Platzproblem: Schimpansen auf Raubzug

Ihr natürlicher Lebensraum schrumpft. Daher plündern hungrige Schimpansen in Uganda Gärten und Felder. Und manchmal töten sie sogar Kinder. Das stellt den Tierschutz auf eine harte Probe.

Von David Quammen
Veröffentlicht am 1. Sept. 2020, 15:16 MESZ
Im Juli 2014 tötet ein Schimpanse in Kyamajaka das Kleinkind Mujuni Semata. Nachdem die Familie
geflohen ist, ...

Im Juli 2014 tötet ein Schimpanse in Kyamajaka das Kleinkind Mujuni Semata. Nachdem die Familie
geflohen ist, belagern Schimpansen weiterhin das Haus der Sematas – und starren auf ihre
Spiegelbilder in den Fenstern des leer stehenden Gebäudes.

Foto von Ronan Donovan

Das Leben ist schwer genug für Ntegeka Semata und ihre Familie. Ihrem Stückchen Land am Rande eines Bergkamms im westlichen Uganda trotzen sie ein karges Dasein ab. Die Ernte reicht kaum, um sich über Wasser zu halten. Nun bedroht eine Gruppe hungriger dreister Schimpansen ihre Existenz und vielleicht sogar ihr Leben.

Unfassbares Leid: Kinder sterben

Immer näher sind sie gekommen, seit ein, zwei Jahren schon. Die Schimpansen treiben sich im ganzen Dorf Kyamajaka herum, suchen nach Futter, reißen Bananen von den Bäumen, greifen sich Mangos und Papayas oder was sie sonst noch lockt. Auch die Jackfrüchte von einem Baum nahe dem Haus der Sematas haben es ihnen angetan. Doch am 20. Juli 2014 wird aus immer dreisteren und beängstigenden Übergriffen blanker Horror – ein Entsetzen, das auch andere ugandische Familien kennengelernt haben. An diesem Tag schnappt sich ein einzelner großer Schimpanse Mujuni, den kleinen Sohn der Sematas, und tötet ihn.

„Ein Schimpanse kam in den Garten, als ich dort umgrub“, erinnert sich Ntegeka Semata in einem Interview Anfang 2017. Ihre vier kleinen Kinder waren bei ihr. Als sie ihnen kurz den Rücken zukehrte, um ein Glas Wasser zu holen, packte der Schimpanse ihren zwei Jahre alten Sohn an der Hand und rannte mit ihm davon. Die Schreie des Jungen riefen andere Dorfbewohner herbei, die die Mutter bei der Verfolgungsjagd unterstützten. Doch der Schimpanse war grob und stark. „Er drehte ihm den Arm ab, verletzte ihn am Kopf, riss den Bauch auf und zog die Nieren heraus“, berichtet Semata. Dann, nachdem er den übel zugerichteten kleinen Körper unter Gras versteckt hatte, floh der Schimpanse. Mujuni starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die Lage ist nach wie vor unsicher in Kyamajaka, zumindest für manche Menschen und manche Schimpansen. Angriffe auf Kleinkinder gab und gibt es weiterhin – in der näheren Umgebung mindestens drei Todesfälle und ein halbes Dutzend Verletzte oder solche, die mit knapper Not entkamen. Hauptursache ist, so scheint es, der schwindende Lebensraum der Schimpansen in Teilen Westugandas: Waldgebiete außerhalb von Nationalparks und Reservaten werden zu Ackerland umgewandelt oder für Nutz- und Brennholz gerodet.

Menschen und Schimpansen kommen sich näher

Die Schimpansen von Kyamajaka – etwa ein Dutzend in der direkten Umgebung des Dorfes – ziehen sich jeden Abend in die verbliebenen Wälder oder die nahe gelegene Eukalyptusplantage zurück. Da ihre natürliche Nahrung weitestgehend verschwunden ist, kommen sie tagsüber heraus, um sich an den Getreidefeldern und Obstbäumen zu bedienen, die rings um die Wohnhäuser stehen. Vorsichtig bewegen sie sich fort, vorwiegend auf dem Boden, da es kein Blätterdach mehr gibt, durch das sie sich schwingen könnten. Zuweilen kommen sie den Menschen sehr nahe. Sie trinken an demselben Fluss, aus dem die Frauen und Kinder des Dorfes Wasser schöpfen, und wenn sie aufrecht stehen, über einen Meter groß, wirken sie erschreckend menschenähnlich.

Schimpansen sind neben Bonobos unsere nächsten lebenden Verwandten. Ihre Art, Pan troglodytes, wird von der Weltnaturschutzunion IUCN als stark gefährdet eingestuft. Ihre Gesamtpopulation in Afrika liegt aktuell bei allerhöchstens 300 000, möglicherweise sogar weit darunter. Als Erwachsene sind sie große, gefährliche Tiere – ein Männchen kann 60 Kilogramm auf die Waage bringen und ist dabei fast anderthalb Mal so stark wie ein Mensch vergleichbarer Größe.

Ntegeka Semata tröstet ihre zwei jüngsten Kinder, beide nach dem Tod ihres Bruders geboren. Die Familie verließ Kyamajaka und fand in ihrem neuen Zuhause, einem gemieteten Zimmer, immerhin Sicherheit
vor Schimpansen. Erst später kaufte sie ein Stück Ackerland  und baute sich eine neue Existenz auf.

Foto von Ronan Donovan

In naturbelassenen, gesunden Wäldern leben Schimpansen vorwiegend von wilden Früchten wie beispielsweise Feigen. Wenn sich Gelegenheit bietet, töten und fressen sie aber auch kleinere Affen oder Antilopen. Während Schimpansen vor Erwachsenen gewöhnlich auf der Hut sind, trifft ihr aggressives Verhalten gegenüber Menschen, wenn es denn vorkommt, in erster Linie Kinder.

Schimpansen unterstehen in Uganda gesetzlichem Schutz: Es ist illegal, sie zu jagen oder zu töten. Darüber hinaus sind sie in der Tradition des westugandischen Volkes der Bunyoro geschützt, die sie, anders als zum Teil im Kongo jenseits der Grenze, nicht als Nahrung jagen.

Mehr als drei Jahre lang blieben Ntegeka Semata und ihr Ehemann Omuhereza nach dem Trauma der Entführung ihres Sohnes noch in ihrem Haus wohnen. Aber Ntegeka konnte nicht mehr im Garten arbeiten, die Kinder fürchteten sich oft so sehr, dass sie nicht aßen. „Ich habe immerzu Angst, dass die Schimpansen zurückkommen“, klagte Ntegeka damals. Ende 2017 schließlich flohen die Sematas – in ein karges Dasein in einem gemieteten Zimmer fünf Kilometer entfernt. „Es fühlt sich an, als seien wir wieder in Armut zurückgefallen“, sagt Ntegeka nach ihrem Umzug.

Schwieriger Auftrag: Trotzdem Toleranz stärken

Der Tod von Mujuni Semata ist kein Einzelfall Das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Affe zeigt sich überdeutlich an einem Ort namens Bulindi. wo der britische Biologe Matt McLennan eine Gruppe Schimpansen und ihre problematischen Interaktionen mit Menschen erforscht. (…) Die Sichtweise der Bewohner von Bulindi, ist uneinheitlich.

Spektakulärer Sprung eines Affen
Dieser graue Languren-Affe saß auf einem Strommast fest. Als ein Rettungsteam versuchte, ihm zu helfen, wurde ihm das Ganze zu viel.

Lillian Tinkasiimire ist eine freundliche Matriarchin, deren rotes Backsteinhäuschen im Eingangsbereich von einem Mangobaum und rückwärtig von einem Feigenbaum geschmückt ist, die beide Schimpansen anlocken. Sie hat eine klare Meinung dazu: „Die Schimpansen sind sehr schlau“, sagt sie. „Wenn man sie nicht jagt, werden sie zu Freunden. Wenn man sie jagt, spielt man mit dem Feuer.“ Tinkasiimire hat einen Großteil ihres Waldes erhalten. Ihre Einstellung ist: Lass die Schimpansen dort leben, lass sie in Frieden, lass sie zu Besuch kommen.

McLennan hofft, derartige Toleranz bestärken zu können. 2015 riefen er und seine vor Kurzem verstorbene Verlobte, Jackie Rohen, das Bulindi Chimpanzee and Community Project ins Leben. Das Programm bietet Familien Entwicklungsförderung und Anreize, Konflikte zwischen Schimpansen und Menschen zu entschärfen: Schulgelderstattung im Gegenzug für Wiederaufforstung, Starterpflanzen schattenverträglicher Kaffeesorten; Kochherde, die weniger Brennholz verbrauchen; Bohrlochbrunnen dank derer Frauen und Kinder Wasser nicht mehr an potenziell gefährlichen Stellen holen müssen, nämlich dort, wo die Schimpansen trinken.

Die Idee dahinter: Was Schimpansen und Menschen dabei unterstützt, Abstand zu halten, sichert den Frieden zwischen beiden Gruppen. Einen halbstündigen Fußmarsch von Kyamajaka entfernt gibt es kein entsprechendes Projekt. Dort wurde im Jahr 2016 der kleine Twesigeomu kurz vor seinem zweiten Geburtstag von einem Schimpansen fortgezerrt und totgeschlagen. Sein Onkel Sebowa Baguma Kesi, der Dorfvorsteher, berichtet, man habe den Dorfbewohnern nahegelegt, Schimpansen als „nutzbringend“ anzusehen. Entsprechender Ökotourismus werde Besucher zu den Getreidefeldern rund um Muhororo bringen. „Wir sehen keinerlei Nutzen“, sagt er jedoch trocken. „Es tötet nur unsere Kinder.“

Schimpansen schnappen sich Mais, Mangos, Papayas und die besonders beliebten Jackfrüchte von den
Feldern und Bäumen der Dorfbewohner. Dieses Weibchen und ihre Jungen gehören einer 22-köpfigen
Gruppe an, die in einem Waldstück neben einem Flusslauf nordwestlich von Bulindi lebt.

Foto von Ronan Donovan

Schimpansen umsiedeln

Warum also nicht die Schimpansen umsiedeln? Ja, diese Frage stellten die Leute, berichtet McLennan. Aber umsiedeln wohin? In ganz Uganda gibt es kein freies Schimpansen- Habitat. Und sie dorthin zu bringen, wo andere Schimpansen leben, hieße, einen Affenkrieg heraufzubeschwören. Eine andere unschöne Option: die Schimpansen töten, um die Menschen zu schützen. Doch dies wird niemand als offizielle Politik vertreten. Eine dritte Möglichkeit: Maßnahmen wie Starterkaffeepflanzen, Kochherde, die weniger Brennholz verbrauchen, Anreize zur Wiederaufforstung alternative Verdienstmöglichkeiten, Geduld, Verständnis und Mitgefühl.

Es ist ein lokales Problem, das beileibe nicht regional begrenzt ist. Ugandas Dilemma wirft einen Blick auf die Zukunft von Schimpansen in ganz Afrika. Was ein Dorf wie Kyamajaka so beklagenswert und eine Stadt wie Bulindi so bedeutsam erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass an diesen beiden Orten die Zukunft bereits begonnen hat.

David Quammen hat 16 Bücher geschrieben, darunter „Spillover: Der tierische Ursprung weltweiter Seuchen“. Ronan Donovan verlagerte seinen beruflichen Schwerpunkt vom Feldbiologen hin zum Fotografen, nachdem er ein Jahr als Schimpansenforscher in Uganda verbracht hatte.

Aus dem Englischen von Dr. Eva Dempewolf.

Der Artikel wurde in voller Länge in der August 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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