Deutschlands Ur-Elefanten

Als Deutschland eine Savanne war: Ein ehemaliger Tagebau bei Halle bietet einen faszinierenden Einblick in die Urzeit vor 200000 Jahren. Bagger haben dort Überreste von mehr als 70 riesigen Waldelefanten zutage befördert.

Von Siebo Heinken
Foto von Karol Schauer

Im Reich der Waldelefanten

Die Anrufe kamen mittags, abends, morgens um drei Uhr. Sie kamen im Winter, im Sommer, im strömenden Regen des Herbstes. Der Wortlaut war fast immer gleich. „Herr Mania, es hat wieder geknirscht. Das Zeug muss schnell weg.“ Dann setzten sich Dietrich und Ursula Mania in ihren grauen Trabi und eilten von Jena zum Braunkohletagebau Neumark Nord im östlichen Harzvorland. Die Fahrer der riesigen Schaufelradbagger warteten schon ungeduldig, vor haufenweise Knochen. „Es war ein Rennen gegen die Uhr“, erzählt der ehemalige Professor für Urgeschichte an der Universität Jena. „Selten blieben uns mehr als ein paar Stunden, um die Funde zu bergen.“

Das fanden sie: Höhlenlöwe, Maulwurf, Hirsch, Frosch, Nashorn, Maus, Höhlenbär, Schleie, Schnecken, Damhirsche. Und den Europäischen Waldelefanten, auch Eurasischer Altelefant (Elephas oder Palaeoloxodon antiquus), eines der mächtigsten Landtiere nach den Dinosauriern. Beine, Schädel, ganze Skelette.

Elefanten in Deutschland?

Einer der bedeutendsten Fundorte urzeitlicher Rüsseltiere überhaupt! Er liegt im Geiseltal westlich von Merseburg am Übergang des Mittelgebirges zur norddeutschen Tiefebene. Vor 200000 Jahren erstreckte sich dort ein 600 Meter langer, 400 Meter breiter See mit einer Fauna, wie man sie in dieser Vielfalt heute nur noch an den Wasserstellen Ost- und Südafrikas beobachten kann. Hirsche, Wildrinder und Wildpferde, Wald- und Steppennashörner kamen zu den Tränken. Fleisch-, Aas- und Knochenfresser folgten ihnen: Löwen, Wölfe, Hyänen. Stockenten und Schwäne bewegten sich in sicherer Distanz. Elefanten suhlten sich im Uferschlamm. Ganz in der Nähe nahmen die Dickhäuter Staub- und Sandbäder und ruhten unter den Bäumen.

Galerie: Deutschlands Ur-Elefanten

Die Forscher fanden auch Spuren von Feuerstellen, an denen die frühen Menschen – wohl Vor-Neandertaler – Tiere zerlegten und das Fleisch trockneten. Mitteleuropa war dünn besiedelt; gerade mal 7000 Leute lebten nach Schätzungen im Gebiet des heutigen Deutschland. Die wildreiche Savanne bot ihren aus 25 bis 30 Leuten bestehenden Sippen gute Bedingungen; so konnten sie an festen Lagerplätzen leben. Sie verfügten über gute Jagdwaffen, vor allem Speere und Stoßlanzen. Damit stellten sie Tieren nach, die ihnen nicht zu gefährlich werden konnten, jedoch genügend Fleisch lieferten: Hirschen, Wildpferden, aber auch den eine Tonne schweren Auerochsen und sogar drei Meter langen Nashörnern. „Ich konnte zu DDR-Zeiten ja nicht viel reisen“, sagt der Paläontologe und Geologe Mania. „Das Leben an diesem einstigen See zu ergründen, das war für mich auch deshalb eine faszinierende Expedition in eine ferne Zeit.“

Forscher aus einem Dutzend Disziplinen begleiteten ihn. Und zahlreiche Wissenschaftler aus ganz Europa waren in den vergangenen Monaten daran beteiligt, die Funde für die Schau „Elefantenreich – eine Fossilwelt in Europa“ im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle auszuwerten und aufzubereiten. Von der Universität la Sapienza in Rom stieß die Elefantenexpertin Maria Rita Palombo dazu. „Neumark Nord“, sagt sie, „ist ein einzigartiges Fenster in die Welt des Eiszeitalters.“

Die kalte Zeit auf der Nordhalbkugel begann vor rund 2,6 Millionen Jahren. Vom Nordpol aus wuchs das Eis nach Süden, bedeckte Skandinavien und drang bis an die Grenze der heutigen deutschen Mittelgebirge vor. Von den Alpen schob es sich bis weit ins nördliche Vorland. Dieses Eis hinterließ riesige Steine, die oft über Hunderte Kilometer verfrachtet wurden.

Als 1837 Louis Agassiz, der junge Präsident der Schweizer Gesellschaft für Naturwissenschaften, behauptete, große Eisschichten hätten die markanten Findlinge bewegt, erntete er Hohn und Spott. Wie konnte er es wagen, dieses geologische Rätsel wissenschaftlich zu erklären? Ketzerei! Selbst führende Geologen waren noch der Ansicht, eine biblische Sintflut sei da am Werk gewesen und habe auch alle verschwundenen Tierarten ausgelöscht.

Im gleichen Jahr aber prägte der badische Naturforscher Karl Friedrich Schimper bereits den Begriff der Eiszeit (Glazial). Und 1909 benannten Berliner Geographen und Geologen schließlich die Phasen der Eiszeiten nach Flüssen: in Nord- und Mitteldeutschland zum Beispiel nach der Elster, Saale und Weichsel.

Doch stets dann, wenn die Achsenstellung und Umlaufbahn der Erde wieder eine stärkere Sonneneinstrahlung zuließen – in regelmäßigen Zyklen mehr oder weniger alle 100000 Jahre –, gab es lange Perioden gemäßigten Klimas (Interglaziale). Wie das Eem vor 125000 Jahren, wie die Warmzeit vor gut 200000 Jahren – die Zeit, als Elefanten das Geiseltal beherrschten.

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Dietrich Mania, ein freundlicher, bedächtiger Mann mit offenem Blick, wurde im Jahr 2003 emeritiert, aber sein Lebenswerk lässt ihn nicht los. Es war im Frühjahr 1986, als Matthias Thomae, der Geologe des VEB Braunkohlewerke Geiseltal, eines Tages vor seiner Tür stand – mit einem Rucksack voller urzeitlicher Hirschknochen. Zehn Jahre lang arbeiteten Mania und er im Wettlauf mit den haushohen Baggern. Größere Knochen ließen sie auf Lastwagen in ein 300 Jahre altes Gutshaus bei Bilzingsleben schaffen, weil es kein anderes Lager gab. Einmal brachten sie einen Nashornschädel eigenhändig dorthin: auf dem Rücksitz ihres Trabi. „Die Sachen waren überall“, sagt der Professor. „Im Keller, in Regalen, in Kisten, auf dem Fußboden. Ganze Wirbelsäulen lagen da herum. Wir kamen gar nicht mehr durch.“

Ganz genau erinnert sich Mania an einen Tag im Herbst 1994. „Es war der 12. Oktober. Die Arbeiter in Neumark Nord begrüßten mich schon so seltsam. Und dann sah ich es. Wie auf dem Präsentierteller lag ein Elefantenskelett vor uns. Es war fast vollständig erhalten!“ Im Studierzimmer seiner Gründerzeitvilla in Jena breitet der Wissenschaftler einen gezeichneten Querschnitt durch die Landschaft der Warmzeit vor 200000 Jahren aus. Er sieht sie genau vor sich. „Hier war der See. Unten sind das Röhricht und der Riedgrassumpf, dann das Weidendickicht, der Laubmischwald, der Steppenwald. Gut 200 Pflanzenarten haben wir gefunden.“

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Andere Skizzen zeigen detailliert die Fundverteilung der fast 50 Tierarten, deren Überreste die Forscher in Sicherheit brachten – Zehntausende von Knochen. „An diesem Gewässer“, sagt Mania, „traf sich die gesamte Landtierwelt der Warmzeit.“ Selbst Insekten fanden die Forscher, etwa ein Exemplar des Kleinen Mondhornkäfers. Er lebte am Waldrand, wo die Elefanten ruhten. Aus deren Kot stellte er Brutpillen her, in denen das Weibchen die Eier ablegte.

In der weiteren Umgebung zogen Rudel von Dam-, Rot- und Riesenhirschen durch die Landschaft, eine Baum- und Strauchsavanne ähnlich wie heute im Krüger-Nationalpark, jedoch mit anderen Pflanzen. Im südafrikanischen Schutzgebiet stehen Akazien und Affenbrotbäume, im Geiseltal waren es in den verschiedenen Entwicklungsstufen die Kiefern und Birken, Eichen, Hainbuchen und Linden, Eiben, Eschen und Erlen. Darunter auch wärmeliebende Pflanzen wie Liguster, Buchsbaum und Sandröschen. Mania nimmt eine Handvoll urzeitlicher Steinfrüchte des Schlehdorns aus einem Glas. „Schauen Sie, die sehen doch noch ganz frisch aus, oder?“

Der Artikelauszug stammt aus der Ausgabe 04/2010 vom National Geographic Magazin.

(NG, Heft 4 / 2010)

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