Personal Space: Warum unsere Distanzzone so wichtig ist

Unser Gehirn erzeugt einen unsichtbaren Raum, um uns zu schützen.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 8. März 2018, 11:49 MEZ
Justin Trudeau und Donald Trump
Früher glaubte man, dass mächtige Persönlichkeiten wie der kanadische Premierminister Justin Trudeau und der Präsident Donald Trump eine größere Distanzzone hätten als andere Menschen.
Foto von Chip Somodevilla, Getty Images

Der Begriff der persönlichen Distanz oder Distanzzone (eng. personal space) ist in der Soziologie schon länger vertreten, in der Psychologie aber vergleichsweise neu. „So etwas gibt es wirklich“, sagt der Neurowissenschaftler Michael Graziano über die Distanzzone. „Das Gehirn berechnet eine Pufferzone um den Körper.“ Diese „zweite Haut“ ist in unserer DNA kodiert.

An der Universität Princeton unterhielt sich National Geographic mit Graziano über dessen neues Buch „The Spaces Between Us“. Er erklärt, warum Donald Trump so ein ungewöhnliches Verständnis von Distanzzonen zu haben scheint, warum wir ohne unsere zweite Haut keine Werkzeuge benutzen könnten und wie seine eigene Familie lernte, dass ein mangelndes Verständnis für Distanzzonen unangenehme Konsequenzen haben kann.

Foto von Oxford University Press

In den Nachrichten hörte man oft von Männern, die Frauen unsittlich berühren oder in ihre Distanzzone eindringen. Was sagt die Neurowissenschaft zu diesem Thema?

Nicht nur die Neurowissenschaft. Die Psychologie der Distanzzonen oder des „peripersonalen Raums“, wie man ihn auch nennt, sagt uns, dass es so etwas wirklich gibt. Das Gehirn berechnet eine Pufferzone um den Körper, die sehr flexibel ist. Sie verändert je nach Kontext ihre Größe und wird größtenteils unterbewusst berechnet.

Wir können gar nicht anders. Das ist Teil unseres Gerüsts für soziale Interaktionen, auf dem alle unsere gesellschaftlichen Handlungen aufbauen. Das beeinflusst sehr stark, wie wir aufeinander reagieren, einander verstehen und was wir voneinander halten.

Wenn wir darüber reden, dass jemand eine andere Person unsittlich berührt, dann ist das ein ungeheures Eindringen in die persönliche Distanzzone. Es sind relativ besondere soziale Umstände nötig, damit man sich mit der Berührung eines anderen wohl fühlt. Selbst, wenn man einfach nur zu nah an eine andere Person herangeht, kann das schon ein Eindringen in die Distanzzone sein. Das wirkt sich sehr deutlich auf Menschen aus.

Diese unsichtbare zweite Haut dient vornehmlich dem Schutz. Sie erfüllt aber zahlreiche Funktionen. Das kann etwas so Einfaches wie der Schutz vor tatsächlichen körperlichen Gefahren wie einem Raubtier sein. Man hat das in den 1950ern das erste Mal untersucht – mit Tieren, die eine Distanzzone oder eine „Fluchtzone“ haben, die sie berechnen, um sich vor Raubtieren zu schützen.

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    Diese Zone kann uns auch ganz einfach vor den Gegenständen schützen, denen wir tagtäglich begegnen, beispielsweise wenn wir durch eine Tür laufen, ohne uns an der Schulter zu stoßen. Darüber denken wir gar nicht nach, weil wir ein System haben, das die Position von Objekten unterbewusst überwacht und unsere Bewegungen anpasst. Bei Menschen und Tieren gibt es zudem noch diese große soziale Komponente, die dazu dient, einen Puffer zwischen Individuen aufrechtzuerhalten.

    Man nimmt für gewöhnlich an, dass dominante Individuen eine größere Distanzzone haben. Erzählen Sie uns etwas über die „30-Foot-Rule“ (dt. 9-Meter-Regel) und darüber, warum der derzeitige Präsident im Weißen Haus sich nicht daran zu halten scheint.

    Die Vorstellung, dass dominante Individuen eine größere Distanzzone haben, ist vermutlich eine Fehlannahme. Die 30-Foot-Rule von Präsident Kennedy taucht in einem Buch von Edward Hall aus den 60ern auf, in dem es um die individuelle Distanzzone ging. Hall beschrieb, wie Kennedy immer von Menschenmassen umgeben war, es aber gleichzeitig immer eine Blase um ihn herum gab. Die war etwa neun Meter groß und nur wenige Leute durften hinein. Das war aber vermutlich nicht seine persönliche Distanzzone, sondern eher die nervöse, neun Meter große Distanzzone all der Leute in seiner Nähe. Sie hielten diesen Abstand ein.

    Trump ist insgesamt ziemlich körperlich und grapschig. [Lacht] Wenn man ihn in der Gegenwart von Würdenträgern sieht, fühlt er sich sehr wohl damit, die Hände anderer Leute zu greifen oder einen Arm um sie zu legen. Das ist ein Typ mit einer sehr kleinen defensiven Blase. Er lässt sich von anderen Leuten nicht einschüchtern.

    Das ist ganz klassisch. Die Vorstellung, dass Männer von höherem Status oder Alphamännchen eine größere Distanzzone hätten, ist falsch. Es ist eher so, dass alle anderen einen größeren Abstand zu der Person halten.

    Einige Ihrer wichtigsten Entdeckungen über die Distanzzone haben Sie mit Hilfe eines Roboters, Tischtennisbällen und eines Affen gemacht. Wie sahen diese frühen Experimente aus – und wie landeten sie am Ende im Magazin „Glamour“?

    Vermutlich der Höhepunkt meiner Karriere! [Lacht] Ich hatte damit angefangen, Neuronen und deren Eigenschaften im Gehirn von Primaten bzw. Affen zu untersuchen. Man misst dabei die Aktivität eines einzelnen Neurons und hört zu, wie es Ping oder Klick macht, während sich Dinge um den Affen herumbewegen.

    Wir waren Detektive und versuchten herauszufinden, was jedes einzelne Neuron zum Singen brachte. Welches Ereignis nahm es wahr? Wir stolperten ganz zufällig über jene Neuronen, die reagierten, wenn sich ein Objekt in der Nähe des Körpers aufhält oder die Haut berührt. Sie hatten eine sehr spezifische Funktion. Ein Neuron könnte ganz spezifisch für die linke Gesichtsseite zuständig sein, ein anderes für den rechten Unterarm. Wenn man die Sicht des Affen blockierte, reagierte das Neuron, wenn man seine Haut ganz leicht berührte. Wenn man sein Fell berührte, drehte das Neuron völlig durch und feuerte mit dieser extrem hohen Rate von 200 Mal pro Sekunde, wie ein Maschinengewehr.

    Wir hatten Roboter, die Tischtennisbälle um den Affen herumbewegten. Wenn sich ein Objekt dem Tier näherte, feuerte das Neuron mit einer hohen Rate Signale ab und vermittelte dem Affen: „Da ist etwas.“ Wenn wir das Licht ausmachten – es war dann völlig dunkel –, feuerte das Neuron trotzdem weiter und schrie dem Affen quasi zu: „Das Objekt ist noch immer da! Du kannst es nicht sehen, aber es ist noch da!“

    Irgendwann spekulierten wir mal darüber, dass dieser Mechanismus nützlich wäre, wenn man wissen will, wo sich die Lippen des Partners im Dunkeln befinden. Und daraus wurde dann ein Artikel in der „Glamour“: „Princeton-Wissenschaftler haben herausgefunden, wie man die Lippen seines Partners im Dunkeln finden kann.“ [Lacht]

    Unser Gehirn bezieht alles, was wir festhalten – wie das Werkzeug dieses Schweißers –, in unsere Distanzzone ein.
    Foto von Andrey Rudakov, Bloomberg, Getty Images, Getty Images

    Sie deuten an, dass wir ohne die Fähigkeit des Gehirns, diesen peripersonalen Raum zu berechnen, keine Werkzeuge benutzen könnten.

    Eine der praktischsten Funktionen des peripersonalen Raums besteht darin, dass wir diesen Sicherheitsabstand auf Objekte ausweiten, die wir in der Hand halten. Wenn man zum Essen eine Gabel benutzt, braucht man ein Gefühl für den Raum im Umkreis dieser Gabel, damit man nirgends gegenstößt oder reinsticht.

    Das war vermutlich auch für die Evolution des Werkzeuggebrauchs von essentieller Bedeutung. Menschen haben einen ausgeklügelten Gebrauch von Steinwerkzeugen erlernt. Auch andere Tiere haben einen persönlichen, anpassungsfähigen Raum. Man kann einem Affen beibringen, ein Werkzeug zu benutzen, und dann neurologisch aufzeigen, dass der Mechanismus für die Distanzzone das Werkzeug miteinbezieht. Ich behaupte nicht, dass die Distanzzone für die Verwendung von Werkzeugen verantwortlich war. Da gibt es noch viele andere Faktoren. Aber ohne den Mechanismus für die Distanzzone wäre die Nutzung von Werkzeugen wahrscheinlich nicht möglich gewesen.

    Das Lächeln hat sich ursprünglich als Verteidigungsmechanismus entwickelt und wird beispielsweise benutzt, wenn die persönliche Distanzzone verletzt wurde.
    Foto von Raphael Gaillarde, Gamma-Rapho, Getty Images

    Das Lächeln der Mona Lisa verzaubert uns seit über 500 Jahren. Sie sagen allerdings, dass Lächeln genau wie Tränen und Lachen letzten Endes nur Abwehrreaktionen sind. Was meinen Sie damit?

    Von allen Gesichtsausdrücken ist das Lächeln am besten untersucht. Aber nicht nur Menschen lächeln – das Verhalten ist auch in der Welt der Primaten weit verbreitet. Es ist ein Verhalten, das eine Nichtangriffsabsicht signalisiert. Die Oberlippe wird hochgezogen, die Augen verengen sich, der Kopf wird eingezogen und der Oberkörper gebeugt. Das ist ein ganzes Set an defensiven Verhaltensweisen.

    Weinen und Lachen sind sich sehr ähnlich. Man kann sie sogar verwechseln. Lachen scheint in seiner ursprünglichsten Form Teil des spielerischen Kampfs zu sein. Wenn man Kinder kitzelt, dann lachen sie. Das gehört zum spielerischen Kampf. Aber auch ein spielerischer Kampf ist ein Kampf. Man dringt in den peripersonalen Raum eines anderen ein. Die natürliche Reaktion ist defensives Verhalten: hochgezogene Lippen, verengte Augen und sogar Tränen, der Schutz der Augen und so weiter. Das sind alles natürliche Reaktionen während eines Kampfes oder einer anderen Situation, in der jemand in den peripersonalen Raum eindringt.

    Nachdem Sie die Distanzzone im Labor untersucht haben, kam es dazu, dass sie auch ganz persönlich von der Thematik betroffen waren. Erzählen Sie uns von der Dyspraxie Ihres Sohnes – und wie sie das bestätigte, was Sie als Wissenschaftler herausgefunden hatten.

    Mein Sohn leidet an Dyspraxie, die überraschend verbreitet ist. Ungefähr eins von 20 Kindern ist davon betroffen. Sie haben keine volle Kontrolle über ihre Koordination in Bezug auf ihre Umwelt. Manche Menschen beschreiben es so, dass sie genau wissen, was sie tun wollen, aber Probleme dabei haben, es koordiniert umzusetzen.

    Es gibt viele verschiedene Ausprägungen von Dyspraxie, aber im Fall meines Sohnes schien es mehr mit seinem peripersonalem Raum zu tun zu haben – mit seinem Verständnis von Gegenständen in der unmittelbaren Umgebung seines Körpers und wie er mit ihnen interagieren soll. Er hatte eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. Er lief oft gegen Dinge. Es fiel ihm schwer zu lernen, wie man einen Stift hält.

    Es hat uns richtig schockiert, was für ein großer Teil unseres ganz normalen Alltags auf unserer Distanzzone aufbaut. Wenn man keine klare Vorstellung von dem Raum um sich herum hat, läuft man nicht einfach nur gegen Dinge oder hat Probleme damit, den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen. Man hat Probleme mit Mathe, weil man nicht richtig zeigen kann. Das Erste, was man in der Schule lernt, ist das Zeigen und Zählen für Mathe. Man kann auch nicht gut lesen, weil man Probleme damit hat zu verstehen, wo sich das Buch und die Worte in Relation zu einem selbst befinden.

    Aber die sozialen Auswirkungen haben uns am meisten schockiert. Er lehnte sich an Leute oder lief in sie rein, stand zu nah bei ihnen oder drängte sich zwischen ihnen durch, selbst wenn es keinen Platz gab. Das sind alles Dinge, die Leute unterbewusst stören. Menschen sind sehr gut auf diesen speziellen sozialen Tanz eingestimmt. Wenn da etwas schiefgeht, mögen sie das einfach nicht.

    Seine ganze soziale Welt brach zusammen. Seine Schule wusste nicht, was da nicht stimmte, aber es gefiel ihr nicht und er wurde von der Schule ausgeschlossen. Damals war er sechs Jahre alt, in der ersten Klasse, und sie dachten, er würde andere Schüler sexuell belästigen! Natürlich hatte er überhaupt keine Ahnung, was er da tat. Wir hatten einen Experten nach dem anderen, der sagte: „Er braucht Physiotherapie, er versteht den Raum um seinen Körper herum nicht.“

    Wir hatten einen ganzen Fall vor Gericht deswegen. Das hat mir gezeigt, dass das vermutlich deutlich verbreiteter ist, als wir denken. Die Distanzzone ist so weit unterhalb der Oberfläche, so unterbewusst, dass wir sie die meiste Zeit über gar nicht bemerken. Aber Mann, wenn da was schiefgeht, merkt man das so richtig!

    „Respektiere meine Grenzen“ und „dring nicht in meinen persönlichen Bereich ein“ sind beides Sätze, die wir heutzutage oft hören. Laufen wir Gefahr, dem Konzept des persönlichen Raums zu viel Beachtung zu schenken?

    Nein! Ich denke eher, das Gegenteil ist der Fall! Die Mechanismen der Distanzzone und dieses tiefgehende Unbehagen, wenn darin eingedrungen wird, begleiten uns schon seit einer Zeit vor der Menschwerdung. Heutzutage verbringen wir immer mehr Zeit im Cyberspace, in dem es keine körperliche, persönliche Dimension gibt. Ich vermute, das ist einer der Gründe dafür, warum wir immer mehr Probleme mit sozialen Interaktionen haben. Online ist es so viel einfacher, Beleidigungen von sich zu geben oder unglaublich undiplomatisch oder destruktiv zu sein – wenn man nicht in der Nähe der Distanzzone einer anderen Person ist oder darin eindringt.

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

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