Weniger Fledermäuse, mehr Pestizide – höhere Sterberate bei Säuglingen?
Diese Kleine Braune Fledermaus (Myotis lucifugus) hat im Nasenbereich weiße Büschel – ein deutliches Zeichen, dass sie am Weißnasen-Syndrom erkrankt ist.
Störungen von Ökosystemen haben weitreichende Folgen. Invasive Arten, eingeschleppte Krankheiten oder das Verschwinden wichtiger Spezies bringen das fein abgestimmte Gefüge aus dem Gleichgewicht. Das kann zu einer Kettenreaktion führen, deren Effekte an unerwarteten Stellen sichtbar werden. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert die Studie des Umweltökonomen Eyal Frank von der University of Chicago, die in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde.
Sie betrachtet die Verbreitung des Weißnasen-Syndroms (WNS) unter Fledermäusen in Nordamerika und stellt eine Verbindung zu steigenden Säuglingssterberaten her. Grundlage für seine Analyse ist der Ansatz des „natürlichen Experiments“. Bei diesem teilen sich Experimental- und Kontrollgruppe sozusagen von selbst, ohne Eingreifen der Forschenden, auf natürliche, unkontrollierbare Weise ein. Im Fall der Studie besteht die Experimentalgruppe aus Regionen, in denen WNS verbreitet ist, und die Kontrollgruppe aus Regionen ohne WNS.
Weißnasen-Syndrom: Gefahr für Fledermäuse
Das WNS wird durch einen Pilz namens Pseudogymnoascus destructans ausgelöst. Erkennen kann man die Infektion an weißlichen Büscheln, die im Nasenbereich einer betroffenen Fledermaus wachsen. An WNS erkrankte Tiere erwachen oft vorzeitig aus ihrem Winterschlaf und verbrauchen all ihre Energiereserven, um sich warm zu halten und Nahrung zu suchen, die zu dieser Jahreszeit nicht vorhanden ist. Im Durchschnitt überleben 73 Prozent der infizierten Tiere den Winter nicht.
In Europa ist Pseudogymnoascus destructans schon lange verbreitet. Darum besteht bei den hiesigen Fledermauspopulationen eine Immunität. Diese fehlt den Tieren in Nordamerika. In die USA eingeschleppt wurden die Sporen des Pilzes Frank zufolge wahrscheinlich an den Schuhen von Wandernden. Erste Fälle von WNS wurden im Jahr 2006 in Albany, New York, registriert, seitdem breitet sich die Krankheit vor allem im Osten der USA aus. Aufgrund der hohen Sterberate kann der Pilz eine Fledermauspopulation rein rechnerisch innerhalb von fünf bis sechs Jahren ausrotten.
Weniger Verbündete bei der Schädlingsbekämpfung
Doch wie die Studie zeigt, leiden unter der eingeschleppten Krankheit nicht nur Fledermäuse, sondern auch Landwirte. Insektenfressende Fledermäuse verspeisen pro Jagdnacht Biomasse in Höhe von 40 Prozent ihres Körpergewichts. Unter den Beutetieren sind auch viele Pflanzenschädlinge. In Regionen, in denen sich das WNS in Fledermauspopulationen verbreitet hat, bricht diese natürliche Form der Schädlingsbekämpfung ein.
Die Folge: Landwirte müssen mehr Pestizide einsetzen, um Ernteausfälle zu verhindern. Laut Franks Analyse waren die Pestizidmengen in Gebieten, in denen das WNS ausgebrochen ist, um 31 Prozent höher als in Regionen ohne WNS-Fälle. Die Einnahmen aus landwirtschaftlichen Erträgen sanken um 29 Prozent. Zwischen den Jahren 2006 und 2017 summierten sich entgangene Einnahmen und Kosten für zusätzliche Pestizide der Studie zufolge auf 27 Milliarden Dollar.
Pestizide bedrohen das Leben von Säuglingen
Schwerer als die finanziellen Einbußen dürfte aber eine andere Beobachtung wiegen, die Frank gemacht hat. Er stellte fest, dass in Regionen mit WNS die Säuglingssterblichkeitsrate – nachdem Ursachen wie Tötungsdelikte und Unfälle aus der Statistik herausgerechnet wurden – durchschnittlich um acht Prozent höher war als dort, wo sich die Krankheit noch nicht verbreitet hatte. Er bringt dies mit dem höheren Einsatz von Pestiziden in Zusammenhang: Im Schnitt entsprach jede Steigerung der eingesetzten Giftmenge um ein Prozent einem Anstieg der Säuglingssterblichkeit um 0,25 Prozent.
Galerie: Faszinierende Flatterer – Flughunde & Fledermäuse
Dass dies kein Zufall ist und tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht, macht Frank daran fest, dass die Entwicklungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Regionen gestaffelt auftraten. Heißt: Immer dann, wenn sich an einem Ort das WNS in Fledermauspopulationen ausbreitete, stieg bald darauf die eingesetzte Pestizidmenge und dann die Säuglingssterblichkeitsrate.
Die Studie legt nahe, dass sich WNS-Regionen in einem Teufelskreis befinden. „Interessanterweise wird vermutet, dass Pestizide das Immunsystem der Fledermäuse schwächen und so das Weißnasen-Syndrom verstärken“, sagt Carsten Brühl, Umweltwissenschaftler an der TU Kaiserslautern-Landau, der nicht an der Studie mitgearbeitet hat. „Dadurch könnte der vermehrte Einsatz von Insektiziden die Verbreitung der Krankheit und den Rückgang der Fledermauspopulationen beschleunigen.“
Datenlage in Deutschland zu dünn
Zu Eyal Franks Studie gibt es in der Wissenschaftsgemeinde unterschiedliche Meinungen. Julia Mink, Umweltökonomin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, bewertet die Arbeit aber als äußerst positiv – unter anderem, weil bisher nur wenige Studien zu den gesundheitlichen Folgen der Pestizidbelastung in der Bevölkerung durchgeführt wurden.
„Unser Wissen über die Toxizität von Pestiziden stammt vor allem aus Studien über die Auswirkungen auf Bevölkerungsgruppen, die beruflich mit Pestiziden in Kontakt kommen“, sagt sie. „Die Studie bestätigt die Ergebnisse einiger der wenigen Studien über eine höhere Kindersterblichkeit.“
Ob sich die Erkenntnisse aus der Studie auch auf Deutschland übertragen lassen, ist unklar. Laut Carsten Brühl fehlen hierzulande trotz langjähriger Forderungen aus der Wissenschaft genaue Daten zum Pestizideinsatz auf Feldern. Für eine ähnliche Exposition, so Julia Mink, seien in Deutschland aber sehr wohl ähnliche Effekte zu erwarten.