Nach dem Fichtensterben: Kann der Wald sich selbst heilen?

Vier von fünf Bäumen in Deutschland sind krank. Naturnahe Mischwälder sollen die Waldwende einläuten. Wie könnte der Wald der Zukunft aussehen? Und wie stark muss der Mensch dabei eingreifen?

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 3. Jan. 2024, 10:23 MEZ
Natürliche Waldverjüngung am Lusen im Bayerischen Wald. Vor rund 25 Jahren waren dort nahezu alle Fichten ...

Natürliche Waldverjüngung am Lusen im Bayerischen Wald. Vor rund 25 Jahren waren dort nahezu alle Fichten abgestorben. Die toten Bäume sind noch gut zu erkennen. 

Foto von Elke Ohland/Nationalpark Bayerischer Wald

Mitte der 1990er-Jahre sorgten Meldungen aus dem Bayerischen Wald bundesweit für Aufsehen: Abgestorbene Fichten, soweit das Auge reicht. Ausgerechnet in Deutschlands ältestem Nationalpark war die dort vorherrschende Baumart großflächig abgestorben. Gut die Hälfte des knapp 25.000 Hektar großen Areals fiel dem Buchdrucker zum Opfer – einem Insekt aus der Familie der Borkenkäfer. Außergewöhnliche Hitzeperioden hatten die Bäume so sehr geschwächt, dass der Käfer leichtes Spiel hatte.

Hektar um Hektar fraß er sich durch den alten Bergfichtenwald – bis nur noch kahle Baumgerippe übrig blieben. Allein am Lusen, einem der höchsten Berge im Bayerischen Wald, gingen 6.000 Hektar Wald verloren. Vom 1.373 Meter hohen Gipfel bot sich ein Ausblick des Schreckens. Kaum vorstellbar, dass sich dieser eigentlich streng geschützte Wald jemals erholen würde.

„Natur Natur sein lassen“, lautet das Motto im Nationalpark Bayerischer Wald. Deshalb entschied sich die Parkverwaltung dazu, nicht in das natürliche Geschehen einzugreifen. Bald entbrannten hitzige Diskussionen bei Besuchern und Einheimischen: Kann hier ohne menschliche Hilfe überhaupt ein neuer Wald entstehen?

Heute, rund 25 Jahre später, zeigt sich vielen ein erstaunliches Bild. Der Fichtenbestand am Lusen hat sich auf natürliche Weise verjüngt. Auch wenn lichte Stellen darauf hinweisen, welche Wunden hier damals gerissen wurden: Der Wald hat sich von allein erholt.

Neues Leben am selben Ort: So haben sich die Fichten am Lusen innerhalb von rund 15 Jahren entwickelt.

Foto von Nationalpark Bayerischer Wald

Fast alle Baumkronen sind geschädigt

In weiten Teilen Deutschlands sieht es derzeit so aus wie damals am Lusen. Die Fichtenwälder sind großflächig abgestorben. Der Borkenkäfer hat ganze Arbeit geleistet. Hitze, Trockenheit, Stürme und Brände haben aber auch andere Baumarten schwer geschädigt. 

Vier von fünf Bäumen sind krank. Bei allen heimischen Arten ist ein Großteil der Baumkronen geschädigt. Das geht aus dem aktuellen Waldzustandsbericht 2022 der Bundesregierung hervor. „Der Wald ist ein Patient, der unsere Hilfe braucht“, sagt Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. „Unser wertvolles Ökosystem leidet unter den Folgen der Klimakrise.“ 

Naturnahe Mischwälder statt anfälliger Fichtenmonokulturen: Auf diese Weise soll das Ökosystem genesen. Der Waldumbau drängt. Doch wie stark sollte die Forstwirtschaft sich dabei einmischen? Ist es sinnvoll, kahle Flächen im Wald möglichst rasch neu zu bepflanzen? Oder wird der Wald schneller gesund, wenn sich der Mensch bewusst zurückhält und die Natur machen lässt.

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    Monotone Fichtenplantagen statt urwüchsiger Wälder

    Nachfrage bei Jörg Müller. Er ist Professor für Tierökologie an der Universität Würzburg und stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald. Dort leitet er das Sachgebiet für Naturschutz und Forschung. Müller ist überzeugt: Aus ökologischer Sicht war es die richtige Entscheidung, nach dem Fichtensterben am Lusen auf die Selbstheilungskräfte der Natur zu setzen. Heute sei der Wald dort deutlich struktur- und artenreicher. 

    Der Grund: Vor dem verheerenden Borkenkäferbefall war der Wald am Lusen keineswegs so, wie man sich ein urwüchsiges Schutzgebiet vorstellt. Vielerorts standen dort gleichaltrige Fichtenplantagen. Der Mensch hatte sie dort vor gut 100 Jahren gepflanzt, um möglichst hohe fortwirtschaftliche Erträge einfahren zu können – lange bevor der Nationalpark gegründet wurde.

    Zwar ist die Bergfichte am Lusen von Natur aus heimisch. Zum Problem wurde aber die monotone Struktur des Waldes. Müller erklärt: „Der Wald wird immer dann anfällig, wenn er aus wenigen Baumarten besteht und die Bäume nahezu gleich alt sind.“ 

    Der Borkenkäfer als Landschaftsgestalter 

    Der Buchdrucker befalle am liebsten ältere, bereits geschwächte Bäume. Und nach Müllers Worten hatte der Fichtenforst am Lusen diesen Zustand in den 1990er-Jahren erreicht. „Nie zuvor gab es so viel reife, fressbare Fichten“, betont der Forstwissenschaftler. Das Waldsterben am Lusen war letztlich menschengemacht. Der Mensch bereitete dem Buchdrucker einen gedeckten Tisch.

    Nach der Zerstörung begann der Wiederaufbau. Und der Borkenkäfer spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dort, wo vor 25 Jahren noch gleichalte Fichten dicht gedrängt den Boden verdunkelten, gibt es plötzlich deutlich mehr Licht und Raum für andere Pflanzenarten. Das verbliebene Totholz entwickelt sich zum Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten. Aber auch die Fichte profitiert. Mit der Zeit entsteht ein altersgemischter, strukturreicher und damit widerstandsfähiger Fichtenbestand.

    Müller geht davon aus, dass der neue Wald deutlich robuster sein wird: „Wenn in etwa 50 Jahren die ersten Fichten wieder gut fressbar für den Buchdrucker sind, dann sind es eben nur einzelne Bäume.“ Ausgerechnet der Forstschädling Nummer 1 kann damit „als Landschaftsgestalter“ maßgeblich zur naturnahen Waldverjüngung beitragen. „Der Buchdrucker ist nicht der Feind der Fichte“, unterstreicht Müller. „Er ist der Feind der Forstwirtschaft.“ 

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    Natürlicher Waldumbau: Vom Lusen lernen

    Was also können andere vom Waldsterben betroffene Gebiete von den Erfahrungen im Bayerischen Wald lernen? Vermutlich eine Menge. Tatsächlich sind Nationalparks ökologische Lernorte. Als Forschungslabore in der Natur haben sie eine wissenschaftliche Aufgabe. Hier werden Daten gesammelt, ausgewertet und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. 

    „Unsere Ergebnisse gelten für bodensaure Mittelgebirgslandschaften“, sagt der Ökologe. „Sie sind zum Beispiel übertragbar auf den Harz oder Schwarzwald.“ Dennoch: Auch Müller betont, dass sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Bayerischen Wald in dieser Konsequenz nicht ohne weiteres woanders umsetzen lassen. Zu unterschiedlich sind die lokalen Begebenheiten und Interessen. Auch weil der Wald außerhalb eines Nationalparks viel mehr sein muss als bloße Natur. Er ist zum Beispiel ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und Holz ein wichtiger Rohstoff. Hunderttausende Arbeitsplätze hängen in Deutschland an der Fortwirtschaft.

    Inwiefern sich ein geschundener Wald selbst erholen kann oder ob er menschliche Unterstützung braucht, hängt also nicht nur von ökologischen Fragen ab, sondern ebenso sehr von ökonomischen Interessen. Aus wirtschaftlicher Sicht stellt sich nicht zuletzt die Frage, ob man der Natur die nötige Zeit geben kann und will. Selbst bei schnell wachsenden Arten wie der Birke braucht es Jahrzehnte, bis man mit forstwirtschaftlichen Einnahmen rechnen kann.

    Forstwirtschaftler Jörg Müller setzt im Nationalpark Bayerischer Wald auf die Selbstheilungskraft der Natur.

    Foto von Nationalpark Bayerischer Wald/Daniela Blöchinger

    Die Zukunft des deutschen Waldes

    Um einen widerstandsfähigen Zukunftswald zu entwickeln, setzt man nun vielerorts auf heimische, standortangepasste Baumarten. Vermehrt geraten auch hitzeresistentere Arten wie Speierling oder Elsbeere in den Blick. Doch niemand weiß, ob sich diese Arten auch in 50 Jahren bewährt haben werden. 

    „Man darf nicht naiv sein und glauben, dass ein artenreicher Mischwald von allein wächst, wenn dort vorher eine 200 Hektar große Fichtenplantage stand“, unterstreicht Müller. Sicher scheint nur eins: Im Zuge des Klimawandels wird es stressiger für die Bäume – und damit auch für Flora, Fauna und Fortwirtschaft.

    Für Müller steht fest: „Wir brauchen gemischte und strukturreiche Wälder, um die Störungsanfälligkeit zu minimieren.“ Aus ökologischer Sicht heißt das idealerweise: Dichte und lückige Bereiche wechseln sich ab, alte Bäume stehen neben jungen, dicke neben dünnen, hohe neben niedrigen. Wo einst nur eine einzige Baumart stand, wachsen unterschiedlichste Pflanzen. Eigentlich klingt es so einfach. Müller indes weiß: „Der Waldumbau ist eine hochkomplexe Sache.“ 

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