Frankreichs neuster Nationalpark: Für Natur, Mensch und Wirtschaft
Der Parc National de Forêts ist ein Modellprojekt, das nachhaltigen Tourismus, Artenschutz und Forschung vereint.
Nur drei Stunden von Paris entfernt schützt Frankreichs 11. Nationalpark ein einzigartiges Tiefland-Laubwald-Ökosystem.
Nach einer 5.600 Kilometer langen Wanderung von der westafrikanischen Küste lässt sich der Schwarzstorch im französischen Parc National de Forêts nieder. Dort baut er, fernab menschlicher Blicke, seine riesigen Nester in zwölf Meter hohen Eichen. Der Vogel ist ein treffliches Emblem für Frankreichs neuesten Nationalpark: Diese geschützte Art repräsentiert nicht nur die biologische Vielfalt dieser moosbewachsenen Wälder, sondern spiegelt mit ihrem unaufdringlichen Habitus auch den Charakter eines Ortes wider, der lange Zeit übersehen wurde.
Die nahegelegenen Weinberge der Champagne und des Burgunds sind Weinliebhabern auf der ganzen Welt ein Begriff. Aber das waldreiche Plateau de Langres – über 240.000 Hektar davon wurden 2019 zum 11. französischen Nationalpark erklärt – hat nur selten Besucher.
Die Kernzone des Parks (hier farblich unterlegt) wird als „Forstlabor“ unberührt bleiben. Der 240.000 Hektar große Park umfasst auch eine „Adhäsionszone“, die den Kern umgibt.
Das könnte sich nun ändern. Mit nur drei Stunden Entfernung von Paris liegt der neue Nationalpark der französischen Hauptstadt so nah wie kein anderer. Obwohl das Gebiet seit den 1950ern mit der Landflucht zu kämpfen hat, enthält die Charta des Parks einen Plan für die lokale wirtschaftliche Entwicklung mit Schwerpunkt auf Ökotourismus und forstwirtschaftliche Forschung.
„Das Label ‚Nationalpark‘ ermöglicht es den Menschen, ihre Sicht auf das Gebiet zu verändern, es aufzuwerten und ihm neuen Bedeutung zu verleihen“, sagt Claire Colliat, die Bürgermeisterin des Dorfes Saint-Loup-sur-Aujon an der Ostgrenze des Parks. Colliat hat sich über die Grassroots-Kampagne ‚Oui au Parc‘ für die Schaffung des Parks eingesetzt. „Die Bewohner sind sich jetzt seines unglaublichen Reichtums und seiner natürlichen, kulturellen und menschlichen Ressourcen bewusst.“
Tatsächlich ist der Parc National de Forêts ein Beispiel dafür, wie man heutzutage neue Nationalparks etablieren kann. Es war ein jahrzehntelanger politischer Prozess von Verhandlungen mit Bauern, Jägern, Stadträten und lokalen gemeinnützigen Organisationen. Und das lief nicht ohne Widerstand ab.
Die Wurzeln eines Ökosystems
In Europa gibt es um die 460 Nationalparks. Jedes Land hat sein eigenes einzigartiges Parksystem entwickelt, aber sie alle bauen auf einer Naturschutztradition aus den USA auf, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Schweden, der Schweiz und Spanien übernommen wurde.
Frankreichs erster Nationalpark, Vanoise, wurde 1963 gegründet. Heute sind 10 Prozent des französischen Festlandes als Nationalpark geschützt. Diese Parks sind kostenlos für die Öffentlichkeit zugänglich und verdrängen die ursprünglichen Bewohner der Region nicht. Stattdessen umgibt eine „Adhäsionszone“ aus Dörfern und Gemeinden, die die Werte des Naturschutzes hochhalten, den Kernbereich des Parks.
Der Parc National de Forêts bietet Lebensraum für viele seltene und geschützte Arten, darunter den Schwarzstorch.
2007 beschloss ein nationaler runder Tisch für Umweltfragen einen Plan zur Erstellung neuer Parks. In der Auswahl standen Gebiete, die repräsentativ für die charakteristischen Ökosysteme des Landes sind. Nach einer zweijährigen, landesweiten Suche entschied sich das französische Umweltministerium für den künftigen Parc National de Forêts, um den Tiefland-Laubwald zu schützen.
„Der Wald steht hier schon seit dem Mittelalter“, sagt Sylvain Boulangeot, Präsident eines lokalen Tourismusbüros und Leiter der gemeinnützigen Maison de la Forêt, die Orchideenwanderungen und Baumklettertouren anbietet. „Das liegt daran, dass das Gebiet nicht vollständig von der Landwirtschaft übernommen wurde, weil der Boden so felsig ist. Der Kalkstein zwingt die Bäume dazu, langsam zu wachsen. Deshalb sind die Stämme dieser 200 Jahre alten Eichen nicht dick, aber das starke Holz wird von Fassbindern sehr geschätzt.“
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Diese Bäume bilden die Anker des Ökosystems und bieten Lebensraum für Vögel, Fledermäuse, Insekten und Pilze. Diverse berühmte Naturforscher haben im Laufe der Geschichte auf diesem Plateau geforscht. Nun soll der Nationalpark mit seinen 50 Millionen Bäumen zu einem europäischen Zentrum für Waldstudien werden. Sein Kernschutzgebiet ist das zweitgrößte des Kontinents und wird völlig unberührt bleiben – ein Labor für die Erforschung der Artenvielfalt und der Anpassung an den Klimawandel.
„Weil es hier historisch gesehen keine Landwirtschaft im großen Maßstab gab, blieb die Artenvielfalt erhalten“, erklärt Marion Delforge, die Park-Managerin für nachhaltige Entwicklung.
Ein Paradebeispiel dafür ist Marais Tuffeaux, ein einzigartiger Komplex von Sumpf-Mikrohabitaten auf Kalksteinschichten, der in der letzten Eiszeit entstand. In diesen Sümpfen wachsen auch Pflanzen, die normalerweise in den Hochalpen zu finden sind, zum Beispiel Alpen-Leinkraut und Lungen-Enzian. Viele dieser Pflanzen wurden von den Bewohnern jahrhundertelang als Heilpflanzen genutzt.
Aber der Star des Parks ist eine seltene, spektakuläre Orchideengattung: Paphiopedilum, der Venusschuh (frz.: sabot de Vénus). In seinem gleichnamigen Restaurant in Bure-les-Templiers präsentiert Chefkoch Arole Dupaty die essbaren Köstlichkeiten der Gegend, von gesammelten Kräutern und Forellen aus lokaler Zucht bis hin zu glasierten Karotten mit Honig aus den Bienenstöcken des Restaurants. Nicht auf der Speisekarte: die geschützte Orchidee selbst. Die Strafe für das Pflücken beträgt bis zu 15.000 Euro.
Dupaty – dessen Restaurant auch Trüffelsuchen, Catering und Gästeunterkünfte anbietet – ist nur ein Beispiel dafür, wie die Einheimischen im Einklang mit der Naturschutzmission des Parks leben.
Der Faktor Mensch
Während der Verhandlungen über den Park traf Delforge mit etwa 60 Bauern zusammen. Trotz anfänglicher Widerstände verstand die landwirtschaftliche Gemeinschaft am Ende das Ziel des Parks: eine nachhaltige Landbewirtschaftung. Bis Juli 2020 hatten 95 verschiedene Städte dafür gestimmt, Teil des Parks zu werden.
„Bei der Schaffung eines Nationalparks gibt es jetzt eine andere Mentalität“, sagt Delforge. „[Wir] arbeiten eng mit lokalen Akteuren zusammen, die im Naturschutz aktiv sind oder respektvolle landwirtschaftliche Praktiken anwenden.“
Das malerische Châtillon-sur-Seine im Burgund ist die größte Stadt des Parks.
Die Menschheit ist in diesem Gebiet seit der Jungsteinzeit präsent. Im Jahr 1953 haben Archäologen die spektakuläre Fürstliche Grabstätte von Vix aus der Eisenzeit ausgegraben. Besucher können den Schatz von Vix – darunter die größte Bronzevase der Epoche – in einem eigens dafür eingerichteten Museum in Châtillon-sur-Seine besichtigen, der größten Stadt des Nationalparks.
Heute teilen eine Vielzahl von Unternehmern ihre Liebe zu diesem Land in Form ökotouristischer Aktivitäten. Florence Guerin eröffnete eine Waldtherapie-Praxis in Recey-sur-Ource. Die Imkerin und Yogalehrerin Annette Dulion leitet Yogastunden zum Klang der summenden Bienen in Busseaut. Michel Vuillermet und seine Frau Esther betreiben Donkey'âne. Auf dem Bauernhof können Besucher an Eselswanderungen teilnehmen – und auf eigene Faust mehrtägige Camping-Ausflüge unternehmen.
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„Uns Einheimischen war der natürliche Reichtum der Gegend nicht unbedingt bewusst“, sagt Nathalie Pierre, die ein Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert in die elegante Unterkunft La Villa 1892 verwandelte. „Jetzt wirft der Nationalpark ein anderes Licht auf die Gegend. Neue Arbeitsplätze werden die jungen Menschen hoffentlich hier halten, und ich denke, dass auch Unternehmer von außen ein Motor für die lokale Entwicklung sein werden.“
Mathieu Bouchard ist ein solcher Unternehmer. Der ehemalige Bäcker aus Dijon zog nach Rochefort-sur-Brévon und eröffnete mit seiner Frau ein Bed-and-Breakfast. „Es ist eine unglaubliche Gelegenheit, in einem Nationalpark zu leben“, sagt er. „Der Wald ist mein zweites Zuhause. Ich gehe dorthin, um nachzudenken. Und die sternenklaren Nächte ohne viel Lichtverschmutzung sind atemberaubend.“
„Das ist das neue Eldorado“, findet Fabian Ansault. Der Künstler betreibt das Les Z'uns possible, ein Museum und Café mit einem ‚Kuriositätenkabinett‘ am Ufer der Seine.
Obwohl der Tourismus aufgrund der Coronavirus-Pandemie nur langsam Fahrt aufnimmt, sorgt der neue Nationalpark in der Region für Optimismus und Energie.
„In einem Jahrzehnt haben sich hier hoffentlich neue Familien niedergelassen und neue Geschäfte und Erlebnismöglichkeiten etabliert“, sagt Claire Colliat. „Ich hoffe, dass wir Generationen von Kindern und ihren Eltern willkommen heißen werden, damit sie die einzigartige Erfahrung machen können, den Wald zu entdecken und zu verstehen, wie unsere Zukunft und der Respekt für unsere Umwelt zusammenhängen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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