Der größte Falke der Welt hat ein Problem: den Klimawandel

Gerfalken sind die einzigen Raubvögel, die sich ganzjährig in der Arktis aufhalten – der sich am schnellsten erwärmenden Region des Planeten.

Von Douglas Main
bilder von Kiliii Yüyan
Veröffentlicht am 10. März 2021, 15:53 MEZ
Gerfalke

Ein Gerfalke schwebt über den Klippen und der Tundra der Seward-Halbinsel in Alaska. Die Vögel sind durch den Klimawandel besonders gefährdet, da sich viele das ganze Jahr über in der Arktis aufhalten – der sich am schnellsten erwärmenden Region der Erde.

Foto von Kiliii Yüyan

Der Gerfalke ist der größte Falke der Welt – und einer der schnellsten: Bei langen Flügen kann er Geschwindigkeiten von 130 Kilometern pro Stunde erreichen, bei Sturzflügen über 200. Mit einem Gewicht von ein bis zwei Kilogramm und einer Flügelspannweite von einem Meter oder mehr kann er Beutetiere erlegen, die doppelt so groß sind wie er.

Er ist auch der einzige arktische Raubvogel, der nicht in den Süden ziehen muss, um zu überwintern. Er bleibt zurück, um in einer eisigen, dunklen Landschaft Beute zu jagen. „Jedes Lebewesen, das in einer so lebensfeindlichen Umgebung leben kann, hat meinen Respekt“, sagt Travis Booms, ein Greifvogelbiologe des Alaska Department of Fish and Game.

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Aber der Gerfalke steht vor einem Problem, dem weder seine Kraft, noch seine Geschwindigkeit gewachsen sind: Die Arktis erwärmt sich mehr als doppelt so schnell wie der Rest des Planeten. Biologen betrachten den Gerfalken als eine der am stärksten gefährdeten Arten der Region – zum Teil, weil er extrem spezialisiert ist, um in der Kälte zu überleben. Während viele Arten ihre Verbreitungsgebiete in Richtung der kühleren Pole verlagern, weil die Temperaturen steigen, kann der Gerfalke nicht weiter nach Norden vordringen. Obwohl die Vögel derzeit nicht als vom Aussterben bedroht eingestuft sind, geben neuere Forschungen in Alaska Anlass zur Sorge.

„Die Population ist im Moment stabil, aber möglicherweise rückläufig“, sagt Booms, wobei unklar ist, wie stark. „Es lauern einige ziemlich deutliche Bedrohungen am Horizont.“ Er ist Teil einer Langzeitstudie auf der Seward-Halbinsel im Westen Alaskas. Die Region ist die Heimat von 70 bis 80 nistenden Gerfalkenpaaren, was etwa einem Zehntel der Gesamtpopulation des Bundesstaates entspricht. Dort wollen die Forschenden verstehen, wie sich die Vögel an den Klimawandel anpassen.

Der Fotograf Kiliii Yüyan begleitete im Juni 2019 Forschende, die auf der Halbinsel Nester von Gerfalken besuchten. Seine Fotos bieten einen noch nie dagewesenen Blick auf die Vögel in ihrem natürlichen Lebensraum, wo sie sonst sehr schwer zu finden und zu beobachten sind. Die Schönheit der Vögel und ihre Rolle als Spitzenräuber in der Arktis hätten ihn zu dem Projekt hingezogen, sagt er, ebenso wie die große Bedeutung der Forschung.

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    Gerfalken und Steinadler konkurrieren um Nistplätze auf Klippen in den weiten, unbewohnten Teilen der Arktis. Dieses ehemalige Adlernest liegt auf einer Klippe über einem Fluss auf der Seward-Halbinsel. Die Region eignet sich hervorragend für die Erforschung des Gerfalken, da das Straßennetz den Forschern den Zugang erleichtert.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Diese Gerfalkenküken sind etwa 25 Tage alt und können nun von Biologen beringt werden, damit sie in Zukunft identifiziert werden können. Die Forscher müssen kilometerweit wandern und sich von Klippen abseilen, um die Küken zu erreichen und Messungen und Blutproben zu nehmen.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Die Küken werden von Mückenschwärmen geplagt, die mit der Hitze des Sommers kommen. Wissenschaftlerinnen befürchten, dass sich Vogelkrankheiten wie das West-Nil-Virus, die durch Mücken verbreitet werden, mit den steigenden Temperaturen nach Norden ausbreiten könnten.

    Foto von Kiliii Yüyan

    „Wir wissen ehrlich gesagt immer noch so wenig über Wanderfalken“, sagt er. Dazu gehört auch die Frage, wie sie es schaffen, den Winter zu überleben und wo genau sie sich während der größten Kälte aufhalten.

    „Ich wollte den Menschen einen genauen Blick auf dieses schöne Tier ermöglichen. Es gibt so wenige Bilder von Gerfalken“, sagt Yüyan. „Wie sieht ein Gerfalke, die arktische Königin der Lüfte, in seinem eigenen Reich aus?“

    Falken als Klima-Frühwarnsystem

    Die Seward-Halbinsel ist ein idealer Ort zur Erforschung von Gerfalken, da sie über ein robustes Straßennetz verfügt, was in der Arktis eine Seltenheit ist. Die Straßen erstrecken sich von der Kleinstadt Nome aus und verlaufen in Laufweite zu mehreren Nistplätzen für Gerfalken, die hoch auf felsigen Klippen über weiten, unbewohnten Tundraflächen thronen.

    Seit 2014 untersucht der Peregrine Fund – eine Organisation, die sich dem Schutz und der Erforschung von Greifvögeln widmet – die Gerfalken auf der Halbinsel in Zusammenarbeit mit Booms und dem Alaska Department of Fish and Game, das dort seit 20 Jahren Greifvögel studiert.

    Jeden Sommer besucht ein Forschungsteam etwa 20 Nester auf der Halbinsel zu drei verschiedenen Zeitpunkten: im Mai, wenn die Eier gelegt wurden; im Juni, wenn die Küken etwa 25 Tage alt sind; und Mitte Juli, nachdem die Küken flügge geworden sind.

    Es ist keine leichte Arbeit. Ein durchschnittlicher Tag erfordert stundenlange Wanderungen durch schwieriges Gelände, das Überqueren von Flüssen, den Auf- und Abstieg von Klippen – und all das oft, während man von Mückenschwärmen gestört wird. Besonders schwierig ist die Tour im Juni, wenn den Küken Blutproben entnommen, Messungen vorgenommen und die Beinringe angelegt werden. Die Eltern sind nicht gerade erfreut über die menschlichen Besucher.

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    „Es ist etwas einschüchternd, wenn man sich von einer Klippe zu einem Nest abseilt und diese großen Vögel auf einen zustürzen und konstant schreien“, sagt Devin Johnson. Der Doktorand an der University of Alaska Fairbanks schreibt seine Dissertation über die Zusammenhänge zwischen der Ernährung der Gerfalken und dem Fortpflanzungserfolg. (Die ferngesteuerten Kameras der Forscher zeigen, dass die Vögel schnell wieder zur Normalität zurückkehren, wenn die Forscher ihr Nest verlassen haben.)

    Die gesammelten Daten aus diesen Besuchen werden Aufschluss darüber geben, wie die Gerfalken auf die Umweltveränderungen in diesem Gebiet reagieren. Dazu gehören intensivere Frühjahrsstürme, die Küken töten können, und das Wachstum neuer Büsche und kleiner Bäume in der Tundra, die ihrer Beute mehr Versteckmöglichkeiten bieten. Die Wissenschaftler haben auch damit begonnen, das Blut der Raubvögel auf Krankheiten wie Vogelmalaria und das West-Nil-Virus zu untersuchen, für die die Gerfalken wahrscheinlich anfälliger sind als andere Raubvögel.

    „Wenn es Umweltveränderungen gibt, werden sie sich in der Biologie der Gerfalken niederschlagen“, sagt David Anderson, der das Gerfalken-Forschungsprogramm des Peregrine Fund leitet. „Wir nutzen sie als Frühwarnsystem.“

    Hoch oben in einem Klippennest verschlingen junge Gerfalken Beute, die von ihrer Mutter geliefert wird. Eine von den Biologen des Peregrine Fund aufgestellte Kamerafalle hilft den Forschern, die Küken zu beobachten und zu sehen, was sie fressen.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Mehr über die Ernährung der Gerfalken zu erfahren, ist ein wichtiger Teil des Projekts, da die Vögel fast ausschließlich andere Tiere fressen, die wie sie selbst speziell an das Leben im kalten Norden angepasst sind. Und wie die Gerfalken sind auch ihre Beutetiere in der sich erwärmenden Arktis zunehmend gefährdet, sagt Mike Henderson. Der Greifvogelbiologe des Peregrine Fund leitet das Forschungsprogramm vor Ort.

    Bewegungsaktivierte Kameras, die die Forscher jedes Jahr im Mai an den Nestern platzieren, nehmen Fotos aller Beutestücke auf, die die Gerfalken zurückbringen. Seit 2014 hat das Projekt mehr als vier Millionen Fotos von Beutetieren gesammelt, darunter Schneehühner, Erdhörnchen, Lemminge und Singvögel. „Wir haben derzeit mehr Fotos von Beutetieren des Gerfalken als irgendwer sonst auf der Welt“, sagt Henderson.

    Federn übersäen den Boden zwischen Wildblumen, die in der Nähe eines Gerfalkenhorsts wachsen. Die Greifvögel haben sich auf die Jagd nach Schneehühnern und Bodenbrütern, aber auch auf Erdhörnchen, Lemminge und Singvögel spezialisiert.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Dieser Gerfalke in Nome, Alaska, wird von dem örtlichen Falkner John Earthman gepflegt. „Es sind sehr einnehmende Vögel, hochintelligent“, sagt Earthman. Viele Greifvögel, die von Falknern eingesetzt werden, werden im Spätsommer oder Herbst gefangen, nachdem sie flügge geworden sind, und im Frühjahr freigelassen.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Ihre Forschung zeigt, dass das Beutespektrum der Gerfalken vielfältiger ist als bisher angenommen. Aber ob sich ihre Ernährung aufgrund der Klimabedingungen bereits verändert hat, „ist etwas, dem wir nachgehen – wir brauchen wirklich einen längerfristigen Datensatz, um es genau zu wissen“, sagt Johnson.

    Falken als Jäger und spirituelle Führer

    Obwohl die Populationen des Gerfalken weltweit stabil zu sein scheinen, sagt Booms: „Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Art im westlichen Alaska und im Yukon-Territorium lokal zurückgeht.“ Der südlichsten untersuchten Population scheine es am schlechtesten zu gehen, sagt er. Die Rückgänge könnten zum Teil auf Schwierigkeiten bei der Beutesuche und intensivere Frühjahrsstürme zurückzuführen sein. Aber es sei zu früh, um endgültige Schlüsse zu ziehen.

    Michael Henderson, der das Gerfalken-Forschungsprojekt des Peregrine Fund leitet, wiegt einen kürzlich beringten jungen Gerfalken an einem Neststandort.

    Foto von Kiliii Yüyan

    Diese Ungewissheit ist ein weiterer Grund, warum es wichtig ist, die Vögel Alaskas zu überwachen: Man müsse Basisdaten sammeln, bevor sich das Gebiet noch mehr erwärmt, sagt Booms.

    Darüber hinaus wird jedes Jahr eine kleine Anzahl von Gerfalken legal aus der Wildnis entnommen, um sie in der Falknerei zu verwenden. Die Menschen trainieren die Raubvögel darauf, ihnen bei der Jagd zu helfen. Laut Booms werden in diesem Bundesstaat pro Jahr etwa ein bis fünf Küken aus Nestern entnommen, was jedoch streng reguliert wird.

    Gerfalken werden nicht nur als Jäger geschätzt, sondern sind auch spirituelle Führer für viele indigene Völker der Arktis. Und das ist für Yüyan etwas Persönliches, denn seine Vorfahren sind Nanai, Ureinwohner der Region Sibirien.

    „Einige der mächtigsten [spirituellen Helfer] sind Falken“, sagt er, darunter eben auch Gerfalken. Yüyan möchte den Menschen helfen zu verstehen, dass die Arktis mehr ist als eine große Eisfläche. „Es ist die letzte große Wildnis, die wir haben, mit so viel unglaublichem Leben und indigener Kultur. Wenn wir nicht wissen, was da draußen ist, nehmen wir einfach an, dass da nichts ist. Wenn die Arktis weiter exotisch bleibt, wird sie zur Ausbeutung verdammt sein.“

    Ein weiblicher weißer Gerfalke schwebt in der Nähe von Nome durch die Luft. In bestimmten Gebieten haben 10 Prozent der Gerfalken eine solche leuchtend weiße Färbung. „Gerfalken, insbesondere die geisterhaften weißen Vögel, sind visuell so atemberaubend“, sagt der Fotograf Kiliii Yüyan. „Ihre Größe und Wildheit faszinieren mich. Sie haben eine Intensität und ein Bewusstsein, die mich daran erinnern, dass wilde Tiere eine ganz andere Perspektive haben als Menschen.“

    Foto von Kiliii Yüyan

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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