In Singapur erobern Otter die Stadt – und die Herzen

Wie viele andere Wildtiere haben sich auch Singapurs Otter an ihren urbanen Lebensraum angepasst und ihre Verhaltensweisen verändert.

Von Claire Turrell
Veröffentlicht am 11. März 2020, 15:27 MEZ
Touristen fotografieren ein paar Otter, die eine Straße in der Nähe des Naturparks Gardens by the Bay in Singapur überqueren.
Foto von Stefano Unterthiner

SINGAPUR Auf einem begrünten Randstreifen neben der Autobahn huschen braune Gestalten entlang. Von Zeit zu Zeit reckt sich ein kleines Köpfchen in die Höhe, um nach Gefahr Ausschau zu halten. Es ist eine Familie aus sieben Ottern, vermutlich auf dem Weg zu ihrem Bau in den botanischen Gärten von Singapur. Die Pendler, die im abendlichen Stau stehen, beachten die vierbeinigen Fußgänger nicht weiter. Sie sind bereits daran gewöhnt, die charismatischen Säugetiere in der 5,7 Millionen Einwohner starken Metropole zu sehen.

Noch vor 50 Jahren sah die Situation ganz anders aus: Damals erstickten Singapurs Flüsse in verwesenden Tierkadavern, Müll und Abwasser. Die dort heimischen Indischen Fischotter waren verschwunden und drohten sogar, lokal auszusterben. Im Jahr 1977 startete die Regierung Singapurs schließlich eine Kampagne zur Flussgesundheit. Schon ein Jahr später kehrten die Otter von selbst auf die tropische Insel zurück.

In Singapur bleiben junge Otter länger bei ihren Eltern als ihre Verwandten in weniger städtischen Gebieten.
Foto von Stefano Unterthiner
Die Otter-Familiengruppen in Singapur haben allesamt Namen. Hier überquert die Bishan-Familie gerade eine Straße in der Innenstadt.
Foto von Stefano Unterthiner

Mittlerweile leben mindestens 90 Otter, verteilt auf zehn Familiengruppen, in dem Inselstaat. Und ihre Population wächst beständig – dank einem reichhaltigen Nahrungsangebot (inklusive Teiche voller Kois) und einem Mangel an Raubtieren. Die etwa neun Kilogramm schweren Tiere haben sich gut an das Leben im urbanen Raum angepasst. Sie richten sich ihre Bauten in Betonbrücken ein und lassen sich in den sandigen Bereichen zwischen den Fußwegen die Sonne auf den Pelz scheinen.

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Allerdings hat ihre steigende Zahl mittlerweile auch zu ein paar Konflikten mit Singapurs Einwohnern geführt. Auf der Insel Sentosa haben sich Hausbesitzer in einer geschlossenen Wohnanlage 2015 darüber beschwert, dass Otter ihre Koiteiche ausräumen. Ein Hotel in derselben Gegend verlor im Laufe von acht Monaten Zierfische im Wert von 85.000 Singapur-Dollar an die pelzigen Räuber, wie es in lokalen Berichten heißt. 2017 biss ein Otter ein fünf Jahre altes Mädchen im Naturpark Gardens by the Bay.

Trotz dieser Zwischenfälle haben die Singapurer im Normalfall viel für ihre frechen Mitbewohner übrig. Als sie dazu befragt wurden, welches Maskottchen Singapur 2016 bei den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag repräsentieren sollte, stimmten sie mit großer Mehrheit für den Otter. Die schlanken Marder haben mittlerweile auch Fanpages auf Facebook wie Ottercity, gegründet von dem Fotografen Jeffery Teo.

Die Bishan-Familie hat den Morgen mit Fischfang verbracht und ruht sich am Ufer nun ein paar Stunden aus.
Foto von Stefano Unterthiner

„Vor fünf Jahren wussten die Leute hier noch sehr wenig über die Otter“, sagt Teo. „Aber wenn man die Singapurer jetzt nach den Ottern fragt, können sie einem nicht nur sagen, um welche Art es sich handelt, sondern auch, zu welcher Familie ein spezifischer Otter gehört wie viele Jungtiere die Familie gerade hat.“

So wie das Interesse der Bürger an den Stadtottern gewachsen ist, tat es auch das Interesse der Wissenschaftler. Besonders Biologen interessieren sich dafür, wie sich die Tiere in so eine geschäftige Landschaft einpassen.

Philip Johns, ein Biologe des Yale-NUS College in Singapur, ist Teil eines Teams, das die Stadtotter erforscht und eine App namens Otter Spotter programmiert hat. Damit können die Einheimischen ihre Ottersichtungen melden. „Wir haben eine sehr gesunde Population“, sagt Johns. „Das einzige Problem, das wir derzeit prognostizieren, ist ein Platzmangel für diese territorialen Tiere.“

Solche Forschungen könnten auch wichtige Informationen darüber liefern, wie Otter – die in großen Teilen Asiens von Indien über Myanmar bis nach Malaysia leben – sich an neue Lebensräume anpassen. Aufgrund von Wasserverschmutzung, Verlust von Lebensraum und anderen Faktoren werden Indische Fischotter von der Weltnaturschutzunion als gefährdet eingestuft.

Das Stadtleben der Otter

Wahrscheinlich kamen die Otter in den Neunzigern über die Johorstraße von Malaysia aus nach Singapur. Jetzt leben sie auf der gesamten Insel, vom Ackerland in der Region Kranji im Norden bis zu den gepflegten botanischen Gärten Singapurs im Zentrum des Finanzviertels an der Marina Bay im Süden.

Als die Sonne am Morgen hinter den Baobabbäumen in den botanischen Gärten aufgeht, deutet Johns auf eine Otterfamilie, die zwischen den Schilfgräsern nach Nahrung sucht. „Sie treiben die Fische zum Ufer, damit der Nachwuchs lernen kann, wie man sie fängt“, erklärt er.

Die Singapurer kennen die Tiere als die Zouk-Familie. Die kleine Ottergruppe gewährt neue Einblicke in das Leben der Stadtotter. Beispielsweise gelten die Tiere im Allgemeinen als geschickte Jäger. Johns und sein Team haben aber entdeckt, dass sich die Erfolgsraten der Jagd für die ausgewachsenen Zouk-Otter dramatisch verschlechtern, sobald sie Nachwuchs haben. Das liegt daran, dass sie viel Zeit damit verbringen müssen, ihren Jungen das Jagen beizubringen.

Otter aus der Bishan-Familie reagieren auf einen Hund in Bay East Garden. Lokale Gruppen versuchen, die negativen Interaktionen zwischen Menschen, ihren Haustieren und Ottern zu minimieren.
Foto von Stefano Unterthiner

„Die Erfolgsrate der Jungtiere liegt bei etwa 50 Prozent, während es bei den Erwachsenen fast 100 Prozent sind. Wenn sie Nachwuchs haben, stecken sie also zurück und ändern ihr Verhalten. Das ist sehr spannend“, sagt er.

Außerdem hat das Team herausgefunden, dass sich die Otter mit dem Platzmangel arrangieren, indem sie beispielsweise länger bei ihren Eltern leben.

In der Wildnis würden die meisten Otter ihre Familiengruppe mit etwa zwei Jahren verlassen. In Singapur bleiben sie bis zu einem Alter von drei oder vier Jahren bei ihrer Familie, während sie darauf warten, dass ein neues Territorium frei wird. „Das ist ein bisschen wie der 35-Jährige, der bei seinen Eltern im Keller wohnt“, merkt Johns augenzwinkernd an.

Jungtiere der Bishan-Familie schwimmen ihren Verwandten auf der Suche nach Fisch hinterher.
Foto von Stefano Unterthiner
In der Marina Bay in Singapur frisst ein Otter einen Fisch.
Foto von Stefano Unterthiner

Wie viel Platz ein Otter braucht, hängt davon ab, wie viel Nahrung verfügbar ist. Im Normalfall können sie aber ein großes Territorium beanspruchen und legen am Tag bis zu 14 Kilometer zurück. Eine Familie von Indischen Fischottern besteht aus einem monogamen Elternpaar, halbwüchsigen Nachkommen und zwischen vier und sechs Jungtieren.

Am Rande des Sees zerren zwei Hunde an der Leine in Richtung der Zouk-Famile. Die Otter richten sich im Wasser auf – und plötzlich sind die Jungtiere verschwunden. Johns gibt das Signal, sich vorsichtig dem Rand des Sees zu nähern. Dort liegen zwei der Jungtiere gut versteckt zwischen den schlammigen Baumwurzeln und warten darauf, dass ihre Eltern Entwarnung geben.

Als die Familie wieder vereint ist, gleiten sie in einer V-Formation durch das spiegelglatte Wasser.

Die Bishan-Familie gehört zu den meistfotografierten der zehn Otterfamilien in Singapur.
Foto von Stefano Unterthiner

Otter-Verkehrschaos

Obwohl sich die Otter gut in ihre städtische Umgebung eingepasst haben, ist das Leben in Singapur für sie dennoch nicht ganz ungefährlich. Die Tiere teilen sich ihren Lebensraum beispielsweise mit dem Bindenwaran, der Jagd auf junge Otter macht.

Die größte Gefahr für die Tiere sind aber Zusammenstöße mit Fahrzeugen. Pro Jahr sterben dadurch fünf bis sechs Otter, sagt Bernard Seah, ein Mitglied der Otter Working Group. Dieser Zusammenschluss aus Wohltätigkeitsarbeiten, Behördenvertretern und Akademikern beobachtet die Otter und organisiert Aufklärungsprogramme.

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Die Gruppenmitglieder stellen beispielsweise Straßen- und Informationsschilder an Otter-Hotspots auf und versuchen, potenzielle Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. 2016 lief eine Otterfamilie über die Route für den Singapore Marathon. Freiwillige Helfer der Otter Working Group rannten den Marathonläufern entgegen, um sie über die Otter zu informieren, und positioniert sich entlang der Route, um Zusammenstöße zu verhindern.

Die Methoden der Otter Working Group – zum Beispiel die Zusammenführung von Bürgern und Experten – finden mittlerweile auch auf der taiwanesischen Insel Kinmen und in der malaiischen Hauptstadt Kuala Lumpur Anwendung. An beiden Orten haben die Stadtotter Einzug gehalten.

Einst selten, heute allgegenwärtig

Für den Biologen Sivasothi N von der Landesuniversität Singapur ist der Rückkehr der Otter – und deren Beliebtheit bei den Bürgern – eine begrüßenswerte Entwicklung.

Die Bishan-Familie schwimmt durch die Marina Bay, während im Hintergrund die Skyline von Singapur aufragt.
Foto von Stefano Unterthiner

Als die Tiere erstmals in Singapurs Gewässern auftauchten, waren sie so unbekannt, dass „die Leute sie für Biber oder Robben“ hielten, sagt Sivasothi. Er betreibt die Facebook-Seite OtterWatch, auf der die Einheimischen mehr über die neuen Stadtbewohner lernen können. 

Als er die Art in den frühen Neunzigern erforschte, musste er nach Penang in Malaysia reisen und dort stundenlang durch die Mangroven waten in der Hoffnung, auch nur ein einziges Exemplar zu entdecken.

Heute muss er für seine Forschung nur aus der Haustür fallen und hat schon ein paar der schlanken, verspielten Tiere vor der Nase, die es sich in Singapur gemütlich gemacht haben.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

 

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