Rom: Das ruinierte Imperium

Wie sich das römische Reich vor den Barbaren zu schützen versuchte – und dennoch unterging.

Von Andrew Curry
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Foto von Robert Clark

Archäologen deuten die Geschichte des Limes neu. Mit einem überraschendem Fazit ...

Claus-Michael Hüssen späht aufmerksam auf die Baumreihe zu seiner Linken. Er sucht nach einer vertrauten Landmarke im Wald. Dann hält er plötzlich sein Auto an, steigt aus, stopft seine Pfeife und entfaltet eine Vermessungskarte. «Hier sind wir richtig», sagt er und läuft los.

Nach etwa 50 Metern bleibt der Forscher der Römisch-Germanischen Kommission (RGK, Teil des Deutschen Archäologischen Instituts) im Unterholz vor einem flachen, etwa einen Meter hohen und sechs Meter breiten Erdwall stehen. Fast hätte er ihn übersehen. Die Erhebung ist mit weißen Steinen bedeckt und verläuft in einer ungewöhnlich geraden Linie.

Vor 2000 Jahren war dies die Grenzlinie, die das Römische Reich vom Rest der Welt trennte. Der flache Wall ist der unscheinbare Überrest einer einzigartigen, ehemals gut drei Meter hohen Mauer, die sich über Hunderte Kilometer erstreckte und von römischen Soldaten in Wachtürmen kontrolliert wurde.

Wissen kompakt: Das Alte Rom
Mehr als ein Jahrtausend lang behauptete sich das Alte Rom als eine Zivilisation, die sich konstant weiterentwickelte. Das gewaltige Reich blühte unter diversen Innovationen auf und integrierte seine vielfältigen eroberten Kulturen. Denn viele Dinge, die heute als typisch römisch gelten, stammen von Völkern, die Rom erobert hat, darunter auch Latein und Gladiatorenkämpfe.

Er war mit Sicherheit ein aufrüttelnder Anblick in dieser gottverlassenen Wildnis, Hunderte Kilometer nördlich des prachtvollen Rom. «Der Wall war verputzt und farbig bemalt», meint Hüssen. «Alles war präzise und im rechten Winkel angelegt. Die Römer hatten offenbar eine genaue Vorstellung, wie ihre Bauwerke aussehen mussten.» Studenten, die einen anderen Limes-Abschnitt vermaßen, stellten auf einer Strecke von 50 Kilometern eine Abweichung von nur 92 Zentimetern von der Geraden fest.

Hüssen schaut nach Norden. 200 Meter entfernt, jenseits einer von Wildschweinen zerwühlten Wiese und eines plätschernden Bachs, erhebt sich der nächste Hügel. «Das ist der weitere Grenzverlauf», sagt der Forscher. «Von der anderen Seite hat man einen wunderbaren Blick auf das – Nichts.»

Was immer die Römer dort einst vorhatten, sie wollten ihr Schicksal keinesfalls dem Zufall überlassen. Die Außengrenzen des Römischen Reichs erstreckten sich über erstaunliche 7700 Kilometer. Sie waren mit Mauern, Wachtürmen und durch Flussläufe gesichert. Auf dem Höhepunkt der römischen Macht bewachten die Soldaten eine Linie, die sich von der Irischen See bis zum Schwarzen Meer, vom Nahen Osten quer durch Nordafrika erstreckte. Teile der Befestigungen sind noch erhalten, in England und in den Niederlanden, in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich, in Kroatien, Rumänien, im Irak, von Syrien bis nach Marokko. Der Hadrianswall in England wurde 1987 zum Unesco-Welterbe erklärt, 2005 auch der 550 Kilometer lange Limes zwischen Rhein und Donau. Denkmalschützer erhoffen sich das auch für Überreste in 16 weiteren Ländern.

BELIEBT

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    Archäologen und Historiker in ganz Europa betrachten die römischen Grenzanlagen inzwischen nicht mehr als Ansammlung einzelner Stätten, sondern in ihrer Gesamtheit. Und sie hoffen, so weitere Antworten auf viele Fragen zu finden: Wurden die Wälle, Palisaden, Mauern angelegt, um das Imperium vor all den Völkern und Stämmen ohne römische Bildung – den Barbaren – zu schützen? Oder sollten sie nur markieren, wo das Reich der Römer begann? Warum grenzten sich die Römer, eine von Eroberung und Expansion besessene Kultur, so martialisch von ihren Nachbarn ab?

    Es sind Fragen, die hochaktuell sind. Die Festlegung und Verteidigung von Grenzen sorgt immer wieder für Debatten. Die hitzigen Diskussionen über die Sicherung der Grenze zwischen den USA und Mexiko und die Truppenkonzentration an der verminten Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea zeigen, dass sich die Probleme der römischen Kaiser im Prinzip auch heute noch stellen. Deshalb ist die Frage, weshalb sich die Römer so intensiv um ihre Grenzen kümmerten und den Untergang ihres Reichs dennoch nicht abwenden konnten, von mehr als nur historischem Interesse.

    Moderne Großmächte können von der Politik der Römer in mehrfacher Hinsicht lernen: Eine Fixierung auf Mauern und Stacheldraht deutet nie darauf hin, dass eine Macht aufsteigt. Starke Staaten haben ihren Einflussbereich seit je ausgedehnt. Amerikanische Politiker sind zu- nehmend in der Vorstellung gefangen, dass sie die Grenze zu Mexiko abriegeln müssen – als die Wirtschaft ihres Landes boomte, war das noch kein Thema. Die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland wurde gebaut, um die DDR zusammenzuhalten und die Bürger an der Ausreise zu hindern – nicht, um Invasoren abzuhalten. Die Geschichte wird womöglich zeigen, dass die heutige Obsession für die Sicherung unserer Grenzen in Wirklichkeit ein Symptom für Unsicherheit ist: der erste Schritt in den Niedergang.

    Für Rom bedeutete jedenfalls die Befestigung seiner Grenzen den Anfang vom Ende. Das Reich war auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt, und die neuen Sicherheitswälle waren Ausdruck dafür, dass es weder den Wunsch noch die Mittel hatte, sich weiter auszudehnen. «Wenn man einmal Barrieren errichtet, ist es nicht mehr so leicht, sich zu bewegen», sagt C. Sebastian Sommer, Chefarchäologe beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in München.

    Etwa vom Jahr 500 v. Chr. an entwickelte sich Rom sechs Jahrhunderte lang kontinuierlich von einem kleinen Stadtstaat in Italien zum größten Reich in der europäischen Geschichte. Die Römer ehrten den Sieg in Gestalt der Göttin Victoria, und politisch konnte nur etwas werden, wer Ruhm auf dem Schlachtfeld erworben hatte. 241 v. Chr. war Italien erobert. Griechenland, Spanien und Nordafrika folgten. Zwischen 50 und 58 v. Chr. kam, sah und siegte Julius Caesar in Gallien, das ungefähr dem heutigen Frankreich und Gebieten bis zum Rhein entsprach. Sein Neffe Octavian übernahm die Macht in Ägypten und drang weit nach Nordeuropa vor. Ein knappes Jahrhundert später, 43 n. Chr., marschierte Kaiser Claudius auf der Britischen Insel ein. Sie war so weit von Rom entfernt, dass sie vielen Menschen dort beinahe als mythischer Ort galt.

    Kaiser Trajan setzte die Expansion fort. Zwischen 101 und 117 führte er Eroberungskriege im heutigen Rumänien, Armenien, Iran und Irak. Er unterdrückte jüdische Revolten in Judäa. Römische Münzen rühmten seine Eroberungen und Triumphe.

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    Als Trajan im Jahre 117 starb, erstreckte sich das Römische Reich vom Persischen Golf bis nach Schottland. Sein Adoptivsohn Publius Aelius Hadrianus, ein 41 Jahre alter Senator in Spanien, selbsternannter Poet und Baumeister, trat Tajans Erbe an. Der neue Imperator erkannte, dass sich das Herrschaftsgebiet in dieser Größe nicht mehr kontrollieren ließ. Andere Politiker und Generäle drängten ihn, in die Fußstapfen seines Adoptivvaters zu treten, doch Hadrian schreckte zurück. «Seine erste Entscheidung war, die neuen Provinzen aufzugeben und so die Verluste zu begrenzen», sagt der englische Archäologe Anthony Birley. «Hadrian war so klug zu erkennen, dass sich sein Vorgänger übernommen hatte.»

    Die Politik des neuen Kaisers missfiel einem Heer, das daran gewöhnt war anzugreifen und zu kämpfen. Schlimmer noch: Sie widersprach dem Selbstverständnis Roms. Das Imperium sah sich dazu berufen, die Welt zu beherrschen. Wie sollte es akzeptieren, dass irgendwelche Gebiete nun außerhalb seiner Reichweite lagen?

    Hadrian war sich womöglich schlicht bewusst geworden, dass Roms unersättlicher Appetit immer weniger Rendite einbrachte. In den einträglichsten Provinzen wie Gallien und in Spanien, wo der Kaiser geboren war, gab es viele Städte und ertragreiche Landwirtschaft. Aber Schottland wie auch der Norden des heutigen Deutschland waren dünn besiedelt. Es gab keine nennenswerten Straßen oder Ansiedlungen und als Produkte allenfalls wilden Honig, Ochsenhäute und Holz.

    «Wirtschaftlich und strategisch war es gewiss richtig, Germanien zu meiden», sagt Michael Meyer, Archäologe an der Freien Universität Berlin. «In der Regel will man gute Ergebnisse bei geringem Aufwand. Im Barbaricum gab es keinerlei Infrastruktur – auf welchen Straßen hätten die Truppen marschieren sollen?»

    Selbst Zeitgenossen Hadrians wussten, dass sich mancher Einsatz einfach nicht lohnte. «Sie hatten bereits die besten Gebiete zu Land und Wasser», notierte der Geschichtsschreiber Appian. «So ging es ihnen darum, ihr Reich durch Umsicht zu bewahren, anstatt ihren Einfluss endlos unbegrenzt auf verarmte und ertraglose Barbarenstämme auszudehnen.»

    Hadrian profitierte davon, dass sein Heer ihm großen Respekt zollte. Zum Kaiser ernannt, ließ sich der ehemalige Soldat einen Bart stehen, wie er bei den Streitkräften üblich war.

    Damit war er als erster römischer Kaiser auch auf offiziellen Porträts zu sehen. Mehr als die Hälfte seiner 21-jährigen Herrschaft verbrachte er in den Provinzen. In dieser Zeit wurden große Gebiete aufgegeben. Das Heer verschanzte sich hinter neuen, zurückverlagerten Grenzen. Wo immer Hadrian war, wurden Mauern errichtet. «Eine klare Botschaft», befindet Birley: «Es wird keine weiteren Eroberungskriege geben.»

    Als der rastlose Hadrian im Jahr 138 starb, war aus dem Netzwerk von Kastellen, Lagern und Straßen eine sich über Tausende Kilometer erstreckende Grenzanlage geworden. «Ein in befestigten Stellungen stationiertes Heer umschließt wie ein Bollwerk die zivilisierte Welt», schrieb der griechische Redner Aelius Aristides nicht lange nach Hadrians Tod.

    Im Norden Englands ließ Hadrian den Grenzwall errichten, der seither seinen Namen trägt: eine mächtige Anlage aus Stein und Erde, Britannien in zwei Teile zerschnitt. Es kann sein, dass Hadrian sie im Jahr 122 bei einem Besuch selber entwarf. Der Hadrianswall war der ultimative Ausdruck seines Versuchs, die Grenzen des Imperiums neu zu definieren.

    Heute ist die 118 Kilometer lange Befestigung einer der am besten erhaltenen und dokumentierten Grenzabschnitte Roms. Er verläuft durch Salzmarschen und Schafweiden, über saftig grüne Hügel und in Newcastle entlang einer vierspurigen Straße.

    An den meisten Stellen war der Wall 4,5 Meter hoch und 3 Meter breit. Noch heute sind Spuren eines 3 Meter tiefen Grabens zu sehen, der ihn flankierte. In den vergangenen Jahrzehnten wurden bei Ausgrabungen Gruben mit angespitzten Pfählen gefunden, die zwischen dem Graben und dem Wall angelegt waren und als weiteres Hindernis Eindringlinge abhalten sollten. Eine eigens für Truppenbewegungen angelegte Straße ermöglichte es den Soldaten, rasch auf Bedrohungen zu reagieren. In regelmäßigen Abständen von 500 Metern gab es Tore und Wachtürme.

    Ähnlich wie der Limes in Deutschland vermittelt der Hadrianswall ein Gefühl von Inflexibilität – als ob Hindernisse im Gelände keine Rolle gespielt hätten. Schon die Idee, eine solche Befestigung zu bauen, grenzt an Arroganz. Im 19. Jahrhundert berechnete ein Ingenieur, dass mehr als 1,7 Millionen Tonnen Stein, Mörtel und Wasser benötigt wurden, um die Mauer zu errichten. Alles Material musste von Hand oder mit Ochsenkarren herbeigeschafft werden. Anders als die Ägypter beim Bau der Pyramiden konnten die Römer nicht auf Arbeitskräfte der Region und auf Sklaven zurückzugreifen. Die Legionäre mussten selber schuften.

    Einige Kilometer hinter dem Wall lag anfänglich eine Kette von Kastellen, jeweils einen halben Tagesmarsch voneinander entfernt. In jedem waren zwischen 500 und 1000 Mann kaserniert. Eines dieser Kastelle war Vindolanda. Als Arbeiter dort 1973 einen Entwässerungsgraben anlegten, stießen sie unter einer Lehmschicht auf eine Fülle römischer Artefakte: 1900 Jahre altes Holz, Tuch, Kämme, Lederschuhe und sogar Hundekot. Der Lehm hatte Sauerstoff ferngehalten und alles konserviert.

    Weiter unten lagen Hunderte dünne Holzplatten mit lateinischen Schriftzeichen: Arbeitsanweisungen, Dienstpläne, Nachschuborder und persönliche Briefe. Sie vermitteln uns ein detailliertes Bild vom Alltag am Hadrianswall. Sogar die Geburtstagseinladung einer Offiziersfrau an eine andere ist dabei: der älteste handschriftliche lateinische Text einer Frau.

    Diese Tafeln zeigen, dass das Beaufsichtigen der «elenden kleinen Briten», wie jemand aus Vindolanda die Leute der Region bezeichnete, wohl kein Kinderspiel, aber auch keine Strafe war. Einige Soldaten lebten dort mit ihren Familien; unter den erhaltenen Fußbekleidungen fanden sich Dutzende Kinder- und Säuglingsschuhe. Vor allem die Offiziere waren zudem gut ernährt. Auf dem Speiseplan standen Speck und Schinken, Wild und Huhn, Austern, Äpfel, Eier, Honig, Bier und Wein. Heimwehkranke Soldaten erhielten Care-Pakete: «Ich habe dir ... Socken ... zwei Paar Sandalen und zwei Paar Unterhosen geschickt», heißt es besorgt in einem Brief.

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    Wissenschaftler stellen heute eine Schlüsselfrage, die trotz einiger Annehmlichkeiten auch manchem Soldat durch den Kopf gegangen sein mag, wenn er stundenlang im englischen Regen Wache stand: Was machten sie da eigentlich? Der Wall, die Befestigungen und Straßen wirken so, als hätten die Römer einem todbringendem Feind gegenübergestanden. Außer ver- einzelten Hinweisen (wie dem Grabstein des glücklosen Hauptmanns Titus Annius, der «im Krieg gefallen» war) gibt es jedoch keinerlei direkte Anzeichen für Kämpfe an dieser Grenze.

    “Heute schaut eine neue Generation von Archäologen mit anderen Augen auf den Hadrianswall, (...). Denn sie hatten womöglich einen ganz anderen Zweck als bisher gedacht.”

    Was war der Zweck solcher Befestigungen? Die Pläne für eine multinationale Unesco-Welterbestätte könnten helfen, eine Antwort zu liefern, denn sie richten den Blick auf die gewaltige Gesamtheit der römischen Außengrenzen. Nach der ersten wissenschaftlichen Grabung am Hadrianswall durch britische Altertumsforscher vor mehr als 100 Jahren nahmen Historiker und Archäologen lange Zeit an, dass Roms Grenzanlagen militärischen Zwecken diente, um die barbarischen Krieger und feindselige Eindringlinge abzuwehren. Im Ersten Weltkrieg wurden Parallelen zwischen den römischen Grenzwällen und den massiven Befestigungen und Wehran- lagen überall in Europa gezogen.

    Jahrzehntelang debattierte man vor allem über taktische Details. Standen die Soldaten oben auf dem Wall, um mit Speeren und Pfeilen Angreifer abzuwehren? Oder stürmten sie voran, um sich dem Gegner schon weit draußen im Feld entgegenzustellen? Später verbot der Eiserne Vorhang in Europa eine neue Sichtweise. «Bei dieser massiven, unüberwindlich scheinen- den Grenze ging es nur um hier und drüben, Freund und Feind», sagt C. Sebastian Sommer vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. So prägte unsere jüngere Geschichte auch die Erforschung der Römer.

    Heute schaut eine neue Generation von Archäologen mit anderen Augen auf den Hadrianswall, den Limes und andere römische Grenzbefestigungen. Denn sie hatten womöglich einen ganz anderen Zweck als bisher gedacht.

    Ruinen und Waffen einer blutigen römischen Schlacht entdeckt

    Auf dem Kontinent nutzten die Römer die Flussläufe von Rhein und Donau und andere natürliche Barrieren, die sie mit Schiffen oder berittenen Truppen bewachen konnten. In Nordafrika und den Ostprovinzen Syriens, Judäas und Arabiens stellte die Wüste eine natürliche Grenze dar. Militärstützpunkte wurden dort errichtet, wo Gewässer, Oasen oder wesentliche Nachschubrouten kontrolliert werden konnten. Das lateinische Wort für Grenze, limes, stand ursprünglich für eine bewachte Flurgrenze. Das Wort hat sich erhalten: Wenn wir „bis ans Limit“ gehen, klingt darin der Plural limites, Grenzen, an.

    Wo es solche natürlichen Grenzen nicht gab, mussten Wälle und Mauern her. Der Limes ist ein perfektes Beispiel. An seinen Anfängen um 100 n. Chr. stand eine Reihe von kleinen Stützpunkten, die den Handel in den Provinzen sichern sollten. Daraus entstanden im Lauf eines Jahrhunderts Wachtürme, die zunächst mit einem hölzernen Palisadenzaun und später mit Mauern und Verteidigungsgräben befestigt wurden. Öfters wurde der Verlauf des Limes korrigiert, um das Reisen zu erleichtern.

    Der Münchener Archäologe C. Sebastian Sommer vertritt die Ansicht, dass der Limes auch eine Art PR-Funktion hatte. Dabei verweist er auf die Marc-Aurel-Säule (Markussäule) auf der Piazza Colonna in Rom. Sie wurde zu Ehren des Siegs dieses Kaisers über die Germanen in den Markomannenkriegen um 176 gestaltet. Auf ihr sind in den Krieg ziehende Soldaten dargestellt. Aufmerksame Betrachter sehen zudem turmartige Bauwerke und einen langen, ununterbrochenen Palisadenzaun. Er ähnelt jener befestigten Barriere, die Marc Aurel zu Beginn seiner Feldzüge quer durch Germanien bauen ließ. Doch zu dieser Zeit befanden sich die nächsten germanischen Siedlungen 100 Kilometer weiter nördlich. Ließ Marc Aurel die Barriere errichten, um sich seinem Volk als vorausschauender Politiker zu zeigen? Wollte er den Römern zeigen, dass er es ernst meinte mit der Grenzsicherung?

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    Sommer sieht viele Parallelen zur heutigen Politik. Als Beispiel nennt er die Auseinandersetzung um neue Kontrollen an der deutsch- dänischen Grenze im vergangenen Jahr. «Dänemark wurde ja nicht gerade von Wirtschaftsflüchtlingen aus Deutschland überrannt. Die Debatte diente nur dazu, um im dänischen Wahlkampf Stimmen zu gewinnen», sagt er. «Möglicherweise lag dem Bau des Limes ein ähnliches Motiv zugrunde. Vielleicht diente er gar nicht zur Verteidigung – sondern sollte die Bürger Roms in Sicherheit wiegen.»

    Viele Jahrhunderte lang verließen sich Roms Herrscher auf eine Kombination von Drohung, Abschreckung und Bestechung, um den Frieden – ihre Pax Romana – zu sichern. Ihre Abgesandten verhandelten fortwährend mit Stämmen und anderen Gruppen jenseits der Grenzen. Durch diese Diplomatie entstand eine Pufferzone, beherrscht von Vasallenkönigen und loyalen Clanführern, die feindliche Stämme aus der weiteren Umgebung von der Grenze fernhielten. Wohlgesinnte Gruppen erhielten das Recht, diese nach Belieben zu überqueren. Andere durften ihre Waren nur mit bewaffneter Begleitung auf römische Märkte bringen.

    Die Römer handelten mit ihren Nachbarn eine antike Version der heutigen Visa-Abkommen aus. Im Jahr 70 v. Chr. beklagte sich ein germanischer Stamm, seine Mitglieder dürften Köln, schon damals eine Stadt am Rhein, nur unbewaffnet, unter schwerer Bewachung und praktisch nackt betreten. Der römische Historiker Tacitus merkte hingegen an, dass ein anderer germanischer Stamm, die Hermunduren, das Recht hatte, nicht nur an den Ufern der Donau, sondern auch in Kolonien Roms ohne Bewachung Handel zu treiben.

    Loyale Verbündete wurden mit Geschenken, Waffen, militärischer Unterstützung und Ausbildung belohnt. Im Gegenzug wurde von ihnen erwartet, für die Sicherheit in der Pufferzone zu sorgen. Doch nicht immer war auf sie Verlass. «Die Heerführer kontrollierten das Barbaricum für die Römer, damit es keine Angriffe auf diese gab», sagt Professor Moosbauer. «Man kann es mit Saddam Hussein vergleichen. Der wurde im ersten Golfkrieg gegen den Iran von den USA unterstützt, und später war er in zwei Kriegen ihr Gegner.»

    Alliierte Barbaren, die im römischen Heer kämpften, gingen nach 25 Dienstjahren als Bürger Roms in den Ruhestand und konnten sich überall im Reich ansiedeln. «Die Römer heuerten oft Leute mit besonderen Kenntnissen in bestimmten Kampfdisziplinen an, etwa Bogenschützen oder Kavalleriesoldaten», sagt Ulla Lund Hansen, Archäologin an der Universität Kopenhagen. Einige nahmen ihre Waffen und ihr Silber später mit nach Hause.

    Belege dafür fanden sich in Mooren in Norddeutschland, Dänemark und Polen: Tausende zerbrochene Waffen, Ausrüstungsgegenstände und Artefakte, die Germanen ihren Göttern darbrachten. Die Schwerter hatten sich die Krieger durch ihren Dienst in der römischen Armee erworben oder aber im Kampf gegen römische Truppen erobert. Inschriften auf Grabsteinen und Denkmälern in England vermitteln uns einen Eindruck davon, woher Rom seine Soldaten rekrutierte. Allein in Vindolanda waren Männer aus dem heutigen Nordspanien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden stationiert. Irakische Schiffsleute segelten unter Roms Flagge, syrische Bogenschützen bewachten die trostlose Leere des Landes.

    Ein weiteres Werkzeug der Außenpolitik war die Diplomatie. Die Römisch-Germanische Kommission in Frankfurt führt eine Datenbank mit mehr als 10000 römischen Objekten, die jenseits des Limes gefunden wurden. «Wir haben hier unterschiedlichste Handwerkserzeugnisse: Münzen und Keramik, Waffen, Broschen und Glas», sagt David Wigg-Wolf, der für die Organisation des Archivs mitverantwortlich ist. Die Gegenstände allein verraten zunächst noch nicht viel über ihren Weg in das Barbaricum, ihre schiere Menge schon. Die Analyse zeigt, wie die Römer mit den Stämmen auf der anderen Seite des Limes umgingen. «Die zentrale Frage dreht sich darum, welchen Charakter die Kontakte zwischen dem römischen Kaiser und den Menschen jenseits der Grenze hatten», sagt Wigg-Wolf. «Ging es um Handelsbeziehungen, oder ging es um Politik?»

    Silbermünzen scheinen zum Beispiel auch noch Jahrzehnte nach dem Bau des Limes in den Norden gelangt zu sein. Als Kaiser Septimius Severus 193 n. Chr. die Macht übernahm, kam der Nachschub aber abrupt zum Erliegen. «Das deutet darauf hin, dass Silber nicht als Tauschmittel über die Grenze gelangte, sondern als Zuwendung, um den Frieden zu sichern», sagt Wigg-Wolf. «Septimius Severus entschied offenbar, dieses Verfahren zu beenden.»

    Römische Außenpolitik bestand nicht nur aus Wohltaten, auch aus Krieg und Vergeltung. Sieben Jahre brachten die Römer allein damit zu, sich für die verheerende Niederlage gegen die Germanen in der Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr. zu rächen. Mit einer riesigen Streitmacht übte Germanicus blutige Vergeltung. Der Geschichtsschreiber Tacitus berichtet, dass der Feldherr nach einer Schlacht «seinen Helm vom Kopf nahm und seine Leute ersuchte, mit dem Abschlachten nicht aufzuhören, denn er wünsche keine Gefangenen, und nichts als die völlige Zerstörung der Nation könne den Krieg beenden.»

    Auch Hadrian ging gegen aufrührerische Völker vor. In Judäa schlug er eine jüdische Revolte nieder; ein römischer Historiker berichtet von einer halben Million getöteter Juden. Der Name der Provinz wurde in Syria-Palaestina geändert, um alle Spuren der Rebellion zu tilgen.

    Wenn die Situation es erforderte, zögerten die Römer nicht, weit jenseits ihrer Grenze militärisch einzugreifen. Vor wenigen Jahren wurden am Harzhorn, einem Bergsporn südlich des heutigen Hannover, Hinweise auf eine große Schlacht zwischen Römern und Germanen gefunden. Wahrscheinlich waren römische Truppen aus dem Rückweg von einer Strafexpedition an die Elbe dort um 235 n. Chr. in einen Hinterhalt der Germanen geraten – 350 Marschkilometer von der nächsten damaligen Garnison entfernt. Für die Römer war der Kampf unabdingbar, um die Sicherheit ihres Imperiums zu gewährleisten.

    «Die Pax Romana wurde nicht durch mehrere Schlachten gesichert», sagt Ian Haynes, ein Archäologe der Universität Newcastle. «Eher musste sie immer wieder neu und auf brutale Weise bestätigt werden.»

    Der Hadrianswall war über Jahrzehnte die wohl massivste Grenze Roms. Die aufgegebene Festung Dura Europos am Euphrat gilt hingegen als Symbol für die Phase, in der die Grenzen des Imperiums zu fallen begannen.

    (NG, Heft 10 / 2012, Seite(n) 42 bis 71)

    Dieser Artikel wurde am November 2020 von der Redaktion aktualisiert.

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