3.500 km über Flüsse und Berge: Luchswanderungen geben Rätsel auf
Die Luchse der Arktis legen gewaltige Entfernungen zurück – obwohl es ihnen an Platz und Nahrung nicht mangelt. Der Grund für diese langen Reisen: unbekannt.
Ein Kanadischer Luchs ist zwischen den schneebedeckten Weiden im südlichen Yukon Territory in Kanada gut getarnt.
In Alaska, wo das nächste Wildtier nie weit entfernt ist, können die meisten Bewohner eine lange Liste von Tieren aufzählen, die sie selbst schon gesehen haben, von Elchen über Braunbären bis hin zu Füchsen. Aber der Kanadische Luchs ist eine Kategorie für sich. Normalerweise zeigt sich die leise Raubkatze mit den Pinselohren und Schneeschuhpfoten Menschen nur selten.
Doch in Anchorage, der bevölkerungsreichsten Stadt Alaskas, werden die Katzen seit 2020 regelmäßig gesichtet.
„Wenn man sich die Posts in der NextDoor-App und auf Facebook anschaut, sehen die Leute überall Luchse“ in der Stadt, sagt David Saalfeld, ein Wildtierbiologe beim Alaska Department of Fish & Game. Viele Leute seien ihm zufolge überrascht, wie ähnlich die 8 bis 13 Kilogramm schwere Katze ihren eigenen Haustieren ist. Ihr Beutesprung gleich dem einer Hauskatze, und ihr plüschiger Nachwuchs bietet einen entzückenden Anblick.
„Wir bekommen so viele Meldungen darüber, dass sie auf den Veranden der Leute stehen und durch die Fenster schauen. Das ist genau wie bei einer Hauskatze“, sagt Saalfeld.
Seit vier Jahrzehnten studieren Biologen den Luchs im Kluane-Nationalpark in Yukon (auf dem Bild zu sehen ist der Kathleen Lake).
Wahrscheinlich nimmt die Zahl der Luchsbegegnungen zu, weil der Bestand ihrer Lieblingsbeute – des Schneeschuhhasen – auf einem Höhepunkt ist. Die Hasen durchleben einen natürlich schwankenden Populationszyklus, der zwischen acht und elf Jahren dauern kann. Und wenn Hasen reichlich vorhanden sind, sind es auch Luchse.
Diese Wildkatzen halten sich jedoch nicht nur in Anchorage auf: Man findet sie in ganz Alaska, im nördlichen Kanada und sogar in Teilen der unteren 48 US-Bundesstaaten. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren sich Wissenschaftler nicht sicher, wie weit ein Luchs überhaupt reisen kann. Aber in den letzten sechs Jahren haben Forscher des Northwest Boreal Lynx Project dokumentiert, dass die Katzen epische Wanderungen unternehmen, die länger und schwieriger sind, als es irgendwer für möglich hielt.
Einer der Stars des Projekts ist ein Luchs namens Hobo. Er wurde im März 2017 im Tetlin National Wildlife Refuge in Alaska mit einem Funkhalsband ausgestattet, gleich hinter der Grenze zum Yukon. Der Luchs verließ sein Heimatgebiet im Juni 2017 und legte bis Juli 2018 sage und schreibe 3.500 Kilometer zurück, über Berge und oft reißende Flüsse.
„Er war der erste, der wirklich durchstartete. Wir hatten über sowas zwar spekuliert, aber wir wussten nicht wirklich viel darüber“, sagt Knut Kielland, ein Professor für Ökologie am Institut für Arktische Biologie der University of Alaska Fairbanks. Es war „ziemlich aufregend“.
Junge Luchse kuscheln im Frühjahr 2019 in Alaska miteinander. Wissenschaftlerinnen fanden dort größere Würfe als erwartet vor.
Mittlerweile haben die Wissenschaftler des Projekts mehr als 170 männliche und weibliche Luchse in vier Wildschutzgebieten sowie im Gates-of-the-Arctic-Nationalpark markiert und die Tiere auf ihrem Weg durch Alaska in das kanadische Yukon Territory und die Northwest Territories verfolgt.
Doch ein Rätsel bleibt: Warum machen die Katzen so lange Wanderungen? Die Wissenschaftlerinnen vermuten, dass sie Schneeschuhhasen jagen und dort, wo sie Beutebestände finden, ein neues Territorium etablieren. Mit der Zeit hoffen die Forscher, genug Informationen über diese Wanderungen zu erhalten, um wirklich zu verstehen, warum die Tiere so weit reisen.
In der Zwischenzeit helfen diese Daten den Forscherinnen zu verstehen, was Luchse brauchen, um in Alaska und im Norden Kanadas weiter zu überleben. Wenn man zum Beispiel weiß, welche Arten von Lebensräumen Luchse auf ihren langen Wanderungen durchqueren, kann man entsprechende Entscheidungen über die Landnutzung treffen. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung von Habitatkorridoren, die es den Wildkatzen ermöglichen, sich frei zu bewegen.
Mit den Hasen kommen auch die Luchse
Im Winter 1999/2000 erreichte der Populationszyklus der Schneeschuhhasen einen Höhepunkt. Damals berichtete ein Fallensteller, der nur als Jack R. bekannt ist, dass ihm fast hundert Kanadische Luchse in Alaskas Brooks Range in die Falle gingen. Das Fangen von Luchsen mit Hilfe von Fallen ist in Alaska mit einer Lizenz legal, und es gibt keine Beschränkungen darüber, wie viele Tiere eine Person fangen darf.
In den borealen Wäldern Alaskas und Kanadas nutzen Luchse oft Hohlräume unter umgestürzten Bäumen als Bauten.
Ein Schneeschuhhase versteckt sich im Gebüsch. Die kleinen Säugetiere erleben natürlich schwankende Populationszyklen von bis zu elf Jahren Dauer.
Überrascht fragte er Kielland (der vor Jahren ebenfalls Fallensteller war), wie das passieren konnte, obwohl sich seine Fallen nur über einen vergleichsweise kleinen Bereich erstrecken.
Bis dato glaubten Wissenschaftler, dass männliche Luchse in Revieren von etwa 50 Quadratkilometern umherstreifen. Das Fallengebiet von Jack R. war 200 Quadratkilometer groß, was darauf hindeutete, dass die gefangenen Tiere über ihr Revier hinausgewandert waren.
So wurde das Luchsprojekt geboren, eine Zusammenarbeit zwischen dem Bonanza Creek Long-Term Ecological Research Program der University of Alaska Fairbanks, dem U.S. Fish and Wildlife Service, dem U.S. National Park Service und Environment Yukon, einer kanadischen Regierungsbehörde.
Seit 2015 fangen Wissenschaftler jeden Frühling erwachsene Luchse mit zwei humanen, schmerzfreien Strategien – modifizierte Fußschlingen und Kastenfallen – und statten sie mit GPS-fähigen Funkhalsbändern aus.
Ein Wissenschaftler der University of Alaska Fairbanks untersucht im Frühjahr 2019 ein Luchsjunges in Alaska.
Das Team sucht auch nach Luchsbauten, die oft in der Nähe von umgestürzten Baumstämmen und der umgebenden Vegetation versteckt sind. Wenn sie Jungtiere in einem Bau finden, wiegen sie sie und markieren sie an einem Ohr. Das sei laut Kielland wichtig, damit die Forscherinnen die Tiere später identifizieren können und Daten darüber erhalten, wie weit sie sich von ihrem Geburtsort entfernen und welche Tiere als Erwachsene zusammenbleiben.
Männliche Luchsjungen neigen dazu, ihr Zuhause früher zu verlassen als weibliche, erklärt er. Sobald sie erwachsen sind, bleiben die Weibchen relativ nahe bei ihren Müttern, während die Männchen weiter weg ihr neues Territorium etablieren.
Galerie: Ein Sommer mit Luchsen
Neben Hobo hat das Team einige außergewöhnliche Reisen anderer Luchse verfolgt, darunter ein erwachsenes Männchen mit der Marker-Nummer #700594. Das unbenannte Tier wurde im Februar 2019 in der Nähe von Bettles in Alaska markiert. Drei Monate später wanderte es 400 Kilometer weit zur arktischen Küste, bevor es nach Osten bis zum Sagavanirktok River und dann nach Süden zum Nigu River in der Brooks Range zog. Bis Juli 2020 legte es knapp 3.200 Kilometer zurück.
Im Jahr 2011 wanderten zwei Luchse mit Funkhalsband über den Hauptarm des eisigen Tanana River, dem größten Nebenfluss des Yukon River – und zwar noch im November, als die durchschnittliche Tagestemperatur -12 °C betrug.
Tausende Kilometer – für was?
Die Suche nach Hasen und anderen Beutetieren erkläre diese unglaublichen Wanderungen nicht vollständig, sagt Saalfeld.
Im Frühjahr 2020, als Hasen im Überfluss vorhanden waren, reiste ein männlicher Luchs von Anchorage bis zum Kluane-Nationalpark im südwestlichen Yukon Territory – eine Entfernung von knapp 1.000 Kilometern.
Vor der Studie dachten die Wissenschaftler, dass Luchsreviere etwa 50 Quadratkilometer groß sind.
„Nahrung gibt es hier genug“, sagt Saalfeld. „Ich bin mir nicht sicher, warum ein Männchen von anständiger Größe beschließen sollte, ein Gebiet zu verlassen, in dem es reichlich Beute gibt.“
Karen Hodges ist eine Professorin für Naturschutzökologie an der University of British Columbia, die sich mit Luchsen beschäftigt hat. Sie sagt, dass die Daten des Northwest Boreal Lynx Project mit den vorhandenen, weniger vollständigen Informationen über die Ausbreitung der Luchse übereinstimmen.
„Ohne Frage ist das spektakulär – das sind ziemliche Distanzen“, sagt Hodges, die nicht an dem Projekt beteiligt ist.
All diese Bewegungen machen deutlich, warum sich die Kanadischen Luchse genetisch sehr ähnlich sind. „In ganz Nordamerika unterscheiden sich die Luchse kaum voneinander. Sie ziehen umher und sie vermischen sich. So entstehen keine lokal begrenzten Gebiete mit seltsamen genetischen Eigenheiten.“
Luchse – doch keine Einzelgänger?
Das Luchsprojekt enthüllt auch „mehr Geheimnisse über ihr Leben als je zuvor“, sagt Kielland.
Zum Beispiel finden die Wissenschaftler Bauten mit sieben bis acht Jungtieren – eine überdurchschnittliche Wurfgröße für Kanadische Luchse. Möglicherweise hängt die gesteigerte Fruchtbarkeit aber auch mit dem Populationsmaximum der Schneeschuhhasen zusammen.
Das Team hat auch Beweise dafür gefunden, dass die Katzen nicht so einzelgängerisch sind wie angenommen: Männliche und weibliche Luchspaare verbringen auch Zeit miteinander, wenn gerade keine Paarungszeit ist, wie die Auswertung der Bewegungsdaten aus Funkhalsbändern zeigt. Und es gab sogar ein paar Fälle, in denen zwei weibliche Luchse über längere Zeiträume zusammen jagten – möglicherweise Mutter-Tochter-Paare, sagt Kielland.
Auch wenn noch Fragen offen sind, findet Kielland, dass die Forschung ebenso erfüllend wie faszinierend ist.
„Es sind Mitgeschöpfe, und wir sind fasziniert von den Dingen, die wir bei diesen Tieren sehen“, sagt er. „Das ist einfach auf einer persönlichen Ebene verblüffend, faszinierend und wunderbar.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.