Wisente in Deutschland: Die Rückkehr der urigen Riesen

Schon um 1750 verschwanden die letzten freilebenden Wisente aus Deutschland. Jetzt steht Europas größtes Landsäugetier womöglich vor einem verblüffenden Comeback. Im Gespräch: WWF-Wildtierexpertin Leonie Weltgen

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 28. Apr. 2022, 09:15 MESZ
Wisente im polnischen Westpommern: Auch in Deutschland war Europas größtes Landsäugetier einst weit verbreitet.

Wisente im polnischen Westpommern: Auch in Deutschland war Europas größtes Landsäugetier einst weit verbreitet.

Foto von Michael Gandl/WWF

Noch im Mittelalter war der Wisent in weiten Teilen des Kontinents verbreitet – und eine beliebte Jagdtrophäe. Das letzte Tier wurde 1927 im Kaukasus geschossen. Alle heute lebenden Wisente stammen von zwölf Tieren aus Zoos und Tiergehegen ab. Inzwischen gibt es wieder rund 7.000 freilebende Wisente in Europa. Auch bei uns. Vor knapp zehn Jahren wurde im Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen eine kleine Herde ausgewildert. Und schon bald könnte der bis zu drei Meter lange und zwei Meter hohe Koloss aus freien Stücken zurückkehren.

Dank intensiver Schutzbemühungen wachsen die Bestände in Polen. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die urigen Rinder über kurz oder lang die Grenze nach Deutschland überqueren und sich hier langfristig ansiedeln. Gleiches gilt für den Elch. Das grenzübergreifende und von der EU geförderte Projekt „ŁośBonasus – Crossing!“ („Elch und Wisent – queren!“) soll die natürliche Verbreitung von Polen nach Deutschland begleiten. Von deutscher Seite aus setzen sich das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung, die Humboldt-Universität Berlin und die Umweltschutzorganisation WWF für die Rückkehr der Wisente ein.

Wir haben WWF-Wildtierexpertin Leonie Weltgen gefragt, welche Zukunft Europas größtes Landsäugetier in Deutschland hat.

Galerie: Wiedergeburt der Ausgestorbenen

Frau Weltgen, der Wisent ist das größte und schwerste Landsäugetier Europas. Haben wir in Deutschland überhaupt genug Platz für die riesigen Wildrinder?

Unter ökologischen Gesichtspunkten hat Deutschland Platz für Wisente. Es kommt allerdings darauf an, dass die Bevölkerung in den entsprechenden Regionen die Rückkehr dieser riesigen Wildrinder akzeptiert. Dass eine solche Koexistenz von Wisent und Mensch funktionieren kann, sehen wir zum Beispiel in Mittel- und Osteuropa. Besonders bei unseren Projektpartnern im polnischen Westpommern, wo inzwischen wieder über 300 Wisente leben.

Wo könnten denn bei uns wieder Wisente leben?

Vor einigen Jahren hat die Humboldt-Universität im Auftrag des WWF dazu eine Studie erstellt, in der insgesamt zehn potenzielle Gebiete ermittelt wurden. Um nur drei Beispiele zu nennen: Die Region Müritz-Schorfheide in Mecklenburg-Vorpommern, die Region Cottbus-Spreewald und der Pfälzer Wald. Störungsarme Flächen mit geringem menschlichem Druck sind vor allem im Osten Deutschlands und dort besonders in Brandenburg vorhanden.

Was braucht der Wisent, um sich in freier Wildbahn wohlzufühlen?

Der Wisent lebt zwar in Waldgebieten. Sein bevorzugter Lebensraum sind aber nicht dichte, undurchdringliche Wälder. Er braucht vor allem auch große Freiflächen, die er als Weideflächen nutzt. Dort ernährt er sich von Wildkräutern und Gräsern. Wälder und Wiesen müssen sich abwechseln.

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    WWF-Wildtierexpertin Leonie Weltgen ist überzeugt: Deutschland hat genug Platz für den Wisent.

    Foto von Leonie Weltgen/WWF

    Im Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen wurde vor einigen Jahren eine Wisentherde ausgesetzt, die seitdem in freier Natur lebt. Allerdings muss der Mensch dies mit einem konsequenten Wildtier-Management begleiten. Kann man da noch von Wildtieren sprechen? Oder handelt es sich nicht eher um Tourismusmagnete?

    Die Tiere im Rothaargebirge können sich frei bewegen – und sie lassen sich auch nicht oft blicken. Es sind tatsächlich wilde Tiere. In der heutigen Zeit ist ein konsequentes Wildtiermanagement unumgänglich. Es geht dabei um Lösungen für das Zusammenleben zwischen Mensch und Tier. Das hört sich vielleicht sehr nach Kontrolle an. Aber durch die Landschaftszerschneidung und den Verlust der natürlichen Lebensräume ist es einfach notwendig – auch um Tiere und Menschen zu schützen.

    Das ist ein gutes Stichwort. Können Wisente denn auch dem Menschen direkt gefährlich werden?

    Wisente sind große und eindrucksvolle Pflanzenfresser, die in der Regel nicht den Kontakt zu Menschen suchen. Um Konflikte zu vermeiden, sollte immer ein Anstand von mindestens 100 Metern zu den Tieren eingehalten und kein Kontakt erzwungen werden. Sollte es doch dazu kommen, dass man einem Wisent gegenübersteht, ist ein langsamer und ruhiger Rückzug zu empfehlen. Denn natürlich sind uns die großen Tiere körperlich überlegen und können im direkten Kontakt gefährlich werden.

    Wisente sind bei einigen Waldbesitzern nicht gerade gern gesehen. Die Tiere können Schäden in den Wäldern anrichten, weil sie so viel fressen müssen. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?

    Natürlich müssen betroffene Waldbesitzer oder Landwirte bei Fressschäden unbürokratisch, schnell und angemessen entschädigt werden. Außerdem wäre es denkbar, eine schnelle Eingreiftruppe aus Experten zu etablieren, die vor Ort hilft und berät. Bei unseren Projektpartnern in Polen funktioniert das. Letztendlich geht es immer um die Akzeptanz der Wisente in der gesamten Bevölkerung. Und wir sehen zum Beispiel in Polen, dass es möglich ist, die Menschen für den Wisent zu begeistern. Viele Menschen sind stolz, dass diese riesigen Tiere wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Wenn wir das in Deutschland nur ansatzweise schaffen würden, wäre das schon ein großer Schritt.

    Warum stehen bei Wiederansiedlungsprojekten meist besonders imposante Arten wie Wisent oder Luchs im Mittelpunkt? Haben unscheinbarere Arten nicht das gleiche Recht auf Schutz?

    Natürlich hat jede Tierart das gleiche Recht auf Schutz und auf einen geeigneten Lebensraum. Deshalb setzten wir uns beim WWF weltweit in über 160 Projekten für eine Vielzahl bedrohter Arten ein. Es ist aber auch so, dass vom Schutz so genannter Flaggschifftiere wie Wisent oder Luchs auch viele andere bedrohte Arten profitieren. Denn man schützt ja den gesamten Lebensraum. Der Wisent ist das beste Beispiel dafür, dass Artenschutzmaßnahmen erfolgreich sein können. Er war ja hier in Europa in freier Wildbahn schon ausgerottet. Nur durch die intensive europäische Zusammenarbeit und die Zuchtprojekte ist es tatsächlich dazu gekommen, dass wieder über 7.000 freilebende Wisente in Europa leben. Das ist eine tolle Geschichte, die hoffentlich so weiter geht.

    Brauchen wir den Wisent in Deutschland?

    Grundsätzlich ist jede Tierart ein wichtiger Bestandteil des Ökosystems. Und jede Tierart, die zurückkehrt ist ein Mehrwert für Deutschlands Artenvielfalt. Der Wisent ist ein echter Ökosystem-Ingenieur. Er hält Flächen offen, wovon Pflanzen und andere Tiere profitieren. Sein Dung ist übrigens besonders attraktiv für Insekten. Deren Larven sind dann wieder eine Nahrungsquelle für insektenfressende Vögel oder auch kleinere Säugetiere. Insgesamt kann man sagen, dass der Wisent zu einem strukturreichen und vielfältigen Lebensraum beiträgt, in dem auch viele andere seltene Arten wieder Bedingungen vorfinden, die sie zum Überleben benötigen.

    Bleibt die spannende Frage: Wann kehrt die erste Wisentherde aus freien Stücken nach Deutschland zurück?

    Schwer zu sagen. Unser Projektziel ist ja nicht die aktive Wiederansiedlung des Wisents. Wir wollen keine Tiere aussetzen, sondern die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Wisent von allein zurückkommt. Schon 2017 wanderte ein Wisentbulle von Polen nach Deutschland, wo er aber in Brandenburg erschossen wurde. Das sich ein solches Szenario wiederholt, wollen wir natürlich verhindern. Aktuell lebt zum Beispiel eine Herde nur 30 bis 40 Kilometer von Deutschland entfernt. Sollte die Population in Polen weiter wachsen, wird es sicher Wanderungen geben. Wenn es dann so weit ist, wollen wir vorbereitet sein und die richtigen Schritte einleiten, damit es nicht zu Konflikten zwischen Mensch und Tier kommt. Denn dann kann es ganz schnell gehen.

    Mehr Infos zum Projekt: wwf.de/losbonasus

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