern aus den Ländern, in denen geforscht wird, stärken – davon profitieren wir alle.“

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